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Musiktheater

9. März 2021

Dramatische Opernromantik

Madrid / Teatro Real (März 2021)
Bellinis „Norma“ in dualer Deutung

Madrid / Teatro Real (März 2021)
Bellinis „Norma“ in dualer Deutung

In Spanien begegnet man der Corona-Krise mit Ruhe, Phantasie und einem gut ausgearbeiteten Hygienekonzept – und füllt so das Teatro Real mit 65 Prozent der Gesamtkapazität. Das Madrider Publikum weiß die Kulturpolitik der Regierung unter schwierigen Bedingungen zu schätzen und dankt mit einer ausverkauften Premiere von Vincenzo Bellinis „Norma“. Ein Blick von Berlin, Paris und Wien könnte sich lohnen …

Der australische Regisseur Justin Way sieht eine interessante Parallele zwischen dem Stoff der „Norma“ und dem politischen Geschehen in Norditalien zur Zeit ihrer Uraufführung an der Mailänder Scala 1831. Nach der Niederlage Napoleons war Norditalien unter habsburgische Herrschaft gekommen, was dort die ersten nationalistischen Bewegungen provozierte. So lässt Way das Stück in einem alten italienischen Theater spielen, in dem die Kompagnie gerade „Norma“ probt. Dem Publikum zweigt sich auf diese Weise eine Dualität Primadonna/Norma, Habsburger/Römer und Chor/italienische Patrioten. Dabei hält Way auch eine romantische Ästhetik für geeignet, ein derzeit wichtiges Thema anzusprechen: Soll sich ein Volk gegen seine Besatzer auflehnen oder nicht? Charles Edwards kreiert dazu ein Theater im Theater, mit einem mehrrangigen Zuschauerblock an einer Seite, aus dem die Habsburger dem Treiben der urwüchsigen Gallier bisweilen zusehen, und einer altmodisch-romantischen Ausstattung aus der Theaterpraxis jener Zeit sowie den entsprechenden Kostümen von Sue Willmington. Nicolás Fischtel beleuchtet das Ganze mit dem warmen unfokussierten Licht jener Zeit. In diesem Spannungsfeld findet mit guter Personenregie der für beide unlösbare heimliche Konflikt zwischen Norma als Druidenpriesterin und Pollione als habsburgischem Besatzer statt. Am Schluss gehen sie gemeinsam in das in Flammen aufgehende Theater – ein Finale wie in Wagners „Götterdämmerung“. Auf der anderen Seite versteht es Way aber auch, die dem traditionellen Frauenverständnis zu jener Zeit weit vorauseilende Persönlichkeit Normas glaubhaft darzustellen. Sie ist nicht nur bedeutende Druidenpriesterin und Sprecherin der Götter, sondern auch Liebhaberin, Mutter, verlassende Gattin, Freundin, Richterin, aber auch Ausführende sowie Opfer zeremonieller Praxis. Damit war Norma zu ihrer Zeit schon eine moderne Frau, stark und ebenso wagemutig wie aktiv im Treffen von Entscheidungen.

Das bildet sich auch im Gesang der meisten Protagonisten ab, der nicht unbedingt mit den Prinzipien des Belcanto zu vereinbaren ist, der gerade mit der „Norma“ große Blüte erreichte. Yolanda Auyanet betont mit einem kräftigen und charaktervollen Sopran die Intensität der Emotionen der Titelpartie, bisweilen bis an ihre stimmlichen Grenzen stoßend. Clémentine Margaine als Adalgisa überzeugt mit einem klangvollen und variationsreichen Mezzo, allerdings nicht immer verständlich. Michael Spyres wirkt als Pollione etwas steif, kann aber mit seinem kräftigen, wenn auch nicht glänzenden Tenor gut mithalten. Roberto Tagliavinis Bass fehlt der für Belcanto wünschenswerte Balsam. Marco Armiliato am Pult des Orquesta Titular del Teatro Real sorgt nicht immer für die Feinheiten und die Dynamik der Musik Bellinis und betont immer wieder auch die dramatischen Momente. Der von Andrés Maspero geleitete Chor des Teatro Real singt mit Maske ausgezeichnet und wird von Jo Meredith auch effektvoll choreografiert.

Klaus Billand

„Norma“ (1831) // Tragedia lirica von Vincenzo Bellini

8. März 2021

Glänzender Hörgenuss im optischen Fluss?

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Salzburg / Salzburger Landestheater (März 2021)
Chancen und Risiken einer gestreamten „Zauberflöte“

Opernpremieren per Stream sind verdienstvolle und ermutigende Vorhaben sowohl für das Ensemble als auch für das Publikum – so auch die „Zauberflöten“-Premiere des Salzburger Landestheaters. In der Regie von Christiane Lutz und unter der musikalischen Leitung von Leslie Suganandarajah agiert ein Ensemble, das sich vor allem hören lassen kann. Allen voran Alina Wunderlin, die mit wunderbarer Stimme und virtuosen Koloraturen die Königin der Nacht zwischen verzweifelter Mutterangst und vom Zorn übermannter Rachegöttin gestaltet. Laura Incko als Pamina und David Fischer als Tamino bringen als edles Liebespaar eine gute Mischung aus belcantischem Schmelz und schlanker Stimmführung mit. Laura Barthel mimt und singt mit koboldhaftem Charme die Papagena und George Humphreys kostet das komödiantische Potential der Papageno-Rolle stimmlich und darstellerisch mit Vergnügen aus. Die drei stimmschön singenden Damen Julia Moorman, Olivia Cosio und Verena Gunz fügen sich zu fein abgestimmtem Triogesang zusammen. Kammersänger Franz Supper verleiht dem Monostatos gefährliche, aber auch mitleidsvolle Töne. Sein Dienstherr Sarastro bekommt durch Andreas Hörl sonor klingende priesterliche Weihe. Und die Rollen der drei Knaben übernehmen tonsicher Mitglieder des Salzburger Festspiele und Theater Kinderchors.

Die Regie vermittelt den interessanten Eindruck, dass es sich bei der Auseinandersetzung zwischen der Königin der Nacht und Sarastro um einen höfischen Machtkampf im Palast oder Tempel der Sarastro-Fraktion handelt. Es gibt zwar in dem sparsamen, gleichwohl variablen Bühnenbild von Christian Andrè Tabakoff Ausweitungen der Raumgestaltung. Aber letztlich konzentriert sich das Spiel um eine Art Planetenglobus, zentral im Tempelraum auf einer Stele stehend. Um diese Mitte herum entwickelt Christiane Lutz mit einer Menge kreativer Ideen ihre Vorstellungen des Werkes. Aber letztlich will sich das Ganze in der filmischen Umsetzung noch nicht zu einer Einheit fügen. Einerseits setzen die unterschiedlichen schauspielerischen Möglichkeiten des Ensembles der Umsetzung des Regiekonzepts Grenzen. Und die vielen Halbtotalen und Großaufnahmen der Kameras behindern den optischen Fluss des Gesamtgeschehens. Außerdem erfordern Großaufnahmen ein anderes Agieren der Darstellenden als Aufnahmen aus der Distanz. Nicht jeder, der auf der Bühne live überzeugend agiert, ist für das Spielen direkt vor der Kamera ausgebildet. Und die Großaufnahme legt das unerbittlich offen. So lange es Streams gibt, sollte sich die Videoregie darauf einstellen und mehr Distanz wahren. Oder aber camera-acting gehört zukünftig zur Opernausbildung.

Einige Koordinationsprobleme zwischen Orchester und Bühne mögen der Premieren-Anspannung geschuldet sein. Ansonsten spielte das Mozarteumorchester Salzburg gewohnt kenntnisreich mit einem Anflug von historisch orientierter Spielpraxis.

Insgesamt Respekt vor dieser Inszenierung, die im Vorfeld und bei der Durchführung sicher viele Pandemie-Probleme bewältigen musste.

Claus-Ulrich Heinke

„Die Zauberflöte“ (1791) // Oper von Wolfgang Amadeus Mozart

28. Februar 2021

Weiblich, spritzig, jung

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

Regisseurin Ilaria Lanzino im Portrait

von Maike Graf

„Jung“: ein Wort mit einem ähnlich breiten Bedeutungsspektrum, wie die Meinungen zu einer Operninszenierung bei einem großen Auditorium auseinandergehen. In manchen Kontexten meint der Begriff „schön“, „frisch“, „neu“ und „frei“. Wieder andere denken an „nicht so erfahren“ – als hätte das karrieristisch „Junge“ noch nicht genügend Lebenszeit gehabt, alle wichtigen (alten) Bücher zu lesen. Auf der einen Seite wünscht man sich Stars und das Altbewährte. Auf der anderen ist „jung“ aber genau das, was die Kulturbranche braucht – mit Formaten für Kinder und Jugendliche oder auch experimentellen Publikumssituationen. Manchmal ist „jung“ also mit einem gleichgültigen Mundzucken versehen und manchmal mit strahlenden, faszinierten Funken in den Augen.

Die Regisseurin Ilaria Lanzino ist „jung“. Weil sie 30 Jahre alt ist, weil sie in mancher Hinsicht Regie-Debütantin ist, aber auch weil sie spritzig und agil auftritt. Dass das irgendwann irrelevant wird, erlebe ich Ende Oktober 2020 bei einer Probe zu Manuel de Fallas Stück „Meister Pedros Puppenspiel“ an der Deutschen Oper am Rhein. Hier passieren oft viele Dinge gleichzeitig: Gerade spielt die Regisseurin, über eine Breite von sechs Opernsitzen hinweg, einem Darsteller auf der Bühne eine Geste vor. „Grööößer!“ ruft sie dabei über den halben Zuschauerraum. Während daraufhin wieder die Probenmusik erklingt, wendet sie sich, mit einer Stimme in Zimmertemperatur, an ihre Puppentheaterregisseure, spricht leise zu ihren Regieassistenten, was gleich an der Szene verändert werden muss, und sprintet dann, von jetzt auf gleich, doch auf die Bühne, um mit dem Darsteller die gerade geprobte Szene zu reflektieren. Ich habe schon lange keine Regieführenden mehr rennen sehen. Aber das ist Lanzino, die eher über die Sitzreihen springen würde, als langsam und gemütlich den ordentlichen Weg über den Bühnenzugang zu wählen oder gar jemand anderes zu schicken. Bei dieser Power fragen sich die Probenden an diesem Tag nicht, wofür das Stück jetzt eigentlich „tipptopp“ gemacht wird, so der Anspruch der Regisseurin, obwohl die Premiere im November 2020 vorerst entfallen muss.

Kampf gegen Windmühlen: Manuel de Fallas „Meister Pedros Puppenspiel“ harrt Corona-bedingt weiter seiner Premiere (Foto Jochen Quast)

„Allora!“

Es ist nicht die einzige Corona-bedingte Extremsituation für Ilaria Lanzino in dieser Spielzeit. Die letzte ging allerdings ein wenig besser für die Regisseurin aus. Ihre Inszenierung von Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ erwuchs (durch die Verschiebungen aufgrund der ersten Bühnenschließungen) von einem Doppelabend in dem Format „Young Directors“ der Deutschen Oper am Rhein nicht nur zur alleinig abendfüllenden Oper, sondern auch zur Eröffnung einer Spielzeit, auf die viele Opernliebhaber so sehnsüchtig gewartet hatten.

Auf die Frage nach ihrem Inszenierungsstil ruft sie „Allora!“, hüpft auf ihrem Stuhl in eine aufrechte Haltung und rückt sich selbst in eine erklärende Rolle, in der sie viel, aber elegant gestikuliert. Nachdem sie zufällig bei Spotify, wo sie oft nach neuem Repertoire stöbert, auf den „Kaiser von Atlantis“ stieß, musste sie sich eingestehen: „Das Stück ist besser als ich und alles, was ich daraus machen könnte.“ Was für sie heißt, es nicht aus einer arroganten Erhabenheit zwanghaft umzuinterpretieren. Bei anderen Stücken ist das ganz anders, „da muss ich das richtig knallhart neu interpretieren, weil sie Werte vertreten, die ich nicht im Geringsten teile“. So beispielsweise bei der Oper „Straszny Dwór“ („Das Gespensterschloss“) von Stanisław Moniuszko, dem Werk, mit dem sie 2020 den renommierten 11. Europäischen Opernregie-Preis (EOP) gewann. Dieses Stück aus dem 19. Jahrhundert vertritt Werte, die man heute als „männlich-chauvinistisch“ bezeichnen würde. Um sich zu distanzieren, wird Lanzino Symbole des polnischen Feminismus und Drag Queens auf die Bühne stellen, flüstert sie mir zu. Und ja, die Inszenierung soll bald auch in Polen, in Poznań, auf die Bühne kommen – dem Land, das gerade seine LGBT-ideologiefreien Zonen verteidigt hat.

Wer also einen kleinsten gemeinsamen Nenner in den Inszenierungen von Ilaria Lanzino zu finden sucht, die sich von Kinderoper über Uraufführungen hin zu großer und schwergewichtiger Oper erstrecken, der entdeckt ihn in der Spielfreude der Darstellerinnen und Darsteller ihrer Produktionen. Das ist kein Zustand, in dem es darum geht, wie viel Spaß von der Bühne strömt, und auch keiner, der die Motivationsfähigkeit der Regisseurin ausdrückt. Nein, die Sängerinnen und Sänger in den Produktionen von Lanzino schauspielern unglaublich gut! Eine Aussage, die in Bezug auf Oper nicht immer fällt.

Probenabhängig

„Ich gebe im Wort ‚Musiktheater‘ der Musik nicht automatisch die höhere Bedeutung. Die Musik darf natürlich nicht kaputtgemacht werden und es muss im Spielen auch eine Temperaturbalance geben. Aber es ist trotzdem das Wichtigste, dass die Szene lebendig ist“, beteuert die Regisseurin. Sogar im Gespräch hat sie eine derartige Ausdrucksstärke, dass man manchmal vergisst, in der Opernkantine und nicht auf der Bühne zu sitzen. An erster Stelle steht für Ilaria Lanzino, den Singenden ihre Charaktere „sehr sehr“ bewusst zu machen und gemeinsam die kleinsten Gesten, genauesten Gesichtsausdrücke und sogar Hand- oder Fußstellungen zu spitzen. Etwas, was sie nicht nur zuhause in ihrem Regiebuch plant, sondern gemeinsam vor Ort erarbeitet. Manchmal auch mit viel Mühe, weil das Schauspiel kein so großer Teil des Bildungsbetriebs sei, „der sehr auf Stimmenpornographie fokussiert ist“, kritisiert sie mit dem Begriff von Regisseur Peter Konwitschny, der den Fokus auf rein klangliche Befriedigung anprangert.

Müde ist Ilaria Lanzino bei diesen intensiven Proben aber nie. Sie hat nicht einmal einen Hauch von Augenringen, obwohl sie in der letzten Zeit drei Dienste gemacht hat, um die zwei Besetzungen für „Meister Pedros Puppenspiel“ einzustudieren und das Wort Urlaub eigentlich nicht kenne, wie sie sagt. „Ich bin probenabhängig“, beschreibt sie den rauschartigen Zustand, den die Bühne in ihr auslöst. „Die Proben sind wie eine Droge für mich.“ Und wenn sie einmal nicht arbeitet? „Eigentlich tue ich nur so, als würde ich nicht arbeiten“, lacht sie. „Ich gehe dann ins Kino, ins Theater oder schaue zuhause einen Film und lasse mich inspirieren.“  Die Regisseurin zwinkert, während sie gefüllt von Spannung über ihr arbeitsdurchzogenes Leben schwärmt, das ihr die größte Inspirationsquelle ist: „Du musst leben, um auch lebendige Menschen zu inszenieren.“

Auf der Probebühne (Foto Michal Leskiewicz)

Von wiehernden Pferden zur Regie

Dass die Sängerinnen und Sänger ihr vertrauen und sich, gerade im Spielen, über ihre eigenen Grenzen pushen lassen, liegt daran, dass Lanzino weiß, wovon sie spricht. Sie hat nämlich selbst Gesang studiert. Ein Bachelor und ein Master, das passiert nicht aus Versehen. Heute lacht sie darüber, dass es eher Glück war, bereits mit 16 und noch während der Highschool am Provinzkonservatorium in Lucca angenommen zu werden; bei Giovanni Dagnino, einem Lehrer, der seine Studierenden gerne mit besonders viel unterschiedlichem Repertoire beschäftigt. Die Regisseurin, die so aufs Schauspielern setzt, nimmt auch in unserem Gespräch immer wieder verschiedene Rollen ein und spielt mir die Szene ihrer Aufnahmeprüfung vor: „Beim Vorsingen muss der einzige Bewerber neben mir ein wieherndes Pferd gegeben haben. ‚Singen Sie bitte!‘ – ‚Hüüüüooopffff.‘ – ‚Vielen Dank, der Nächste!‘ Und dann komme ich und singe halb schief eine Aria antica. Sie fragten sich wohl: ‚Nehmen wir das wiehernde Pferd oder das halbtalentierte Mädchen? Na gut, dann eben das Mädchen. ‘“

„Das Gesangsstudium war sehr leidenschaftlich, ich habe oft die Highschool geschwänzt, um ins Konservatorium zu gehen“, schmunzelt sie in sich hinein. Aber nach einer Hospitanz bei Benedikt von Peters „Aida“ in Berlin habe sie sich dann für die Regie entschieden. Bis dahin wollte sie für ein weiteres Gesangsstudium nach Köln, aber das Singen sei immer mehr ein „Schauen wir mal, wie es kommt“ gewesen. Als sie das realisierte, sattelte sie um – auf das Metier, in dem sie sich tatsächlich durch die „bigger vision“ der Oper wühlen kann und nicht nur eine Partie lernt und nicht weiß, was im zweiten Akt passiert. „Jetzt springe ich nicht ab, die Regie ist mein Traumjob und mein Leben. Aber das Singen hilft mir trotzdem sehr sehr bei meiner Arbeit, weil ich konkrete Lösungen aus dieser Erfahrung einbringen kann. Beispielsweise, an welchen Stellen die Singenden atmen können, damit sie meine Ideen realisieren.“

Die Frage, ob es bei der ganzen Liebe zum Schauspiel dann nicht viel eher das Sprechtheater ihr Metier gewesen wäre, braucht man daraufhin auch nicht mehr zu stellen. Denn es war immer die Musik, seitdem sie mit acht Jahren das erste Mal Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ auf der Anlage ihrer Mutter gehört und sich dann durch die Kirchenmusik und Mozarts „Requiem“ unwiderruflich in die Welt der Musik verliebt hatte.

Sensibles Gespür für bildstarke und vielschichtige Deutungen: Szene aus Viktor Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ (Foto Hans Jörg Michel)

„Sehr sehr“

Ist Ilaria Lanzino jetzt jung oder etabliert? Wie ist sie im Vergleich zu den „gräulichen Urgesteinen“ zu positionieren? Ehrlich gesagt gibt es so viele Dinge, die sie besser beschreiben, als sie als „jung“ zu charakterisieren, was auch immer das heißen mag. Vielleicht sollten wir das Wort, bei dem sich sowieso jeder und jede für eine eigene Interpretation entscheiden kann, beiseitelegen und stattdessen sagen: Ilaria Lanzino ist energiegeladen, temperamentvoll, fantasiesprudelnd, hemmungslos. Und was sie noch charakterisiert, ist ihre große liebevolle und respektvolle Geste gegenüber der Bühne, der Oper und der Regie. Auch dass sie jede Kollegin und jeden Kollegen beim Namen nennt oder dass sie immer „sehr sehr“ sagt, um einen Umstand zu verdeutlichen, denn die einfache Form reicht einfach nicht.

„Sie singt und spricht und tanzt mit einer Freude, Hingabe und ganzen Körperlichkeit, dass man nur staunt – und das alles unterfüttert mit fachlicher Kompetenz“, erkennt Regisseur Axel Köhler bereits in ihrer Zeit als Regieassistentin seiner „Fledermaus“-Produktion an der Deutschen Oper am Rhein. Charakteristika, die sie auch heute noch auszeichnen.

„I’m here to watch your art!“, ruft Tenor David Fischer von der Bühne, um zu erklären, warum er da ist, obwohl seine Szene gar nicht mehr geprobt wird. „Love you!“, ruft Lanzino zurück. Ob es nun ihr großartiger „Kaiser von Atlantis“ ist, die Corona-bedingt verschobene Produktion von „Meister Pedros Puppenspiel“ oder ihr „Gespensterschloss“, das nach Polen auch in Wiesbaden zur Aufführung kommen soll: We should be there to watch her art!

28. Februar 2021

Die letzte Primadonna

Eine Hommage an Leonie Rysanek

Eine Hommage an Leonie Rysanek

von Peter Sommeregger

Wenn man 23 Jahre nach ihrem Tod das Ehrengrab der Sopranistin Leonie Rysanek auf dem Wiener Zentralfriedhof besucht, wird man dort – Sommer wie Winter – frische Blumen, oft auch ein brennendes Grablicht sehen können. „Die Rysanek“ oder auch nur „Leonie“ genannte Künstlerin hat sich in ihrer Heimatstadt einen Ruhm und eine Beliebtheit erworben, an der auch ihr Tod im Jahr 1998 kaum etwas änderte.

Die am 14. November 1926 geborene Rysanek war Wienerin durch und durch – dass sie aus einer ursprünglich tschechischen Familie stammte, ist bekanntlich gute wienerische Tradition. Die Brüder fielen im Zweiten Weltkrieg, alle Hoffnungen der Eltern ruhten auf Leonie und ihrer älteren Schwester Lotte. Beide zeigten früh musikalisches Talent und begannen nach dem Krieg ein Gesangsstudium an der Wiener Musikakademie bei Bariton Rudolf Großmann, den die blutjunge Leonie trotz großen Altersunterschiedes auch heiratete. Er begleitete sie zu ersten Engagements an das Landestheater Innsbruck, wo sie 1949 als Agathe im „Freischütz“ debütierte, und an das Saarbrücker Opernhaus.

Der Beginn einer Weltkarriere

Ein entscheidender Karriereschritt gelang ihr 1951 als Sieglinde in Bayreuth, als Wieland Wagner sie für die ersten Festspiele nach dem Krieg engagierte und damit schlagartig berühmt machte. Der groß dimensionierte Sopran der Rysanek, im Timbre unverwechselbar, entfaltete in der Höhe eine Durchschlagskraft und ein Leuchten, das zu ihrem Markenzeichen werden sollte. Die Sieglinde blieb eine ihrer wichtigsten und erfolgreichsten Partien – und auch das darauffolgende Engagement an der Bayerischen Staatsoper wurde ein großer Erfolg. Die Rysanek glänzte im jugendlich dramatischen Repertoire zwischen Wagner, Richard Strauss, Verdi und Puccini. Herausragend: Ihre Helena in der „Ägyptischen Helena“ von Richard Strauss – eine Aufführung aus dem Münchner Prinzregententheater, die bis heute auf CD nachzuhören ist. Als die Wiener Staatsoper 1955 ihr wieder aufgebautes Haus an der Ringstraße eröffnete, war Leonie Rysanek bereits für das Ensemble engagiert. Mit der Kaiserin in Strauss’ „Frau ohne Schatten“ fand sie 1955 ihre Lieblingsrolle und eroberte sich bereits in den ersten Wiener Jahren die Gunst des anspruchsvollen Wiener Publikums im Sturm. Es sollte eine lebenslange Liebesbeziehung bleiben.

Die fünfziger Jahre kann man auch insgesamt als Beginn ihrer großen Karriere bezeichnen. Leonie Rysanek gastierte an großen europäischen Opernhäusern, Dirigenten vom Rang eines Herbert von Karajan und Karl Böhm hatten sie längst für sich entdeckt. Es schien sich abzuzeichnen, dass die Opernhäuser von Wien und München die Fixpunkte ihrer Tätigkeit bilden würden. Da öffnete sich mit einem Vertrag der Oper von San Francisco die lukrative US-amerikanische Schiene. Schnell avancierte sie auch dort zum Publikumsliebling, stand in San Francisco als Senta, Sieglinde und Aida auf der Bühne. Zur Spielzeiteröffnung 1957/58 sang sie eine der wenigen Male die Turandot und erhielt eine bedeutungsvolle Chance, als sie nach einer Absage von Maria Callas die Lady Macbeth übernahm. Diese Partie sagte die Callas dann auch an der New Yorker Met ab, und so wurde aus dem schon geplanten Met-Debüt der Rysanek eine Lady Macbeth anstelle einer Aida. Für nahezu drei Jahrzehnte war Leonie Rysanek ab diesem Zeitpunkt eine der beliebtesten Sängerinnen der New Yorker Metropolitan Opera – und Ende der fünfziger Jahre eine der gefragtesten Sängerinnen weltweit.

Erfolge und Rückschläge

Der Druck dieses Erfolgs kulminierte im Sommer 1959 nach einer „Ariadne“-Premiere in München in einem gesundheitlichen Zusammenbruch. Die Saison in San Francisco musste abgesagt werden, um eine notwendige Ruhepause einzuhalten. Am 7. Dezember 1959 war sie zurück und nun endgültig an der Weltspitze angekommen – zehn Jahre nach ihrem Innsbrucker Debüt zur Eröffnung der Mailänder Scala als Desdemona an der Seite Mario del Monacos.

Im Oktober 1960 fügte sie an der Met mit der gefürchteten Partie der Abigaille in Verdis „Nabucco“ ihrem Repertoire eine weitere Rolle hinzu, von der sie sich aber aus Sorge um ihre Stimme bald wieder verabschiedete. Erneut stellte sich eine Nervenkrise ein, die sie zu einer etwa sechsmonatigen Pause zwang. In den frühen sechziger Jahren pendelte sich die Zahl der jährlichen Auftritte bei knapp 50 ein, eine weise Beschränkung. Die Intensität ihrer Rollenporträts machten die Rysanek zu einer Ausnahmeerscheinung im internationalen Opernbetrieb. Die Leidenschaft ihrer Tosca etwa ließ ihre Partner als Scarpia um Leib und Leben fürchten, so sehr identifizierte sie sich mit der Rolle.

Hervorzuheben ist auch ihr Erfolg als Kaiserin in einer neuen „Frau ohne Schatten“, die Herbert von Karajan 1964 zum 100. Geburtstag von Richard Strauss in Wien dirigierte. Mitte der sechziger Jahre war sie darüber hinaus auch wieder regelmäßiger Gast in Bayreuth und konnte in Wieland Wagners letzter „Ring“-Inszenierung ihren Triumph als Sieglinde von 1951 wiederholen. Leider verhinderte sein plötzlicher Tod ein Rollendebüt als Isolde, außer dem „Liebestod“ in einigen Konzerten hat die Rysanek diese Rolle bedauerlicherweise nie gesungen.

Das Jahr 1968 markierte einen privaten Neubeginn. Nach der Scheidung von Rudolf Großmann heiratete sie den Journalisten und Musikwissenschaftler Ernst Ludwig „Elu“ Gausmann, der seine Ehefrau von da an managte. Sie erweiterte ihr Repertoire um die Milada in Smetanas „Dalibor“, ein weiteres Rollendebüt als Salome erfolgte in München. Später feierte sie auch in Wien und an der Metropolitan Opera Erfolge mit dieser Rolle. Mit Cherubinis „Medea“ in Wien und Ponchiellis „La Gioconda“ in Berlin nahm die Rysanek dazu zwei Glanzrollen von Maria Callas in ihr Repertoire auf.

Langsamer Abschied

Im Frühling 1981 sang sie zum ersten und einzigen Mal die Elektra – in einem Film von Götz Friedrich mit Karl Böhm am Pult – und reihte sich mit nur einer einzigen Produktion eindrucksvoll in die Reihe großer Interpretinnen dieser Partie ein. 1982 folgte die Kundry im „Parsifal“ unter James Levine in Bayreuth. Im Februar 1984 feierte die New Yorker Met ihren Star mit einer triumphalen Gala zum 25-jährigen Hausjubiläum. Ab 1985 erweiterte sie ihr Repertoire um die Charakterrolle der Küsterin in Janáčeks „Jenůfa“, später folgte noch die Kabanicha aus „Káťa Kabanová“.

Es war die Zeit des langsamen Abschieds von ihren Glanzrollen, die Rysanek wechselte von der Salome zur Herodias, von der Chrysothemis zur Klytämnestra. Sie sang die Gräfin in Tschaikowskis „Pique Dame“ und setzte ihre internationale Karriere nicht zuletzt durch eine kluge Auswahl ihrer Partien ungebrochen fort. Im Alter von 70 Jahren erst nahm sie von der Bühne Abschied – an der Met als Gräfin, in Salzburg letztmalig als Klytemnästra. Leider verstarb sie nur wenige Monate später, am 7. März 1998, in Wien an einem Krebsleiden.

Um Leonie Rysaneks Karriere zu würdigen und aus heutiger Sicht richtig einzuordnen, muss man bedenken, dass diese Laufbahn nicht annähernd so stark von den Medien unterstützt wurde wie heutige Karrieren. Ihre Wirkung, ihren Ruhm erwarb sie sich ausschließlich durch Auftritte, die durch ihr Charisma und ihre darstellerische Intensität zum Ereignis wurden. Sie war wohl die letzte Primadonna, die ohne Agentur, ohne medienwirksame TV-Auftritte und über weite Strecken auch ohne Schallplatten-Einspielungen ihren internationalen Ruhm über Jahrzehnte erhalten konnte.

Diskographie

Vor allem die frühen Jahre von Leonie Rysaneks Karriere sind auf Schallplatte dokumentiert. Unter Ferenc Fricsay sang sie die Leonore im „Fidelio“, Karl Böhm wählte sie als Kaiserin für die allererste Plattenaufnahme der „Frau ohne Schatten“. Furtwängler spielte mit ihr als Sieglinde die „Walküre“ ein, in dieser Rolle ist sie auch unter Karl Böhm in seinem Bayreuther „Ring“ von 1965 zu hören. Studioaufnahmen von „Ariadne auf Naxos“, dem „Fliegenden Holländer“, von Verdis „Macbeth“ und „Otello“ entstanden in Wien, New York, London und Rom. In späteren Jahren zeigte sie sich unzufrieden mit der Art und Weise, wie komplette Opern aufgenommen wurden, und lehnte weitere Plattenverträge ab.

Der Großteil der Diskographie der Sängerin besteht daher aus Live-Mitschnitten, die ihrem Temperament und ihrer Bühnenpräsenz ohnehin viel eher gerecht werden. Manche dieser Mitschnitte erschienen bei offiziellen Labels, wie ihre Salome, Medea und Küsterin. Daneben kursieren auf dem Graumarkt Dutzende von Auftritten an den verschiedensten Opernhäusern. Filmdokumente mit der Rysanek sind dagegen leider eher dünn gesät, außer dem „Elektra“-Film hat sich wenig erhalten. Für jeden, der sie auf der Bühne noch erleben durfte, bleibt sie zweifellos unvergesslich!

28. Februar 2021

Oper reloaded

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Einschätzung eines digitalen Kulturexperiments

Während die Theaterwelt mit dem Lockdown kämpft, schwimmen einige junge Künstler gegen den Strom, gründen die Kammeroper Salzburg und bringen blitzschnell eine „Digital Opera“ mit tagesaktuellem Bezug zur Uraufführung. Hält das Format, was es verspricht?

von Florian Maier

Freitag, 1. Mai 2020. Oder auch: Tag 47 der sozialen Isolation in Österreich. Das Erstlingswerk „Tag 47“ der erst wenige Tage zuvor ins Leben gerufenen Kammeroper Salzburg feiert via YouTube Premiere. Die knapp 20-minütige Komposition entsteht in einer Zeit des gesellschaftlichen wie künstlerischen Stillstands – und nutzt gerade diese Situation als kreativen Anker. Im Fokus stehen Menschen unserer Zeit, die durch Corona auf sich selbst zurückgeworfen werden, die in ihren Wohnungen Gefangene ganz persönlicher Krisen sind. Häusliche Gewalt, Entfremdung in einer Liebesbeziehung auf räumlicher Distanz, in der Einsamkeit sich zuspitzende Psychosen: „Tag 47“ legt den Finger in die Wunde von Problemen, die unter „normalen Umständen“ wahrscheinlich unentdeckt unter der Oberfläche weitergebrodelt hätten.

Die jungen kreativen Köpfe hinter dem Werk – Komponist Gordon Safari (38), Regisseur Konstantin Paul (22) und Ausstatter Michael Hofer-Lenz (24) – bezeichnen ihre Uraufführung als „Digital Opera“. Und verstehen darunter eine Komposition, die nur digital gespielt werden kann und soll. Angesichts unzähliger Streaming-Angebote aus der Konserve gelingt ihnen damit ein durchaus erfrischendes Signal: Corona bedeutet nicht nur Stillstand, auch Neues kann aus der Krise erwachsen. Die Idee dazu kam Safari in einer schlaflosen Nacht Mitte April. Als Dirigent, Organist und Gründer des Ensembles BachWerkVokal hatte er bis dato eher mit dem klassischen Künstlerproblem „Zu viele Ideen, zu wenig Zeit“ zu kämpfen. Nun also die plötzliche Unmöglichkeit, längst geplante Projekte in den vorgesehenen Bahnen zu realisieren. Und: der aufkeimende Gedanke, dieser Krise aktiv und kreativ zu begegnen und der theatralen Dimension von Corona mit einer Kurzoper nachzuspüren. Die Vision zur Kammeroper Salzburg war geboren, Paul und Hofer-Lenz sofort begeistert mit an Bord. In einem Zeitraum von nur zehn Tagen entstanden Libretto und Partitur zu „Tag 47“, wurden die Partien einstudiert, das Rohmaterial gefilmt und die einzelnen Spuren im Feinschnitt am PC übereinandergelegt. Ein Sprint mit absoluter Punktlandung: Nur 20 Minuten vor der Online-Premiere wurde das „Endprodukt“ fertig.

Gordon Safari, Initiator und Komponist von „Tag 47“ (Foto Michael Brauer)

„Wie soll die alte Nähe wieder entstehen?“

Die elektronische Anmutung der Komposition wird dabei vom Isolationsgebot bestimmt. Safari entschied sich für die Arbeit mit elektronischen MIDI-Klängen (angereichert durch wenige ausgewählte konventionelle Instrumente), die inhaltlich plausibel mit der ästhetischen Ausgangslage von „Tag 47“ harmonieren: Die Webcams der Protagonisten erlauben uns einen Blick in ihre Privatsphäre – die Guckkästen einer imaginären vierten Wand. Was sich dahinter abspielt, sind atmosphärisch aufflackernde Szenen des Jahres 2020. Vincent und Gregor sehen sich seit Wochen nur noch im Videochat, hadern mit ihrer abstumpfenden Liebe, ringen um Worte und gegenseitige Aufmerksamkeit. Sarah wird hinter verschlossenen Türen von ihrem Ehemann geschlagen und versucht, ihr Leid zum Beweis auf Video festzuhalten. Laura kämpft mit ihren Psychosen, verliert sich in schizophrenen Phasen – am Ende erhängt sie sich.

In einer Abfolge kurzer, sich teils überlappender Momentaufnahmen nehmen wir am Leben dieser Menschen teil, ohne sie wirklich kennenzulernen. Wer sind sie? Wie wurden sie zu dem, was sie jetzt sind? Das Format der Kurzoper kann diese Fragen naturgemäß nur sehr eingeschränkt beantworten. Dem Team der Kammeroper Salzburg gelingt es dennoch, die Gemütszustände einer neuen Realität in soghaften Klangkulissen zu transportieren. „Lass es endlich morgen sein …“, vernimmt man Laura inmitten ihres finalen psychischen Zusammenbruchs. Und da dieses „Morgen“ noch in weiter Ferne liegt, verlieren sich die Figuren in Lethargie und Hysterie, Schicksalsergebenheit und Hoffnungsschimmern. Trompete, Cello und Orgelcluster bereichern die elektronische Komponente von Safaris Werk um akzentuiert gesetzte Kontraste – digitale Klänge gehen mit sakralen Anleihen Hand in Hand. Ein junges, motiviertes Solistenensemble dringt tief in die Emotionen der Charaktere vor, verleiht ihnen Stimme. Und nicht zuletzt ermöglichen filmische Montagetechniken ästhetische Spielereien, die dem Format gut zu Gesicht stehen.

Ehrgeizige Pläne

Ein durchaus gelungenes Experiment also, auf das sich Safari, Paul und Hofer-Lenz da eingelassen haben. Und dennoch entsteht ein schaler Beigeschmack, wenn man sich mit der Öffentlichkeitsarbeit der Kammeroper Salzburg befasst. Von der Kreation eines „neuen Genres von Musiktheater“ ist dort zu lesen, sogar von der Eröffnung eines „neuen Kapitels der Operngeschichte“ die Rede. Überaus große Worte, die die Uraufführung ihrer „Digital Opera“ flankieren – zumal das zeitgenössische Musiktheater seit Jahrzehnten mit ebenso ambitionierten Projekten aufzuwarten weiß und im Dschungel des World Wide Web nicht gänzlich zuverlässig prüfbar ist, welche digitalen Opernangebote nicht vielleicht schon in der Vergangenheit verwirklicht wurden.

Nichtsdestotrotz darf man auf die weitere Entwicklung der Kammeroper Salzburg gespannt sein. Die Vorbereitungen zum Spielplan 2020/21 sind bereits in vollem Gange, der Sprung in klassische Theaterräume ebenso wie progressive Konzepte der Verschmelzung mit Technik, Medien und Digitalität geplant. Der programmatische Fokus soll auf selten gespielten Werken des 20. und 21. Jahrhunderts wie auch Uraufführungen liegen. „Wir wollen alle Fässer wieder aufmachen, alle Fragen nochmals stellen. Was macht Musiktheater für die Menschen interessant, die der Opernbetrieb der letzten Jahrzehnte vergessen hat?“, äußert sich der künstlerische Leiter Konstantin Paul zu den ehrgeizigen Plänen. Eine leichte Aufgabe haben sich er und seine Kollegen nicht gestellt. Zum Mut eines Neuanfangs mitten in der Krise kann man dem Team der Kammeroper Salzburg aber nur gratulieren. Die Zeit wird zeigen, ob „Tag 47“ als zeitgeistiges Symptom einzustufen sein wird – oder der „Digital Opera“ eine nachhaltige Zukunft beschieden ist.

Dieser Beitrag erschien ursprünglich in unserer „orpheus“-Ausgabe 04/2020 und erweckte auch das Interesse unseres crossmedialen Kooperationspartners RTS Salzburg. Diesbezüglich ein „Heimspiel“ für die Kammeroper Salzburg: Florian Maier beschäftigte sich im Mai 2020 mit dem digitalen Erstling „Tag 47“, Christoph Lindenbauer sah sich nun die aktuelle Uraufführung „Im Westen nichts Neues. Im Süden aber auch nicht.“ (Februar 2021) genauer an.

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28. Februar 2021

Eine bezaubernde Musikstunde

Camille Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ in neuer Filmfassung

Camille Saint-Saëns’ „Karneval der Tiere“ in neuer Filmfassung

Diese beiden Sichtweisen möchten wir Ihnen nicht vorenthalten: Unsere Kinderredakteurin Carla Bastuck und Dr. Wolf-Dieter Peter haben sich unabhängig voneinander den „Karneval der Tiere“ in der BR Mediathek angesehen – und kamen zu recht unterschiedlichen Einschätzungen …

„Der Karneval der Tiere“ ist ein berühmtes Werk des französischen Komponisten Camille Saint-Saëns, in dem verschiedene Tiere, angefangen vom Löwen über Hühner, Schildkröten, Esel, Elefant, Fische, Vögel bis hin zum Schwan musikalisch dargestellt werden. Dieses Stück wurde jetzt, wo es ja keine Konzerte gibt, von Musikern des Münchner Rundfunkorchesters in einem Studio aufgeführt. Den Film dieser Aufführung kann man sich auf der Website des Bayerischen Rundfunks ansehen.

Das Besondere an dieser Aufführung ist, dass ein Papiertheater mitwirkt und jedes einzelne Tierstück sozusagen auf der Bühne dieses Theaters erklärt wird. Dabei schneiden die Theaterspieler vor jedem Stück aus einem großen weißen Papierbogen Formen aus, die etwas mit dem jeweiligen Tier zu tun haben. Manchmal ist es die Form des Tieres selbst, manchmal aber auch eine Bühne, auf der sich Papiertiere bewegen. In vielen Stücken haben die Musiker die Tiere des jeweiligen Stücks auch in Papierform auf dem Kopf oder an ihrem Notenpult. Die meisten Erklärungen spricht die französische Dirigentin Marie Jacquot. Sie spricht sehr deutlich und mit einer vollen Stimme und einem lustigen französischen Akzent, so dass man ihr sehr gerne zuhört.

Diese Darstellung von Musikern mit Papiertheater ist sehr kunstvoll, und ich finde es auch gut, dass man dabei seine Fantasie anstrengen muss. Die ganze Vorführung ist aber auch sehr streng und mit der Zeit etwas eintönig. Für Kinder könnte die Darstellung fröhlicher und vor allem bunter sein, kurz: etwas mehr Pepp haben. Deshalb könnte es sein, dass Kinder nach einer Weile müde werden und das Interesse verlieren.

Ich würde diese Darstellung eher für Kinder ab vielleicht acht Jahren empfehlen, die schon viel über Musik wissen und auch selbst ein Instrument spielen – und die natürlich Tiere lieben. Mir hat besonders das Stück über die Schildkröten gefallen, weil ich in diesem Sommer eine Schildkröte bekommen werde.

Carla Bastuck, 11 Jahre

Dr. Wolf-Dieter Peter

Die Nachrichten sind voll von Problemen mit dem Digitalunterricht und überfordert abstürzenden Videosystemen. Doch es gibt auch animierend Funktionierendes. Denn der öffentlich-rechtliche Rundfunk hat nicht nur jahrzehntelange Erfahrung mit Telekollegs aller Art, er zeichnet ja seit Langem auf und überträgt schon immer. So zeigt die BR Mediathek ab jetzt eine neue, kurze „Musikstunde“ der besonderen Art.

Musikredakteurin Meret Forster und Hannah Gröschl vom Rundfunkorchester haben den Titel „Klassik zum Staunen“ fröhlich ernst genommen. So wurde zu den elf Musikern des Münchner Rundfunkorchesters auch das Nürnberger Papiertheater mit Uta Sailer und Johannes Volkmann eingeladen. Alle zusammen animierten Dirigentin Marie Jacquot, die erste Kapellmeisterin der Deutschen Oper am Rhein, an die Isar zu kommen und „mitzuspielen“. So taucht sie schon mit einer kleinen Papierkrone im weißen Papierleinwand-Ausschnitt auf und ihr „Frahnsösisch“-Akzent verzaubert gleich alles lehrreich Erklärende ins Amüsante: den Dirigierstab, die einzelnen Instrumente, dann mal Marsch, Galopp, Cancan und Tonleiter-Auf-und-Ab. Johannes Volkmann führt zwischen den einzelnen Tierauftritten die vielfältigen Reize des Papiertheaters vor. Da gibt es verschiedene Bühnenformate im wechselnden Ausschnitt aus einer weißen Fläche; da ergibt ein gefaltetes Papier schnipp-schnapp gleich drei Pferde, die zwar langsam sind im Vergleich mit Wanderfalken oder Gepard, aber im kleinen Orchester-Tutti doch losgaloppieren – ganz im Kontrast zur gelassenen Langsamkeit der Schildkröten. Die diskutieren dann darüber, ob Saint-Saëns die Melodie von Jacques Offenbachs Cancan „ausleihen“ und dessen Rasanz in „Lento“ verändern durfte, was die Musiker hörbar machen. Die Gangart des Kängurus führt ganz nebenbei zur Hör-Erklärung von „staccato“ neben „legato“. Zum klanglich exakten „I-Ah“ des „Esels“ tragen die Musiker auch alle papierne Eselsohren. Eine Überraschung bieten dann die nass gestrichenen Glasränder, die akustisch die eingeblendeten blauen Aquarell-Wirbel von Saint-Saëns „Aquarium“ beschwören – und kurze Einblicke in das seltene Instrument der „Glasharmonika“ bieten. Da wird auch noch kurz über Üben und Spielen gestritten und mit dem Stethoskop werden schwarze „Fossilien“-Flecken auf dem weißen Papier zum Klingen gebracht. Dann bezaubert die Cellistin Rabia Aydin mit dem Gleiten und Beinahe-Schweben des „Schwans“, ehe im Triller-Tutti-Taumel alles zum Finale zusammenfindet. Was, die vierzig Minuten sind schon um? Kompliment an alle und Filmautor Hans Hadulla – das ist die hoch amüsante, ein paar Mal zauberhafte, in jedem Fall kurzweiligste Musikstunde, die derzeit zu finden ist.

Dr. Wolf-Dieter Peter

INFOS ZUM FILM

Camille Saint-Saëns: „Der Karneval der Tiere“ (Suite für Kammerorchester)
Ani und Nia Sulkhanishvili, Klavier-Duo
Uta Sailer und Johannes Volkmann, Darsteller/Sprecher
Münchner Rundfunkorchester
Leitung: Marie Jacquot
Der Film ist in der BR Mediathek zeitlich unbegrenzt verfügbar.

28. Februar 2021

Aufruf zum Diskurs

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Paris / Opéra national de Paris (Februar 2021)
„Aida“ erinnert an die Kolonialgeschichte der Oper

Wir müssen reden. Darüber, wie man heute Opern umsetzt, deren Geschichten eine nicht-westliche Welt „verlangen“, deren Hauptcharaktere Menschen marginalisierter Gruppen „sein sollen“ und bei denen die hiesige Opernwelt versucht ist, in exotische Klischees zu stürzen. Wir müssen reden über „Carmen“, „Die Entführung aus dem Serail“, „Otello“ und „Aida“, denn sie alle haben gemein, dass wir besonders als weiße Personen nicht mehr unkommentiert über ihre Problemzonen hinwegsehen dürfen. Darüber, dass die Kunstform der Oper einst ein starkes Mittel war, „das Andere“ und „das Exotische“ zu entwerfen, um den Kolonialismus zu legitimieren. Wir müssen darüber reden, wie Blackfacing an mancher Stelle als Werktreue und nicht als rassistische Geste gelesen wird. Die „Aida“-Inszenierung von Regisseurin Lotte de Beer an der Opéra national de Paris trägt den Aufruf zum Diskurs über genau diese Themen in jeder Szene mit sich.

De Beers Prämisse, Aida nicht von einer weißen Sängerin spielen zu lassen, sondern sie mit einer Puppe zu doubeln, ist ein genialer Spiegel für die Problematiken von Verdis Oper. Dieses Vorgehen übersieht nicht, dass die Rolle eine Äthiopierin „sein soll“, vermeidet aber, eine weiße Sängerin wortwörtlich in „Aidas Haut“ zu stecken, die sie allerdings jederzeit wieder ablegen könnte (eines der großen Probleme des Blackfacings). Damit die Gestalt der Puppe nicht exotischen Stereotypen zum Opfer fällt, wurde die simbabwische Künstlerin Virginia Chihota, wohnhaft in Äthiopien, beauftragt, die Vorlage zu der Puppe von Aida zu gestalten. Zusätzlich erscheint ihre düsterbunte Kunst, die sich mit dem marginalisierten schwarzen weiblichen Körper beschäftigt, immer wieder prominent auf der Bühne von Christof Hetzer.

Konzeptuell ist die Pariser „Aida“ eine werkkritische und damit sehr starke Inszenierung; leider ist ihre Umsetzung nicht lupenrein. Das Puppenspiel macht Probleme, denn immer wieder rutscht der Fokus von der Aida-Puppe zurück auf ihre Sängerin. Das Spiel von Sondra Radvanovsky, die immer wieder mit der Puppe interagiert, anstatt sich in den Hintergrund einzublenden, ist nicht sehr dienlich dafür, de Beers Prämisse zu schärfen. Dagegen steht allerdings der starke Mittelteil der Inszenierung mit dem gesanglichen Höhepunkt im Duett von Aida und ihrem Vater (Ludovic Tézier) und dem Triumphmarsch, bei dem die Statisterie berühmte Gemälde imperialer Macht nachstellt, was interessante und kritische Gedanken zum Spannungsfeld von Kunst und Imperialismus birgt.

Während in dem Bühnenmuseum mit düstergrünen Räumen die Kunst des Kolonialismus und die des Nationalstolzes aufeinanderprallen und das steinige Material der Puppen (Mervyn Millar) mit den strengen Uniformen der Ägypter schmackhaft konterkarieren (Kostüme: Jorine van Beek), ist der Abend auch musikalisch ziemlich voluminös. Jonas Kaufmann feuert seinen Radamès mit altvertrauter Kehligkeit in dramatische Höhen, Sondra Radvanovsky interpretiert die extremen Spitzen der Aida mit dünner Kopfstimme (was theatralisch, aber wirklich gut wirkt) und Ksenia Dudnikovas Amneris strahlt golden. Im leeren Theater beklatscht das Orchester sich selbst und ihren Dirigenten Michele Mariotti – nicht einmal geraten ihm der Graben und die Bühne musikalisch auseinander. Gemeinsam polieren sie den Abend auf den klassischen „Aida“-Hochglanz.

Maike Graf

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Die Inszenierung ist als Stream bis 20. August 2021 kostenfrei über die Website des Theaters verfügbar.

28. Februar 2021

Klassischer Verdi auf den Kanaren

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (Februar 2021)
„Il trovatore“ bei den Amigos Canarios de la Ópera

Las Palmas de Gran Canaria / Ópera Las Palmas (Februar 2021)
„Il trovatore“ bei den Amigos Canarios de la Ópera

Trotz eines angesichts sinkender Inzidenzen mittlerweile gelockerten mediterran-sanften Lockdowns gönnen sich die Amigos Canarios de la Ópera von Februar bis Juni ein ansehnliches Programm ihrer 54. Opernsaison von Gran Canaria mit Eigenproduktionen von Verdis „Il trovatore“, Cileas „Adriana Lecouvreur“, Rossinis „La Cenerentola“, Mascagnis „Cavalleria rusticana“ und Verdis „Macbeth“. In höchster Disziplin stellt sich das Publikum mit seinen infektionsfrei elektronisch gekauften Karten in Reih’ und Glied vor dem mondänen Auditorio Alfredo Kraus am Strand von Las Palmas an und lässt mit stoischer Ruhe die Temperatur-Messung über sich ergehen. Vor dem Haus „wacht“ eine Riesenstatue aus Bronze von Alfredo Kraus mit Blick aufs weite rauschende Meer über das Geschehen. Obwohl es auf der Insel ein wunderschönes Opernhaus gibt, das Teatro Pérez Galdós, wählte man das Auditorio, um mehr Zuschauer in der Corona-Krise unterbringen zu können – insgesamt etwa 650. Ähnlich wie im Teatro Real in Madrid hat man das Orchester auseinandergezogen, mit Nebenpodesten links und rechts für Harfe, Schlagwerk und einige andere Instrumente. Die Akustik im Saal war gleichwohl gut.

Carlo Antonio de Lucia inszenierte diesen „Trovatore“ in klassisch traditioneller Ästhetik mit ebensolchen Kostümen von Claudio Martín. Carlos Santos schuf ein einfaches, den Gegebenheiten des Auditoriums entsprechendes statisches Bühnenbild aus dreifach abfallenden Mauern zu beiden Seiten der Szene. Der eigentliche inszenatorische und damit gestalterische Effekt ergab sich durch das fantasievolle und stets zur jeweiligen Szene und Stimmung passende Videodesign von Graffmapping auf diesen Mauern und dem Szenenhintergrund, sowie aus der bestens abgestimmten Beleuchtung von Iban Negrín. Die stehenden Videos waren in der Tat oft sehr eindrucksvoll und wurden in zentralen Momenten auch bewegt, um die Intensität der Szene zu erhöhen – so bei den lodernden Flammen zu Manricos Stretta. Eine Personenregie gab es jedoch kaum, allenfalls eine stereotype. Die Sänger traten zu ihren jeweiligen Nummern noch nummernartiger auf und ab als sonst, und allzu oft kam es auch noch zu eigentlich unnötigem Rampensingen.

Arturo Chacón-Cruz, weithin bekannter mexikanischer Tenor, sang den Troubadour zunächst noch mit leichten Aufwärmschwierigkeiten, lief im weiteren Verlauf aber sowohl stimmlich wie darstellerisch zu starker und souveräner Form bei hoher Musikalität auf. So forderte das generell sehr beurteilungssichere Publikum eine Wiederholung der Stretta – er sang sie mit starkem und lang angehaltenem C – und bekam sie auch! Seit ihrem Auftritt als Odabella in „Attila“ bei der Saisoneröffnung der Mailänder Scala 2018 ist Saioa Hernández kein unbeschriebenes Blatt mehr. Mit einem leuchtenden, kraftvoll vorgetragenen Sopran meisterte sie fast alle Klippen der Leonora, abgesehen von einem Spitzenton in der ersten Arie „Tacea la notte placida“. Am schönsten und emotionalsten gelang ihr die Arie „D’amor sull’ali rosee“ zu Beginn des vierten Akts. Der italienische Bariton Massimo Cavalletti sang den Grafen Luna mit warm timbriertem Ausdruck und guter szenischer Präsenz. Erstklassig war aber die stimmliche Leistung der Mezzosopranistin Nancy Fabiola Herrera, die alle nur denkbaren vokalen und darstellerischen Dimensionen der Azucena eindrucksvoll ausleuchtete. Eine Weltklasse-Leistung, die auch mit dem größten Applaus bedacht wurde. Die weiteren Rollen waren ebenso gut besetzt, wie der von Olga Santana einstudierte Chor sang. Jordi Bernàcer dirigierte das Orquesta Filarmónica de Gran Canaria mit sicherer Verdi-Hand.

Klaus Billand

„Il trovatore“ („Der Troubadour“) (1853) // Dramma lirico von Giuseppe Verdi

25. Februar 2021

Next Level Regietheater

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Dijon / Opéra de Dijon (Februar 2021)
Luigi Rossis 380 Jahre vergessene Oper „Il palazzo incantato“ erwacht in aktualisierter Aufmachung zu neuem Leben

Luigi Rossi wiederzuentdecken, ist ja gerade der Trendsport in der Klassikszene. Erst kürzlich hat Christina Pluhar mit ihrem Ensemble L’Arpeggiata und in ziemlich prominenter Besetzung zahlreiche Rossi-Arien und -Duette ersteingespielt. Während sie sich noch penibel in historischer Aufführungspraxis versenkte, setzt die Opéra de Dijon lieber auf absolute Modernisierung. Die Oper „Il palazzo incantato“, 1642 im Barberini-Auftrag und in außergewöhnlich großer Besetzung komponiert, erhält nun die wohl größte Bühne derzeit: Die Plattform OperaVision streamt die publikumslose Aufführung für zwei Monate. Die Partitur soll dafür radikal reduziert worden sein (Leonardo García Alarcón), die Szene wiederum maximal erweitert (Fabrice Murgia), sei es durch moderne Charaktere, Kostüme, die aus den Läden von heute geklaubt sein könnten (Clara Peluffo Valentini), und natürlich: viel Hightech-Videoprojektion.

Das Schloss des Magiers Atlante hat die Kraft, allen seinen Besuchern den Kopf zu verdrehen, und er nutzt das, um diese Menschen seiner Macht zu unterwerfen. So simpel, so gut. Aber die Handlung mit ihren 33 Charakteren, die wiederum Kostüme wechseln, dann aber doch zeitweise von den gleichen Sängerinnen und Sängern verkörpert werden und in zahlreichen Räumen sowie Welten und szenischen Randepisoden auftreten, ist derartig schwer zu verstehen, dass die Rezensentin schlussendlich resümiert: Es geht gar nicht um die Handlung. Es muss um die Emotionen gehen. Und die transportiert diese Inszenierung wiederum absolut nachvollziehbar. Unbändige Liebe, absoluter Wahnsinn, tiefste Verzweiflung und düstere Depression werden von Videokameras eingefangen, die auf der unteren Bühnenhälfte herumgetragen werden und Close-ups auf die Leinwand darüber übertragen (was ziemlich genauso aussieht wie bei Tobias Kratzers „Tannhäuser“ in Bayreuth). Das passiert hier mit derart kinematographischem und bildästhetischem Bewusstsein, dass man zeitweise vergisst, eine Oper und nicht eine Serie zu streamen. So zumindest im ersten Akt. Später gibt es noch dunkelstes, Verlies-artiges und grellstes himmlisch-magisches Bühnenbild (Vincent Lemaire). Dieses außergewöhnlich intensive Regietheater ist schon sehr beeindruckend.

Aus den Stimmen des Ensembles erleben wir, wie unterschiedlich brennende Herzen klingen können. Auch wenn wirklich der Großteil der Besetzung mit der barocken Klangsprache umgeht, als hätten sie nie etwas anderes gesungen (besonders eindrucksvoll Mariana Flores u.a. als Magique und Arianna Vendittelli, die ihre Koloraturen mal eben im Liegen meistert!), ist gerade die Addition von italienischem Pathos und moderner Exklamation bereichernd (sehr genossen bei Victor Sicard). Den ganzen Abend überstrahlt allerdings Mark Milhofer mit seiner Interpretation des Atlante. Seine Partie ist schon kompositorisch herrlich, aber er gestaltet sie auch noch mit kilometerweitem tonalen wie emotionalen Ambitus und einer Stimme, die in keiner Lage ihre Reichhaltigkeit verliert. Man kommt wohl in Dijons „Verzauberten Palast“, weil die Inszenierung einem die Abbildung des wirklich echten Lebens verspricht. Aber man bleibt für die Momente der Musik, in denen Rossis Händchen für Mehrstimmigkeit glänzt – poliert von Dirigent Alarcón, der seine Cappella Mediterranea und die Bühne absolut exakt zusammenhält.

Maike Graf

„Il palazzo incantato“ („Der verzauberte Palast“) (1642) // Azione in musica von Luigi Rossi

Die Inszenierung ist als Stream bis zum 29. März 2021 kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

23. Februar 2021

Im trostlosen, brutalen Grenzgebiet

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Wien / Wiener Staatsoper (Februar 2021)
Herausragendes „Carmen“-Ensemble überzeugt restlos

Die fünfte Premiere der Wiener Staatsoper in dieser Saison zeigt Calixto Bieitos Inszenierung aus dem Jahr 1999, ursprünglich in San Francisco und Boston herausgebracht und nach 29 Theateraufführungen nun auch für Wien einstudiert. Der Regisseur will die menschlichen Begrenzungen in unseren Köpfen zeigen und führt uns zur spanischen Exklave Ceuta an die Grenze zwischen Marokko und der Iberischen Halbinsel mit viel aggressivem Realitätssinn und Perspektivlosigkeit. Das Bühnenbild von Alfons Flores zeichnet sich durch Leere und Düsternis aus. Im ersten Akt ist nur eine Telefonzelle zu sehen (aus der Carmen die „Habanera“ singt – mit wem sie telefoniert, bleibt ein Rätsel), ebenso eine Fahnenstange, an der eine Frau von der bestialischen Soldatenmeute malträtiert und aufgehängt wird. Danach befinden wir uns nicht in der Schenke von Lillas Pastia, sondern fünf ausrangierte Mercedes aus dritter oder vierter Hand dienen als einzige Requisiten. Auf ihnen wird ordinär und betrunken getanzt und hinter einem Auto wird erzwungener Oral-Sex dargestellt; außerdem zieren Campingsessel und ein Christbaum (?) das Bild des zweiten Aktes. Ein Mädchen (die Carmen der Zukunft oder vielleicht Mercédès’ Tochter?) spielt mit einer Barbie-Puppe am Souffleurkasten. Ein übergroßer Stier an der Rückwand thront im dritten Akt an der Rückwand und dominiert die leere Bühne. Und im Schlussakt sehen wir eine Bikini-Schönheit, die sich auf einem „Spanien-Badetuch“ eincremt – auf die Erklärung dazu wartet man noch?! Die Kostüme von Mercè Paloma wirken wie elende Hausfrauen-Kleider der siebziger Jahre und sollen wohl die Armut der Roma und Schmuggler darstellen. Praktisch alle Männer zeichnen sich durch Brutalität gegenüber den weiblichen Figuren aus – offensichtlich wollte der spanische Regisseur zeigen, welche Behandlung Frauen (als Vorbild dienten seine Großmütter) gewöhnt sind und wie ihr Leben in der Realität aussieht/aussah. Wer klassische Ästhetik und schöne, warme Farben liebt, wird der Zeffirelli-Inszenierung von 1978 nach 164 Vorstellungen nachweinen.

Als phänomenale Carmen erlebt man Anita Rachvelishvili mit großer Stimme und herrlichem Timbre – erstmals in dieser Rolle in Wien. Ihre ausdrucksstarke, intensive Darstellung einer Vollblutfrau, die ihren Körper bewusst einsetzt und die leidenschaftlich wie ein eruptierender Vulkan ist, zeichnet eine kraftvolle Studie der freiheitsliebenden Romni. Nach seinem Rollendebüt 2018 an der Wiener Staatsoper ist Piotr Beczała erst das zweite Mal in der Rolle des eifersüchtigen Brigadiers Don José zu erleben. Große Phrasierungskunst, samtiges Belcanto-Timbre und bombensichere Höhe gelingen dem Polen mühelos. Besonders das leidenschaftliche Liebesgeständnis der Blumenarie bleibt dauerhaft in Erinnerung. Als Hausdebütantin stellt sich Ensemblemitglied Vera-Lotte Boecker als Einspringerin vor. Ihre Micaëla ist kein blasses, unschuldiges Dorfmädchen, sondern eine rauchende Frau, die auch mit erotischen Attacken zu überzeugen versucht. Die Koloraturen erklingen lupenrein, nur zeitweise mischt sich unerwünschte Schärfe in die Stimme der Deutschen. Erwin Schrott präsentiert sich in Eleganz, Höhe und Tiefe gewohnt souverän und ist ein Bilderbuch-Escamillo. Auch Peter Kellner (Zuniga), Szilvia Vörös (Mercédès) und Slávka Zámečníková (Frasquita) aus dem Ensemble bieten starke Leistungen. Erstmals am Pult im Haus am Ring, darf Andrés Orozco-Estrada für Leidenschaft, Leichtigkeit und Emotionen sorgen.

Susanne Lukas

„Carmen“ (1875) // Opéra comique von Georges Bizet