Für den Auftakt des Programms zur mittleren Jahresscheibe der von Barbara Frey verantworteten Ruhrtriennale liefern vier querständige Vertreter der Moderne des vorigen Jahrhunderts die musikalische Vorlage: Giacinto Scelsi (1905-1988), Gérard Grisey (1946-1998), Claude Vivier (1948-1983) und Iannis Xenakis (1922-2001). Regisseurin Elisabeth Stöppler und ihr Bühnenbildner Hermann Feuchter vereinen Lieder und Stücke dieser Tonschöpfer unter dem poetischen Titel „Ich geh unter lauter Schatten“ miteinander und höchst gelungen auch mit der Bochumer Jahrhunderthalle selbst. Dieser Prachtbau mit dem zweiten Leben als Hort der Kunst kam bislang jedenfalls kaum so exponiert selbst zu Worte wie diesmal.

Vier in den Raum abgeknickte Laufstege aus Metall liefern ein optisch überwältigendes Kreuz und Quer. Darauf und dazwischen bewegen sich die Solistinnen (jeder Sängerin ihren Steg), das Ensemble Chorwerk Ruhr und die von Peter Rundel von wechselnden Positionen aus dirigierten Musiker des Klangforums Wien. Es ist der Raum für ein szenisches Nachdenken über den Tod. Das Zentrum bilden Griseys „Quatre chants pour franchir le seuil“ („Vier Gesänge, die Schwelle zu übertreten“): „Der Tod des Engels“ (Sophia Burgos), „Der Tod der Zivilisation“ (Kerstin Avemo), „Der Tod der Stimme“ (Kristina Stanek) und „Der Tod der Menschheit“ (Caroline Melzer).

Eingeflochten sind Scelsis „Okanagon“ (1968) für Harfe, Kontrabass und Tamtam, Viviers „Glaubst du an die Unsterblichkeit der Seele“ und Griseys „Tempus ex Machina“ für sechs Schlagzeuger. Ein raumflutendes Intermezzo wie auch Xenakis’ „Nuits“ für zwölf gemischte Stimmen.

Eine Handlung gibt es hier naturgemäß nicht. Die Regie erfindet auch keine. Es wird auf den Stiegen auf- und abwärts geschritten oder in Formation aufmarschiert, zu Boden gegangen oder sich wieder aufgerappelt, dem Klang und der Wirkung von Licht- und Raumveränderungen nachgelauscht. Die mit der Moderne vertrauten Protagonisten sorgen für eine exzellente Umsetzung. Stöppler schafft es, Kompositionen, die ohne Szene erdacht wurden, zu einem mit purer Bewegung sparsam umgehenden, eindrucksvoll rätselhaften, allemal assoziationsoffenen Stück Musiktheater zu verbinden. Zumindest bei der Ruhrtriennale findet sie dafür ein Publikum, das sich auch ohne eine erkennbare Handlung beeindrucken und in einen anderen Zustand versetzen lässt. Immer im Bereich der Lebenden versteht sich, die bereit sind, über „das Andere“ nachzudenken.

Dr. Joachim Lange

„Ich geh unter lauter Schatten“ (2022) // Musiktheater von Elisabeth Stöppler und Peter Rundel mit Kompositionen von Giacinto Scelsi, Gérard Grisey, Claude Vivier und Iannis Xenakis

Infos und Termine auf der Website des Festivals