Was ist schon normal? Scheinbar alles oder nichts in dem gut zehn Jahre jungen Musical „Next to Normal“, dem Außenseiter, der die Karten des Genres neu aufmischt. Im Osten Europas, in der rumänischen Hauptstadt Bukarest, wo noch „Glam-Musicals“ die Hallen füllen, hat sich das junge Schauspieler/Sänger-Duo Victor Bucur und Daniel Burcea des psychisch durchwobenen Stücks von Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) und Tom Kitt (Musik) um eine bipolar erkrankte Mutter und ihren Einfluss auf die gesamte Familie angenommen. New York war zutiefst gerührt, in Deutschland gab es Applaus ohne Ende und jetzt hat sich die Operetă National Bukarest an das heikle Thema gewagt.

Rockige, soulige Songs und geschickte Chorus-Passagen bis zu herzzerreißenden Balladen dringen in rumänischer Sprache besonders tief in die Emotionsebene der Zuschauer, ohne stetig melodramatisch sein zu wollen. Die scheinbar normale Familie wird ordentlich durchgeschüttelt und hält die Zuschauer in Atem. Als wichtiges Stück des 21. Jahrhunderts wurde „Next to Normal“ 2010 mit dem renommierten Pulitzerpreis für Drama geadelt, eine Sensation für das Genre Musical. Es will kein Schauspiel sein und zeichnet sich dadurch aus, dass es alle Voraussetzungen für ein Musical erfüllt, fast gänzlich durchkomponiert ist, zudem rasant, mit manch harten Schnitten und ungewohnt wohltuend ohne ständige Ovationen nach jeder Gesangsnummer. Hinzu kommt die intensive Auseinandersetzung mit einer psychischen Krankheit, dramaturgisch von Victor Bucur reif für unsere Zeit gemacht.

Anca Florescu, eine bekannte Darstellerin der großen Theater des Landes, spielt und singt die Rolle der Mutter Diana Goodman, die von absoluten Könnern gefasst werden muss. Sie spielt vor allem deren bipolare Depressionen in tiefer melancholischer Überzeugung bis ins Letzte aus. Denn Sohn Gabe (Lucian Ionescu) starb den Kindstod, ein Geheimnis, das er im Laufe der Vorstellung gekonnt lüftet. Er hilft der Mutter mit den Seelenschmerzen umzugehen. Musicalstar Adrian Nour („Phantom der Oper“, „Romeo und Julia“) offenbart in der Rolle des Vaters Dan Goodman, was er kann, überzeugt glaubwürdig und tief auf dem Weg zwischen dem Bekümmern um die kranke Ehefrau und der Suche nach einem eigenen Glück in wahrscheinlich einer seiner besten Rollen. Die benachteiligte Tochter Natalie (Sidonia Doica) sucht im Drogenrausch ihre Betäubung, findet Halt im pragmatischen Freund Henry (Andrei Miercure, der jüngst im Musical „Guten Abend, Mr. Wilde“ gefeiert wurde), auch wenn der das Leben für eine Katastrophe hält. Ihr Kuss versöhnt nicht nur die beiden, er erobert restlos das Publikum. „Normale“ Schocktherapie als Erinnerungsbewältigung empfehlen die Ärzte. Hier macht die wandlungsfähige Stimme des rumänischen Opernsänger Cătălin Petrescu die Diversität der Rolle des Doctor Madden zu einem Klangerlebnis.

Sichtbar platzierte der Bühnenbildner Cristi Marin die Band gleichberechtigt neben den Schauplatz des Geschehens, denn diese erst – unter dem mehrfach ausgezeichneten Pianisten Alexandru Mihai Burcă – gibt dem Ganzen die vibrierende Live-Atmosphäre. Auch wenn sich der Vorhang Anfang Juli zur Sommerpause schließt: In der kommenden Spielzeit wird sich der Nebel der psychotischen Normalität ein weiteres Mal über die Operetă National legen.

Dieter Topp

„Next to Normal“ // Musical von Tom Kitt (Musik) und Brian Yorkey (Buch und Gesangstexte)

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