Sie tanzen und feiern, aber die Euphorie der Jesus-Gemeinschaft ist nur von kurzer Dauer. Ein lebhaft glühender Optimismus springt nach Jesus’ brutaler Kreuzigung dessen Hinterbliebenen erst recht aus den Augen, vor allem seiner Mutter Maria. Während des Gangs des „Königs der Juden“ zum Richtplatz – das schwere Kreuz auf seinem gekrümmten Rücken – deklamiert Maria das im „Evangelium nach Lukas“ vor Jesus’ Geburt stehende Magnificat. Das ist eine der spannenden wie dramatisch sinnfälligen Freiheiten.

Für jeden Spielzyklus der alle sechs Jahre stattfindenden und 1613 erstmals erwähnten Passionsspiele Erl entsteht eine neue Fassung, dieses Jahr von Martin Leutgeb und dem Komponisten Christian Kolonovits. Rund 650 Einwohnerinnen und Einwohner der Tiroler Gemeinde agieren auf der Bühne im 1963 eröffneten Passionsspielhaus.

Den riesigen Chor, auch das hinter den von Neonleisten umrandeten, variabel schwebenden Projektionsflächen sitzende Orchester unter der musikalischen Leitung von Anton Pfisterer und die vielen stummen Mitwirkenden versteht Kolonovits ebenso in begeisterten Bann zu schlagen wie das Publikum. Martin Leutgebs maßvolle Aktualisierung erweist sich als gelungen und verständlich auch für weniger bibelfestes Publikum. Die Positionen der dogmatischen Splittergruppen von Leviten, Sadduzäern und Pharisäern arbeitet er deutlich heraus. Unaufdringlich spiegeln sich in den dargestellten Politikern Judäas, dem römischen Statthalter Pilatus, den opponierenden Kindern und der bis zur Gefangennahme Jesus’ mit sonnigem Gemüt auftretenden Jüngerschaft die gegenwärtigen Tendenzen von Polarisierung und gewaltbereiter Erbosung. Dadurch wird die Erler Passion durchaus moralische Anstalt und Spiegel der Welt.

Auch in der ersten Wiederholung und damit zur Premiere des zweiten Besetzungsteams vollziehen sich die letzten Tage Jesus’ im Betonportal des Passionsspielhauses und auf den über 40 Stufen von Hartmut Schörghofers imposanter weißer Treppe mit genderkorrekter Stringenz, Jung’schen Archetypen und Kolonovits’ das Spiel fast pausenlos begleitender Musik. Juliane Herold gestaltet dazu farbklare Stoffwürfe aus intrigantem Gelb für den Hohen Rat, Sandfarben für die Jesus-Anhänger und Taubenblau für die römischen Legionäre.

Maria Magdalena ermöglicht der kurzlebigen Sozialgemeinschaft um Jesus mit dem Ideal von asexueller Polyamorie die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Auch in Erl gerät die Massenszene mit Jesus’ Auspeitschung zum Volkszorn von orgiastischer Wildheit. Die Kreuzigung danach ereignet sich dagegen mit einer Diskretion, die drastische Brutalität meidet. Das Orchester schweigt zum schwarzhumorigen Eklat der offenen Ehe von Herodes und Herodias mit aus Abgründen schwelenden Lastern, Lüsten und Wunden. Es ist auch die höchst energetische Kraft von Pathos, Anspruch, Effekt und Zugänglichkeit, welche im Passionsspieljahr 2025 erfreulich gut aufgeht. Die Schnittstelle von Spiritualität, Spannung und philosophischem Totaltheater erweist sich als bild- und sprachmächtiges Ereignis von moralischer Nachhaltigkeit.

Roland H. Dippel

„Der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (2025) // mit Musik von Christian Kolonovits

Infos und Termine auf der Website der Passionsspiele Erl