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Beiträge 2022/03

Eine Frage der Ehre

Liudmyla statt Anna – die neue Turandot an der Met

Liudmyla statt Anna – die neue Turandot an der Met

Als „Lieblingspartie“ würde Liudmyla Monastyrska die Rolle der ­Turandot nun nicht gerade bezeichnen – eigentlich ist sie gar nicht Bestandteil ihres ­Repertoires. Dennoch sagte sie nicht nein, als Met-General Manager Peter Gelb vor Kurzem höchstpersönlich bei ihr anrief, ob sie nicht „übernehmen“ wolle. Für die unglücklich agierende Anna Netrebko, deren politische Fuchs-und-Hase-­Strategie ein Vertragsverhältnis am bekanntesten Opernhaus der Welt momentan unmöglich macht

von Iris Steiner

Mediale Aufmerksamkeit war nie der Grund für sie, ­diesen Beruf zu ergreifen. Auch bei unserem Zoom-­Interview macht Liudmyla Monastyrska einen zurückhaltenden Eindruck, lässt sich trotz guter Englischkenntnisse von einem Freund übersetzen. Dass ausgerechnet eine ukra­inische Sängerin im Mai an der Met die ausgeladene Anna Netrebko als Turandot ersetzt, erhöht selbst für die erfolgsgewohnte Sopranistin mit internationaler Karriere den öffentlichen Druck ganz gewaltig. Zumal sie die Partie zuletzt vor sieben Jahren öffentlich gesungen hat und zugibt, dass Puccinis Prinzessin nicht gerade ihre Lieblingsrolle ist. „Diese Frau verstehe ich einfach nicht“, meint sie, „verbittert und aggressiv – Gott sei dank zeigt sie am Ende, wenn Calaf sie küsst, endlich doch noch Gefühle.“ Man gewinnt den Eindruck, dass diese Rolle der scheu und sanft wirkenden Künstlerin genauso wenig entspricht, wie die Situation, in der sie sich momentan unfreiwillig wiederfindet. ­Monastyrska spricht mit uns aus einem Warschauer Wohnzimmer, einem selbstgewählten Exil, während Eltern und Bruder in Kiew blieben und die beiden Kinder in Polen und Rumänien in Sicherheit sind. „Meine ganze Seele ist zuhause und sehr traurig“, meint sie, „aber körperlich bin ich okay.“

Monastyrska ist auf der ganzen Welt unterwegs, als ihr Zuhause bezeichnet sie trotzdem nach wie vor die Heimatstadt Kiew. Der Lebensmittelpunkt ist noch immer dort – zumindest war er das bis vor einigen Wochen und bevor Putin begann, das Land zu bombardieren. Täglich steht sie via Telegram und online in Kontakt mit den Kolleginnen und Kollegen der Ukrainischen Nationaloper, ebenfalls täglich gibt es neue Schreckensmeldungen von dort – und manchmal verzweifelte Hoffnung. „Stellen Sie sich vor, die Oper in Kiew möchte im April wieder spielen, nach über einem Monat der Schließung. Das ist in Wirklichkeit wahrscheinlich unmöglich, aber keiner dort will aufgeben. Und wie ich hörte, gehen unsere Musiker in U-Bahn-Schächte und machen Musik, um die Leute dort ein wenig aufzumuntern.“ Sie kennt die Szenerie der Stadt, war selbst jahrelang Ensemblemitglied und feierte dort 1996 ihr Bühnendebüt als Tatjana in Tschaikowskis „Eugen Onegin“, ehe sie mit einer Opernkarriere durchstartete. „Im Moment kann ich nichts weiter tun, als meinem Land durch Mitwirkung an Benefiz-Konzerten zu helfen und mein Gefühl der Zugehörigkeit zur Ukraine sowie meinen Protest lautstark auszudrücken.“

Anna und Liudmyla?

Dass ihr Einspringen in New York für ausgerechnet die russische Kollegin Anna Netrebko große Aufmerksamkeit erregt, weiß sie – und ist dankbar für die Chance, diese Turandot auch für die Ukraine zu singen. „Es ist eine große Ehre für mich, mein Land auf diese Weise vertreten und präsentieren zu dürfen.“ Den Begriff „glücklich“ möchte sie allerdings nicht verwenden, zu traurig und wütend fühlt sie sich. „Künstler, die das System Putin offen unterstützen, sollen in meinen Augen keine Bühne bekommen. Meiner Meinung nach hat Anna ihre Position viel zu spät erklärt. Einen ganzen Monat ohne Statement von der Nummer eins der Opernwelt? Das ist für mich untragbar.“

Gibt es eigentlich Parallelen zwischen Anna ­Netrebko und Liudmyla Monastyrska – vielleicht stimmlich? Die vorsichtige Frage stößt wie erwartet nicht auf große Begeisterung. „Nein, wir sind uns nicht ähnlich, auch nicht in Bezug auf unsere Stimmen.“ Prompt und harsch kommt die Antwort. „Anna ist eine hervorragende Sängerin mit einer großen Karriere und hat viele Manager und Berater, die mit ihr arbeiten. Das ist so nicht meine Welt.“ Kurz vor Beginn des Krieges waren beide alternierend für die Aida in Neapel engagiert. Ist man sich dort nicht auch persönlich begegnet? „Natürlich kenne ich Anna. Ihre Entscheidungen sind ihre Sache, sie ist erwachsen. Im Moment möchte ich sie allerdings lieber nicht treffen.“

Warum sich Peter Gelb, General Manager des größten Opernhauses der Welt, mit einem persönlichen Anruf ausgerechnet für Liudmyla Monastyrska entschieden hat, weiß sie nicht. Dass ihre Herkunft dabei eine (politische) Rolle gespielt hat, ist zu vermuten, trotzdem bleibt sie getreu ihrem Naturell bescheiden-realistisch. „­Sicher hätte es auch einige sehr gute Alternativen mit ukrainischem Hintergrund gegeben. Ich kann nur sagen, dass ich sehr stolz bin, dass die Wahl auf mich gefallen ist.“ Wir wollten das allerdings genauer wissen, fragten nach und erhielten prompt folgendes Statement von Peter Gelb: „Dass ich Liudmyla gefragt habe, liegt nicht daran, dass sie Ukrainerin ist, sondern weil ich weiß, dass ihre ausdrucksstarke dramatische Stimme perfekt zu dieser Partie passt – auch wenn sie die momentan nicht in ihrem aktuellen Repertoire führt. Um auf der riesigen Bühne der Metropolitan Opera großes italienisches Repertoire zu singen, braucht man als Sängerin eine tragfähige und sehr kraftvolle Stimme. Liudmyla hat bereits einige Male zuvor als Aida und Abigaille diese ‚Met-Tauglichkeit‘ bewiesen und beide Rollen mit großem Erfolg an unserem Haus gesungen. Die Tatsache, dass sie aus der Ukraine stammt, ist das ‚Sahnehäubchen‘. Nicht mehr und nicht weniger.“

Liudmyla Monastyrska als Abigaille mit Plácido Domingo in der Titelrolle von Verdis „Nabucco“, Metropolitan Opera 2016 (Foto Metropolitan Opera/Martin Sohl)

Aus der Ukraine auf die großen Bühnen der Welt

Ihr Europa-Debüt gab Monastyrska 2010 als Tosca an der Deutschen Oper Berlin, eine ihrer Lieblingspartien, mit der sie bis heute regelmäßig zu hören ist. In den Jahren darauf folgten Engagements als Aida und Tosca an der Opéra national de Paris und der ­Metropolitan Opera sowie ebendort zusammen mit Plácido ­Domingo 2016 als ­Abigaille in ­„Nabucco“. Diese Vorstellung wurde weltweit live ins Kino übertragen und in Deutschland und Öster­reich in einer einzigen Vorstellung von 50.000 (!) Besuchern gesehen. An der ­Bayerischen Staatsoper und der Wiener Staatsoper unter ­Simone Young war sie im selben Jahr als Aida zu hören, knapp ein Jahr nach ihrem Debüt 2015 bei den Salzburger Festspielen in der Neuproduktion von „Cavalleria rusticana“ mit Jonas Kaufmann. Es folgten Engagements als Lady Macbeth und Abigaille am Royal Opera House London und der Mailänder Scala. Und für diesen Sommer steht eine Aida auf dem Plan – diesmal in der Arena di Verona, „möglichst weit weg vom Krieg“, wie sie sagt. „Auch wenn der mich überallhin ­begleitet.“

Ihre traumatische Erfahrung kann sicher auch ­Zeffirellis prächtige Met-Inszenierung – bereits seit 1987 ein Publikumsfavorit – nicht heilen. Am 7. Mai 2022 wird „Turandot“ live in über 200 Kinos in Deutschland und Österreich übertragen. Ein wichtiges „Statement-Engagement“ nennt es ­Monastyrska, würde generell aber eigene Verträge immer vorziehen, bei denen sie, wie sie es ausdrückt, „von Anfang an gewollt ist“. In diesem Fall weiß sie um die Wirkung – und versucht es mit Pragmatismus. Das einzige Mal während unseres Gesprächs, bei dem sie beinahe etwas fröhlich wirkt. „Ich habe mein Arbeitsvisum und hey, wir reden von der Metropolitan Opera. Es ist immer ein Highlight, dort singen zu dürfen. Also: Los geht’s!“

Was würde sie einem Wladimir Putin gerne sagen, wenn es die Gelegenheit dazu gäbe? Sie schweigt einige Zeit, ringt sichtbar nach Worten und Fassung – die Antwort danach klingt gut überlegt: „Ich habe keine Worte für Putin und bin seit Wochen geschockt. Für mich ist er ein kranker Mann und für uns normale, friedliebende Ukrainer ist die Situation unfassbar. Wir sind doch im 21. Jahrhundert – kann man wirklich ernsthaft einfach hingehen und Menschen abschlachten?“

Liebe Frau Monastyrska, selbst der eisige Charakter Turandots wird durch die Liebe verändert. Wir wünschen Ihnen und Ihrem Land, dass so etwas nicht nur auf der Opernbühne funktioniert.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2022

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Feuerwerk & HALLE-luja

100 Jahre Händel-Festspiele Halle

100 Jahre Händel-Festspiele Halle

Mit einem facetten­reichen Festspielkalender und gebührend Glanz & Gloria feiert ­Händels Geburtsstadt ein promi­nentes Jubiläum. 100 Jahre Händel-­Festspiele Halle rufen vom 27. Mai bis zum 12. Juni 2022 an authentischen Spielstätten die Stars der internationalen Barockmusik-­Szene auf den von langer Expertenhand konzipierten Spielplan. Ein Markenzeichen Halles, der dritten Händel-Festspielstadt neben Göttingen und Karlsruhe, ist auch die enge Verbindung von Wissenschaft und Bühnen­praxis

von Renate Baumiller-Guggenberger

Wo, wenn nicht in seiner Geburtsstadt, die Georg ­Friedrich Händel als 18-Jähriger verließ, um fortan insbesondere in London zu Ruhm und Ehren zu gelangen, sollte sein „Spirit“ förmlich in der Luft liegen? Gut erhalten sind Originalschauplätze wie die Marktkirche, in der Händel 1685 getauft wurde, das Orgelspiel lernte und sein musikalisches Rüstzeug erhielt, der Dom, an dem er als Organist tätig war, und ebenso sein Geburtshaus in der Nikolaistraße 5, das heute Zentrum der ambitionierten Händel-Forschung und attraktives Museum ist. Die zeitlose musikalische Schönheit und Erhabenheit seiner Opern, Oratorien und Kantaten wird in Halle intensiv und mit akademischem Expertenblick durchleuchtet, leidenschaftlich und ganzjährig vermittelt und mit Blick auf die jährlich stattfindenden Festspiele gepflegt.

Barockmusik trifft Mario­nettenkunst: „Ariodante“ erweckt die schottische Ritterwelt zum Leben (Foto Compagnia Marionettistica Carlo Colla e Figli)

In der Saale-Stadt trifft Geschichte auf Gegenwart, begeistert ein auf Tradition gebautes Festival am Puls der Zeit, spielen Händels Kindheits- und Jugendorte in einmaliger Weise mit hochkarätiger, gegenwärtiger Barockmusik-Kultur an rund 20 Veranstaltungs­orten zusammen. Einer davon ist das 1802 nach Vorgaben Goethes errichtete und „just in time“ renovierte ­Lauchstädter Sommertheater, dessen Ambiente das Publikum verzaubert. Hier wird man im Jubiläumsjahr 2022 über „Caio Fabbricio“ (1733) Händel als versierten Bearbeiter einer Hasse-Oper erleben können. In feiner Pasticcio-­Tradition wurde in Koproduktion mit dem Concert ­Royal Köln die Handlung auf das Wesentliche komprimiert und für die Solisten mit koloraturgespickten Arien von Albinoni, Vinci und Händel aufgewertet. An drei Tagen ist dort unter der musikalischen Leitung von Wolfgang Katschner (Berliner Lautten Compagney) in Kooperation mit dem Marionettentheater Carlo Colla & Figli zudem die im Vorjahr nur digital realisierte Neuinszenierung des „Ariodante“ zu erleben.

Netzwerkender Publikumsmagnet

Wer die Händel-Festspiele Halle einmal erlebt hat, kehrt meist als Stammgast wieder und zählt so zu den rund 60.000 kulturaffinen Festspielbesuchern, über die sich Halle zumindest bis zum Beginn der Pandemie freuen durfte. 60 Prozent der Gäste reisen von außerhalb Sachsen-Anhalts an, 6 Prozent davon aus dem nahen europäischen Ausland – sogar australische Händel-­Liebhaber wurden mehrfach in Halle begrüßt. Nach den beiden vergangenen Jahren, in denen Covid-19 zur Absage zwang, garantieren zum Jahrhundert-Jubiläum schwindelerregende 67 (!) Hauptveranstaltungen und weitere, teils kostenfreie Begleit-Events in Stadt und Region ein komplexes und gewohnt exquisit besetztes Programm. Nicht weniger als fünf, vom Händel/Mozart-„Messias“ angeführte Oratorien konkurrieren mit ebenso vielen professionellen Opernproduktionen um die Zuschauergunst: neben den oben erwähnten die diesjährige Eröffnungsproduktion »Orlando«, „Siroe, Re di Persia“ und eine konzertante Aufführung von „­Fernando, Re Di Castiglia“.

Händel satt – das gilt definitiv für das größte und älteste Musikfest Sachsen-Anhalts, das in verschiedene nationale und internationale Netzwerke eingebunden ist und im Laufe der letzten Jahrzehnte von kulturpolitisch engagierter Prominenz schirmherrschaftlich begleitet wurde. Keine Geringere als Queen Elizabeth II. etwa hatte sich zum 250. Todestag des „caro Sassone“ 2009 dieses Ehrenamt mit dem damaligen Bundespräsidenten Horst Köhler geteilt. Wie auch Ministerpräsident Dr. Reiner Haseloff in seinem aktuellen Grußwort betont, „kennt Musik keine Grenzen und lebt vom Austausch“. Mit den beiden weiteren deutschen Händel-Festspielstädten Göttingen und Karlsruhe sieht man sich in Halle daher definitiv nicht in Konkurrenz, sondern freundschaftlich und im besten Sinne kooperativ verbunden.

Der Marktplatz mit dem berühmten Händel-Denkmal (Foto Thomas Ziegler/Stadt Halle (Saale))

Im Wandel der Zeit

Halle blickt mit Stolz auf eine bemerkenswerte Geschichte der Händel-Pflege zurück, die bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit der Aufführung seiner Oratorien begann. 1922 schien die Zeit dann reif für die Premiere des ersten „Hallischen Händelfests“, in dessen viertägigem Rahmen auch der „Orlando“ (in deutscher Sprache als „Orlandos Liebeswahn“) im damaligen Stadttheater als erste Händel-Oper in seiner Geburtsstadt inszeniert wurde. Im Laufe der bewegten Festspiel-Historie scheint es nur natürlich, dass sich Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Traditionen und Brüche, Konstanten und zeitgemäße Innovationen beobachten lassen, die vielfach im Zusammenhang mit der Indienstnahme der Musik Händels durch das herrschende politische System standen. Nach rassistischen und nordischen Implikationen im Nationalsozialismus kehrte die DDR „ihren“ Händel als Vertreter der Aufklärung und des Humanismus hervor, die staatliche Kulturpolitik forderte zudem einen „realistischen Aufführungsstil“ bei Neuproduktionen seiner Opern, was auch immer man darunter verstehen sollte. Den expressionistisch motivierten Protagonisten in den Jahren nach dem ­Ersten Weltkrieg schien gar die ­„Belebung der Gegenwart durch Händel“ weitaus vordringlicher als die „Händel-Wiederbelebung“. Und heute? Wo verortet die Gegenwart den Barockmeister? Am ehesten stellt man heute wohl den europäischen ­Kontext in den Fokus, würdigt Händel als Herzen und Völker verbindenden „Kosmopolit“, was in Halle im letzten Jahrzehnt zu bewusst interkulturell ausgerichteten Veranstaltungsformaten führte.

Der knapp 200 Seiten starke Katalog zur Jahresausstellung „Feuerwerk und Halle-luja“ enthält viel Wissenswertes weit über Fakten und Zahlen hinaus. Er wird ebenso wie eine Jubiläums-CD mit 19 Highlight-Einspielungen aus den Jahren 1958 bis 2008 von der Stiftung Händel-Haus herausgebracht. So wird in Text, Bildmaterial und Tondokumenten ein sinnliches und detailliertes Eintauchen in die anhaltende Händel-Euphorie möglich.

Unter den Themen der kenntnisreich verfassten Essays findet sich auch das weite Feld der „Historischen Aufführungspraxis“. Reflektiert werden der „Mythos ­Händel“, der Einzug des Countertenors in Halle, die Geschichte der Hallischen Händel-Tage in der NS-Zeit und die Rolle der Hallischen Händel-Ausgabe bei Festspiel-Aufführungen. Erinnerungen und Statements renommierter Künstler und ehemaliger Händel-Preisträger tragen dazu bei, die wohl einzigartige Festival-Atmosphäre greifbar zu machen. Countertenor Jochen Kowalski etwa denkt mit einem lachenden und einem weinenden Auge an sein erstes Festspiel-Konzert zurück, als er im Programmheft versehentlich zum ­JÜRGEN ­Kowalski wurde. Dieser Fauxpas wurde aber mehr als wettgemacht durch das prompt folgende Engagement an die Komische Oper als Start einer Weltkarriere.

Mit „Orlandos Liebeswahn“ wurde 1922 das „Hallische Händelfest“ ins Leben gerufen (Foto Stiftung Händel-Haus)

„Back to the roots“

„Jede Zeit hat ihr eigenes Händel-Bild“, behauptet auch Musikwissenschaftler und Kulturmanager Clemens Birnbaum. Und er weiß genau, wovon er schreibt. In der Nachfolge von Dr. Hanna John verantwortet Birnbaum als Intendant und Direktor der Stiftung Händel-­Haus seit 2009 (dem Jahr, in dem man den 250. Todestag des Komponisten beging) Programm und Profil der einmal jährlich stattfindenden Festspiele. Als einzigartig und wesentlich für Halle empfindet Birnbaum neben dem Privileg der Geburtsstadt mit authentischer Atmosphäre die enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Praxis. Sie ermöglicht, dass aktuelle musikwissenschaftliche Erkenntnisse, etwa im Rahmen der Edition der historisch-kritischen „hallischen“ Werkausgabe, konkret in die Programmgestaltung integriert werden. Äußert gespannt freut er sich in diesem Jahr auch auf das Resultat der ambitionierten Rekonstruktion des 1744 komponierten Oratoriums „Semele“ in der 1922 erstellten und groß besetzten deutschsprachigen Fassung von Alfred Rahlwes. Zum Jubiläum dirigiert als Spezialist in Sachen klangliches Revival der Händel-Preisträger des Jahres 1996, Howard Arman. Die Staatskapelle Halle ist seit Jahrzehnten fester Partner der Händel-Festspiele und strebt gemeinsam mit einem ausgewählten Solistenteam, dem Konzertchor Leipzig und der Robert-Franz-Singakademie nichts weniger als die Nachgestaltung der Klangwelt von Aufführungen barocker Musik der 1920er Jahre an.

Nicht allein dieses klangästhetische Experiment spiegelt im Jubiläumsjahr das Motto „Back to the roots“ wider. Auch die Neuinszenierung von Händels Zauberoper „Orlando“ durch den Briten und neuen Chef der Oper Halle, Walter Sutcliffe, dockt zum Auftakt am 27. Mai programmatisch bewusst dicht an das Gründungsjahr 1922 an. Countertenor Xavier Sabata singt die Titel­rolle, die musikalische Leitung übernimmt der Barock-Spezialist Christian Curnym. Im Dom zu Halle steht das Oratorium „Susanna“ mit Rückgriff auf eine bislang nicht publizierte Strichfassung von Arnold Schering auf dem Programm. 1922 erklang sie ebendort und wird in der großen Sammlung der Stiftung Händel-Haus aufbewahrt. Für die historisch informierte Umsetzung sorgt das Leipziger Barockorchester sowie der MDR-Rundfunkchor unter seinem künstlerischen Leiter Philipp Ahmann.

Und als wäre das alles nicht schon Grund genug für eine musikalische Frühlingsreise in die Saale-Stadt im Händel-­Fieber, schüren viele ehemalige Händel-Preisträgerinnen und -Preisträger die Vorfreude auf die opulent gestaltete Jubiläumsausgabe. Publikumslieblinge wie Jordi Savall, Philippe Jaroussky, Ragna Schirmer oder Romelia Lichtenstein, aber auch Countertenor Axel Köhler, der nach seinem Rückzug von der Bühne die Festspiele als Regisseur begleitet, treten an, um auf ihre Weise zu gratulieren.

www.haendelhaus.de

EMPFEHLUNG

Stiftung Händel-Haus (Hg.):
„Feuerwerk und Halle-luja.
100 Jahre Händel-Festspiele Halle“
192 Seiten, Henschel Verlag

Stiftung Händel-Haus (Hg.):
„100 Jahre Händel-Feste in Halle (Saale).
Höhepunkte aus Einspielungen von 1958 bis 2008“
1 CD, exkl. im Museumsshop des Händel-Hauses

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2022

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