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29. August 2025

„Ich muss nichts mehr beweisen“

Im Gespräch mit Barbara Hannigan

Im Gespräch mit Barbara Hannigan

Ihr Markenzeichen: die Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin. Das Stück: die Monooper La voix humaine von ­Francis Poulenc, mit der sie seit über zehn Jahren auf der ganzen Welt für Furore sorgt, zuletzt in Erl. Wir sprachen mit der kanadischen Sängerin und Multikünstlerin – über neue Herausforderungen, spontane Entscheidungen und die Kunst, den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden

Interview Simon Chlosta

In diesem Jahr sind Sie mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet worden, einem der wichtigsten Preise für klassische Musiker. Einerseits sicher eine große Ehre, andererseits klingen solche Preise immer auch ein bisschen nach „Lebenswerk“. An welchem Punkt Ihres Lebens oder ihrer Karriere sehen Sie sich ­aktuell?
Ich hatte zunächst denselben Gedanken, als ich davon erfuhr: Ist das jetzt schon ein Preis für mein Lebenswerk? Ich habe doch noch 30 Jahre vor mir, warum geben sie ihn mir jetzt? Aber dann haben mich die Organisatoren beruhigt und gesagt, auch wenn der Preis oft erst an Menschen am Ende ihrer Karriere vergeben wird, steht er einfach für das, was ich bisher erreicht habe. Und da sind ja so viele Aspekte: das Singen, das Dirigieren, meine Arbeit als Mentorin. Ich habe auf jeden Fall noch viel zu tun und viele Ideen!

Welche zum Beispiel?
Es gibt zum Beispiel eine ganze Reihe von Komponistinnen und Komponisten, mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. Und dann werde ich ja ab der Saison 2026 auch Chefdirigentin beim Island Symphony ­Orchestra. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, denn obwohl ich jetzt schon zehn Jahre Erste Gastdirigentin in Göteborg und neuerdings auch in Lausanne bin und außerdem eng mit Orchestern in London, ­München und Kopenhagen zusammenarbeite, war ich bislang noch nirgendwo Künstlerische Leiterin. Das ist etwas ganz anderes und eine große Verantwortung für mich, die ich gerne annehme, um zu sehen, wohin sie mich führt.

Haben Sie denn schon konkrete Pläne mit ihrem neuen Orchester?
O Gott, ja, jede Menge Pläne. Viel zu viele! Ich war letztes Jahr schon dreimal dort und habe viel mit ihnen telefoniert, um das künftige Programm zu planen. Die erste Saison ist jetzt im Grunde genommen fertig, wir müssen nur noch die Programme für die Gastdirigenten und -künstler festlegen. Das ist sehr viel Detailarbeit, da muss man einfach immer am Ball bleiben, man kann das nicht einfach delegieren. Aber ich bin da sehr engagiert. Ich arbeite parallel auch schon an meiner zweiten Saison und überlege mir, wie ich unsere Präsenz in Island und auf internationaler Ebene gestalten möchte.

Ist es eigentlich manchmal nervig, so weit im Voraus zu planen? Sie müssen ja heute schon wissen, worauf Sie in zwei oder drei Jahren Lust haben und was Sie singen oder dirigieren wollen? Wäre man da nicht manchmal gern etwas spontaner?
Stimmt schon, wir planen sehr weit im Voraus, was manchmal frustrierend sein kann. Andererseits habe ich es geschafft, auch innerhalb dieser langfristigen Strukturen Raum für Spontaneität zu schaffen. Ich kann also immer noch Programme ändern, Dinge hinzufügen und meine Kollegen anrufen und sagen: „Hey, lasst uns dies oder jenes machen.“ Ich schätze mich daher sehr glücklich.

„La voix humaine“ – Neuproduktion von Claus Guth bei den Tiroler Festspielen Erl 2025 (Foto Monika Rittershaus)

Um noch einmal kurz zurückzublicken: In der vergangenen Saison haben Sie gleich mehrfach „La voix humaine“ von Francis Poulenc aufgeführt, zuletzt bei den Tiroler Festspielen in Erl. Diese Monooper, in der sich eine Frau am Telefon von ihrem Geliebten trennt, begleitet Sie schon sehr lange, auch in der nächsten Saison steht sie wieder in ihrem Kalender. Was ist so besonders an diesem Werk, dass Sie es immer wieder aufführen?
Ja, ich singe diese Partie jetzt schon seit mehr als zehn Jahren. Die Handlung ist schnell erzählt, aber der Kern des Stückes ist natürlich ein anderer. Es geht es um Liebe und Verlust, um Isolation und die Angst, allein zu sein. Der Text von Jean Cocteau, den Poulenc vertont hat, ist einfach unglaublich, weil er einem so viel Dramaturgie bietet, mit der man sich auseinandersetzen kann – und weil die Figur ständig darüber spricht, was wahr ist und was eine Lüge. Neulich hat mir jemand nach einer Aufführung gesagt: „Eine Lüge ist sehr einfach, und die Wahrheit ist unglaublich komplex.“ Und ich dachte: „Oh, das ist ein wirklich guter Satz, denn so ist der Mensch irgendwie.“ Und so darf man auch nicht alles, was die Frau sagt, für wahr halten. Das macht es so interessant.

Sie haben das Stück auch schon selbst dirigiert und dabei gleichzeitig den Part der Frau gesungen, umgeben von Videoleinwänden, auf denen Sie selbst zu sehen sind …
Ja, das ist die Version, die ich am häufigsten aufführe, weil sie sehr gefragt ist. Allein in der nächsten Saison werde ich sie in New York, Prag, Istanbul und in der Scala in Mailand aufführen, immer mit verschiedenen Orchestern. Es ist wirklich eine besondere Version, weil sie das Stück auf eine andere Ebene hebt. Und bisher gab es auch noch nie etwas Vergleichbares, bei dem die Dirigentin die gesamte Oper singt und über drei im Orchester platzierte Videokameras mit den Live-Bildern interagiert. Die Umsetzung war 2021 eine große Herausforderung, aber auch sehr spannend – und sie ist bis heute eine kraftvolle und emotionale Art der Darbietung geblieben.

Klingt nach einem perfekten Barbara-Hannigan-Stück! Haben Sie manchmal das Gefühl, dass ein Werk, auch wenn es schon etwas älter ist, so gut zu Ihnen passt, als wäre es gerade erst für Sie geschrieben worden?
Eigentlich fühlt sich jedes Stück, das ich aufführe, für mich wirklich neu an, auch wenn es von Berlioz oder Beethoven ist. Der Grund dafür ist, dass ich immer von der Partitur ausgehe und mich nicht nach bestimmten Aufführungstraditionen richte, die durch andere Interpreten bekannt geworden sind, ganz gleich, ob es sich um eine Uraufführung oder um ein Barockstück handelt. Ich habe schon mit so vielen Komponisten zusammengearbeitet, und auch sie lenken mich immer wieder zurück zur Partitur und nicht etwa zu der Art und Weise, wie es der letzte Sänger oder Dirigent möglicherweise interpretiert hat. Niemand sagt mir, dass ich es so singen soll, wie es jemand anderes getan hat oder wie es auf dieser oder jener Aufnahme zu hören ist. Die Komponisten halten sich an ihre Partitur, also tue ich das auch.

Kommen wir noch einmal auf Ihre Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin zu sprechen. Hat sich da in den vergangenen Jahren etwas geändert in Bezug auf das Verhältnis oder der Balance zwischen diesen beiden Professionen?
Als ich mit dem Dirigieren anfing, hatte ich eine Vollzeitkarriere als Sängerin, da blieb also nicht viel Zeit dafür. Dann wurde es irgendwann 50/50, und schon bald waren es eher 75 Prozent Dirigieren und 25 Prozent Singen. Ich habe mich dann sehr bemüht, nicht auch bei jedem Dirigierprogramm zu singen, teils, um meine Stimme zu schonen, teils weil ich nicht immer nur die singende Dirigentin sein wollte. Im letzten Jahr ging es nun wieder mehr in Richtung Singen, und mir wurde auch klar, dass jetzt alle wissen, dass ich beides kann und ich nichts mehr beweisen muss. Jetzt ist es wieder einigermaßen ausgeglichen und das finde ich großartig. In der kommenden Saison habe ich auch wieder viel Gesang im Programm, darunter eine große Tournee mit meinem Klavierpartner Bertrand Chamayou, aber auch, wenn ich mit Orchestern auftrete. Es gab bestimmte Stücke, die ich unbedingt aufführen wollte, also habe ich die Orchester einfach angerufen und gesagt: „Wir müssen das Programm ändern.“ So viel zum Thema Spontaneität: Es geht also, wenn man will!

Im Concertgebouw Amsterdam, 2017 (Foto Marco Borggreve)

Könnten Sie sich auch vorstellen, irgendwann nur noch zu dirigieren? Immerhin werden Dirigenten ja oft sehr alt, während die Bühnenkarriere einer Sängerin begrenzt ist.
Wenn ich das vor zwei Jahren gefragt worden wäre, hätte ich gesagt: „O ja, auf jeden Fall werde ich irgendwann mit dem Singen aufhören.“ Jetzt habe ich sehr gemischte Gefühle dabei, weil ich denke, dass die Entscheidung, dass eine Stimme nicht mehr hörenswert ist, eine sehr große Entscheidung ist – sowohl für das Publikum als auch für die Person selbst. Und schauen wir uns Sängerinnen wie Joni Mitchell an, die immer noch singt, obwohl sie sogar einen Schlaganfall hatte. Sie hat ihre Stimme durch das Singen zurückgewonnen, wenn auch nicht mehr das ganze Register, aber die Leute wollen sie hören. Natürlich kann ich in zehn Jahren wahrscheinlich keine Lulu mehr singen, aber bestimmt wird es etwas anderes für mich geben. Ich denke also, wenn ich singen will, sollte ich singen.

Neben Ihrer Arbeit als Sängerin und Dirigentin sind Sie auch als Lehrerin und Mentorin sehr aktiv. Sie geben Meisterkurse und haben sogar Ihr eigenes Förder-Programm „Equilibrium“, mit dem Sie junge Musikerinnen und Musiker auf eine Solistenkarriere vorbereiten. Außerdem kehren Sie als „Juilliard Creative Associate“ an die Juilliard School in New York zurück. Was genau werden dort Ihre Aufgaben sein? Gibt es den einen speziellen Tipp, den Sie all Ihren Studenten mitgeben?
Ich denke, das Wichtigste ist wirklich, sich selbst treu zu bleiben. Aber das muss eine bewusste Authentizität sein, es geht nicht um Narzissmus oder um „Ich, ich, ich“. Es geht eher um die innere Wahrheit, und das zeigt sich in der Art und Weise, wie wir mit der Musik umgehen, wie wir unseren Körper als Instrument einsetzen, wie wir eine physische Verbindung zur Musik aufbauen. Ich übe mit den Musikern zum Beispiel immer die Atmung, nicht nur mit Sängern, auch mit den Orchestern rede ich viel darüber. Ja, Atmung ist für jeden Musiker wichtig.

Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, zu komponieren? Immerhin haben Sie in diesem Jahr ein Werk für das Verbier Festival mit dem Titel „At the Fair“ arrangiert.
Ja, das war zwar ein Arrangement, es gab aber auch komponierte Teile darin. Vor langer Zeit habe ich sogar mal Kompositionsunterricht gehabt, allerdings nicht mit dem Ziel, Komponistin zu werden. In der Highschool habe ich dann eher aus pragmatischen Gründen gelernt, wie man Arrangements erstellt, weil wir Stücke aufführen wollten, für die wir weder die finanziellen Mittel hatten noch die Rechte an bestehenden Arrangements erwerben konnten. Ich war damals etwa 17 Jahre alt, und jetzt ist es ein bisschen so, als würde ich dorthin zurückkehren. Es macht mir Spaß, also mal sehen, was kommt!

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2025

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30. Juni 2025

„Die Nähe des Todes hat viel mit Oper zu tun“

In Chemnitz wird der DDR-Kultroman „Rummelplatz“ zur Oper

In Chemnitz wird der DDR-Kultroman „Rummelplatz“ zur Oper

Im Gespräch mit der international gefeierten Schriftststellerin und Opern­librettistin Jenny ­Erpenbeck versucht Antje Rößler eine Annäherung an ein ungewöhnliches Regionalprojekt – drei Monate vor der Premiere

Ihr Image als graue Industriestadt im Osten bekommt Chemnitz nicht los, dabei hat der sächsische Ort jede Menge zu bieten. Vor allem in diesem Jahr, wo man als eine der Kulturhauptstädte Europas 2025 angetreten ist, kulturelle Vielfalt und Kreativität zu feiern.

Eines der vielbeachteten Hauptprojekte mit Uraufführung am 20. September: die Vertonung des legendären DDR-Romans „Rummelplatz“, einem drastisch-realistischen Erlebnisbericht des 1934 in Chemnitz geborenen Schriftstellers Werner Bräunig. Ein Roman, der in der DDR nicht erscheinen durfte und erst aus dem Nachlass des Autors 2007 herausgegeben wurde. Schauplatz: die Wismut AG im Erzgebirge, in der von der Sowjetunion Uran für die Atomindustrie abgebaut wurde. Bräunig positioniert sie als Metapher für die Lage in der jungen Republik, wo Alt-Kommunisten und KZ-Überlebende auf Ex-Faschisten treffen und die jüngere Generation vor ­allem materielle Interessen verfolgt, während die Macht der Parteibonzen zunimmt. Schließlich entladen sich die Widersprüche im Aufstand des 17. Juni 1953. Den musikalischen Part übernimmt der Hamburger Komponist Ludger Vollmer, der sich mit Opernadaptionen zeitgenössischer Bücher und Filme einen Namen gemacht hat. Um auch ein jüngeres Publikum anzusprechen, setzt er bei dieser Arbeit auf „melodischen Drive und pulsierende Rhythmen“.

Die Mammut-Aufgabe, aus Bräunigs sprachgewaltigem Nachkriegs-Panorama ein Libretto zu destillieren, übernahm die 1967 in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Als eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur wurde sie 2024 als erste Deutsche mit dem renommierten Inter­national Booker Prize ausgezeichnet. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin arbeitete sie als Musiktheater-Regisseurin. Für Erpenbeck, die immer mal Wagners „­Parsifal“ inszenieren wollte und „Peter Grimes“ als absolute Lieblingsoper bezeichnet, eine Erfahrung, die ihr bei der Arbeit am „Rummelplatz“ zugutekommt.


Frau Erpenbeck, ist dies Ihre erste Opern­libretto-­Arbeit?
Nicht ganz. Als mein Mann Generalmusikdirektor in Hannover war, habe ich das Libretto für eine Uraufführung geschrieben, die Giorgio Battistelli komponierte. Meine eigene Erfahrung als Regisseurin hat mir dabei beim Schreiben sehr geholfen. Regie führte damals Frank Hilbrich, der jetzt auch den „Rummelplatz“ machen wird.

Wie kam es überhaupt zu dieser thematisch ungewöhnlichen Opernproduktion?
Der Dramaturg Johannes Frohnsdorf hatte die sehr einleuchtende Idee, im Kulturhauptstadt-Jahr eine Produktion zu machen, die in der Gegend verwurzelt ist. Etwas, das die Menschen dort wirklich erreicht und zugleich Strahlkraft nach außen hat. Er brachte Bräunigs „Rummelplatz“ ins Gespräch.

Welchen Eindruck haben Sie generell vom Theater Chemnitz?
Das Theater hat es, wie mir scheint, nicht leicht. Die Chemnitzer Oper ist kein Staatstheater und muss deshalb mit relativ wenig Subventionen auskommen. Und die Leute sind dort wohl vergleichsweise wenig ausgehfreudig. Ich habe auch bei meinen Lesungen oft erlebt, dass sich im Westen das kulturaffine Bürgertum auch dadurch definiert, dass man sich bei Veranstaltungen öffentlich zeigt und trifft. Im Osten hatte ich dagegen manchmal den Eindruck, dass es so etwas wie einen Rückzug nach innen gibt. Die Zuhörer dort stellen wenig Fragen, sind nichtsdestotrotz aufmerksam und nachdenklich. Zu Ostzeiten wurden sogar Arbeiter und Bauern mit Sonder-Bussen in die Kultureinrichtungen gebracht. Inzwischen hat die Oper ihren Ruf als elitäre Institution leider wiedergewonnen, heutzutage pfeifen Arbeiter und Bauern wohl auf sowas wie Oper. Das ist schade!

Wann und wie sind Sie Bräunigs Roman begegnet?
Als die Anfrage aus Chemnitz kam, kannte ich bereits einige Werke von ihm, aber nicht den „Rummelplatz“. Ich wollte zuerst ablehnen, denn es ist ein Mammut-Unternehmen, aus einem 800-Seiten-Roman ein Libretto zu machen. Dann habe ich den Roman gelesen und war einfach hin und weg. Das ist ein unglaublich lebendiges und gutes Buch – nicht nur inhaltlich, auch sprachlich.

Bühnenbildentwurf von Volker Thiele

Was genau hat Sie an dem Roman fasziniert?
In der Einsamkeit Unter Tage stellen sich bestimmte Fragen viel existenzieller als im normalen Leben. Zugleich beschreibt Bräunig den wildwest-artigen Aufbruch in der Wismut nach Kriegsende, mit den vom Krieg kaputten Menschen, mit der komplexen politischen Lage – die Wismut gehörte ja der Sowjetunion – und dem politischen Wettlauf um die erste Atombombe. Und Werner Bräunig ist auch als Person der Zeitgeschichte interessant. Er hat viel durchgemacht, war aber durchaus für den Neuanfang unter sozialistischem Vorzeichen. Dennoch durfte sein Buch damals nicht erscheinen, was er wohl nicht verkraftet hat. Er ist viel zu früh – mit 42 Jahren – am Alkohol zugrunde gegangen.

Was sind das für Männer, die in der Wismut AG die sog. Pechblende [Anm. d. Red.: bedeutendes Erz zur Uran-Gewinnung] abbauten?
In Bräunigs Roman sieht man deutlich, dass es keine „Stunde Null“ gab. Die Regierung im Osten musste mit den vorhandenen Leuten das neue System begründen: mit Faschisten und Mitläufern, mit Opportunisten und Karrieristen. Und mit der Handvoll Kommunisten, die aus den Lagern oder der Illegalität zurückkamen. Die Wismut bildete eine Art Miniatur-Staat. Und Bräunig schaut sich diesen Mikrokosmos an: Wie soll das gehen, dass all diese Leuten zusammen etwas aufbauen?

Der Roman läuft auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 zu. Endet hier auch die Oper?
1953 kam es zum ersten Bruch in der DDR-Geschichte, ausgelöst durch die Empörung der Arbeiter über die neuen Normen, die in den Betrieben eingeführt werden sollten. Im Epilog schlage ich einen Bogen bis ins Jahr 1992, als die Wismut aufgelöst wurde. Da muss eine der Hauptfiguren „abwickeln“, was sie als junge Frau mit viel Überzeugung aufgebaut hat. Eine tragische Figur. Chemnitz ist bis heute geprägt von diesen Verwerfungen, weil der Bergbau die Gegend zusammenhielt. Durch die Schließung vieler Zechen in den Neunzigern gibt es eine gemeinsame Verlusterfahrung in Bezug auf Arbeit, Familie und Zukunft. Dieser Schnitt in den Biografien vieler Menschen dort schlägt durch bis heute.

Ist das ein Stoff, der ausgerechnet nach ­einer Oper ruft? Man hätte ja auch ein Theaterstück daraus machen können …
Oper ist immer schön. (lacht) Aber nicht nur deshalb. Ein wichtiger Aspekt des Romans ist es, sich durch Vergnügen und vor allem mit Schnaps zu betäuben, damit man die schwere Arbeit überhaupt machen kann. Das ruft förmlich nach Musik. Und dann die vielen verschiedenen Stimmen, die kann man nur durch Musik zusammenbringen – und auch wieder auseinanderfliegen lassen. Bei Bräunig steht der Rummelplatz übrigens auf einem ehemaligen Friedhof. Die Nähe des Todes hat immer viel mit Oper zu tun.

Der Roman wirkt auch sehr akustisch und beschreibt eine unglaubliche Lärmkulisse.
Die Maschinen in den Stollen sind natürlich per se sehr laut. Aber das Ausgesetztsein unter diesen ungeheuren Mengen von Stein bringt auch jede einzelne Stimme mit ihrer Angst und Einsamkeit zum Vorschein. Oper bietet ja auch immer eine Innenansicht der Seelen. Und ­Ludger Vollmer hat ein Gefühl für den „Appeal“ des Genres, für den Pop-Aspekt. Das finde ich gut. Auch, weil ihm sehr wichtig ist, wieder junges Publikum für die Oper zu interessieren.

Jenny Erpenbeck mit Komponist Ludger Vollmer (Foto Nasser Hashemi)

Es wird also eher nicht avantgardistisch klingen?
Neue Musik sollte nicht nur für Experten da sein. Musik hat ursprünglich mit Körper, mit Rhythmus und Tanz zu tun. Man muss sie auch auf einer sinnlichen und lebendigen Ebene verstehen können. Ich selbst war schon das eine oder andere Mal bei Aufführungen sogenannter Neuer Musik, wo die Besucher sich hinterher benahmen wie bei „Des Kaisers neue Kleider“: Keiner traute sich zu sagen, dass er nichts verstanden hat. Und Avantgarde in der Musik nützt nichts, wenn man nicht auch emotional versteht, was das Neue ist.

Sie haben zwei Jahre Theaterwissenschaft an der ­Berliner Humboldt-Universität und dann Musik­theater-Regie an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ studiert.
Ja, und ich erinnere mich gern an Gerd Rienäcker, meinen legendären Professor für Musikgeschichte, von dem ich viel gelernt habe. Er kommt übrigens auch in meinem Buch „Kairos“ vor. Ich zitiere da einen sehr berührenden Brief, den er mir nach dem Mauerfall geschrieben hat: Er ist froh, dass wir die Sklavensprache nun endlich abwerfen dürfen. Gleichzeitig verzweifelt er, weil er sieht, wie das Volk in den Abgrund läuft und er es nicht zurückhalten kann.

Sie haben als Kind ein Jahr in Italien gelebt, weil Ihre Mutter kurzzeitig mit einem Diplomaten dort ver­heiratet war. Hat das etwas mit Ihrer Liebe zur Oper zu tun?
Nein, die kam später, als ich schon fast erwachsen war. Allerdings habe ich immer gern selbst gesungen, als junges Mädchen einige Jahre in einem Kirchenchor. Die Eignungsprüfung für Musiktheater-Regie habe ich recht spontan gemacht und dann überraschend bestanden.

Andere Musiktheater-Regisseurinnen berichten von einer gewissen Frauenfeindlichkeit in diesem Metier. War das auch Ihre Erfahrung?
Wenn überhaupt, hatte ich Probleme mit den Sängerinnen, mit den Männern eigentlich nie. Frauen mögen es manchmal nicht, sich von einer anderen Frau etwas sagen lassen zu müssen. Es ist einfach ein sehr anstrengender Beruf mit viel Stress und unchristlichen Arbeitszeiten. Wenn man Kinder haben möchte, sollte man sich einen anderen Job suchen. Deshalb habe ich übrigens mit dem Beruf aufgehört. Als mein Sohn drei Jahre alt war, musste ich elf Kindergärten kontaktieren, bis ich ihn schließlich als Gastkind anmelden konnte. Von der Betreuung während der Abendproben ganz zu ­schweigen.

Ihren Mann, den Dirigenten Wolfgang Bozic, treffen Sie wohl auch nicht jeden Tag am Abendbrottisch?
Inzwischen häufiger als früher. Er begleitet mich oft auf meinen Lesereisen. Im März waren wir vier Wochen auf Literaturfestivals in Indien und Sri Lanka und jetzt gerade zwei Wochen in Ägypten.

Mischen Sie sich eigentlich in politische und gesellschaftliche Debatten ein?
Hin und wieder, aber die Auseinandersetzung in den Medien wird oft sehr hart geführt. Wenn man eine Meinung äußern will, die vom gängigen Kanon abweicht, kostet das viel Energie. Manchmal will ich diesen Gegenwind nicht aushalten, weil solche Auseinandersetzungen einen mit Haut und Haaren auffressen und meistens fruchtlos sind. Da verwende ich meine Energie lieber für ein neues Buch. Das Schwarz-Weiß öffentlicher Diskussionen reicht oft nicht, um etwas wirklich in der Tiefe zu verstehen.

Chemnitz ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt. Deshalb greifen wir trotzdem eine Debatte auf: Warum hat die AfD in Ostdeutschland solche Erfolge?
Hätte man den Ostdeutschen schon viel früher Verantwortung zumindest für ihre eigenen Lebensbereiche zugestanden, wäre es wohl nicht so weit gekommen. Auch in den Medien waren und sind Ostdeutsche leider noch immer nicht angemessen repräsentiert. Ost und West haben 40 Jahre lang unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aber Erfahrungen sind per se nicht richtig oder falsch, und keine ist mehr wert als die andere. Diesen Spagat auszuhalten, scheint eine schwere Übung.

„RUMMELPLATZ“

Ein Projekt für Chemnitz 2025
Nach einem Roman von Werner Bräunig
Musik von Ludger Vollmer, Libretto von Jenny Erpenbeck
Uraufführung: 20. September 2025 – weitere Termine bis November 2025
www.theater-chemnitz.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2025

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29. April 2025

Zum Beispiel: Chicago

Missy Mazzolis „The Listeners“ an der Lyric Opera zeigt, wie „Oper der Zukunft“ aussehen könnte. Und wie man sein Publikum für moderne Kompositionen begeistert

Missy Mazzolis „The Listeners“ an der Lyric Opera zeigt, wie „Oper der Zukunft“ aussehen könnte. Und wie man sein Publikum für moderne Kompositionen begeistert

von Iris Steiner

Zugegeben, es war nicht einmal US-Premiere, was da am 30. März an der Lyric Opera unter großer öffent­licher Aufmerksamkeit erstmals auf die Bühne kam. Nach der Uraufführung in Oslo 2022 mit Übernahme nach ­Philadelphia 2024 handelte es sich genau genommen schon um die letzte Station der Gemeinschaftsproduktion zwischen den drei Opernhäusern. Von Beginn an erfuhr das Werk der amerikanischen Shootingstar-Komponistin Missy Mazzoli und des kanadischen Librettisten und Filmemachers Royce Vavrek internationale Anerkennung von Kritikern und Publikum. Im Januar gab es am Aalto-Musiktheater Essen eine ebenfalls vielbeachtete deutsche Erstaufführung in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler. Und auch Opernhäuser in Australien und Kanada bekunden Interesse. Gelingt hier einer neuen Oper der Sprung ins breite Publikum?

Emotionale Charakterstudien zwischen Tonalität und Atonalität

Bereits die literarische Grundlage, der Roman „Das Summen“ von Bestsellerautor Jordan Tannahill, war ein internationaler Publikumserfolg. Librettist Vavrek weiß die emotionale und düstere Geschichte rund um menschliche Erfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Themen für Libretto und Konzept zu nutzen. Nicht zum ersten Mal bewährt sich auch das Team Mazzoli/Vavrek: Nach „Breaking the ­Waves“ (2016) und „Proving Up“ (2018) ist „The Listeners“ bereits ihre dritte gemeinsame Oper. Mazzoli erklärte öffentlich, dass sie „etwas über Macht-Ungleichgewichte und eine Frau mittleren Alters, die sich in einer Extremsituation wiederfindet“ schaffen wollte. Sie sei „interessiert daran gewesen, wie manche Menschen, häufig Männer, zu Anführern von Gruppen werden, wie sie ihren Weg zur Macht manipulieren und vulnerable Menschen ausbeuten“. Auch das Phänomen des „globalen Summens“, von dem Studien zufolge bis zu vier Prozent der Weltbevölkerung betroffen seien, eigne sich „perfekt für das Musiktheater, da es sich um eine akustische Erscheinung handelt“. Im Ergebnis liefert „The Listeners“ eindringliche Charakterstudien mit emotionaler Tiefe und dreht sich inhaltlich um Isolation sowie die Suche nach menschlichen Verbindungen.

Die Koproduktion der Opernhäuser Oslo/Philadelphia/Chicago in der Regie von Lileana Blain­-Cruz setzt auf ­realitätsnahe Bilder des modernen Amerika (Foto Cory Weaver)

Mazzolis Musiksprache, bekannt für ihre Vielschichtigkeit und den experimentellen Ansatz, kombiniert einmal mehr traditionelle klassische Elemente mit elektronischen Klängen und unkonventioneller Instrumentierung. Eine Klangwelt zwischen „vertraut“ und „neuartig“ sowie häufige repetitive musikalische Muster erzeugen dazu intensive emotionale Wirkung. Die Komponistin beherrscht das Spiel mit kraftvollen wie subtilen Mitteln – manchmal hat ihre Musik geradezu hypnotische Wirkung. Ein wenig wie bei Filmmusik übrigens, obwohl die Komposition keineswegs als „Begleitfunktion“ zur Handlung abgetan werden kann. Ganz im Gegenteil: Sie prägt die Gesamtstimmung und verschmilzt mit der Energie der einzelnen Szenen. Die 44-jährige US-Amerikanerin jongliert mit Melodien à la Puccini ebenso gekonnt wie mit komplexen Harmonien und kontrastierender Rhythmik. Durch etwa den Einsatz von Glissandos wird aus einer Dissonanz schnell mal eine Konsonanz. „Slippery“ nennt Dirigent Enrique Mazzola diese Tonalität und den Werksstil insgesamt „melodical-dramatical“: „Missy weiß, wie man für Stimmen schreibt und für Orchester.“

Für Chicagos Music Director, dessen Vertrag gerade bis 2031 verlängert wurde, war die Produktion auch in anderer Hinsicht eine Besondere. „Wenn die Komponistin in unsere Arbeit selbst involviert ist und unmittelbar hinter einem sitzt, ist das nicht nur ungewohnt, sondern macht auch ungleich nervöser. Zumal die Orchestrierung alles andere als leicht ist und die Partitur riesig.“ Zweimal eine Stunde dauert die Oper. „Man ist die ganze Zeit irgendwie in Trance“, beschreibt ­Mazzola die künstlerische Spannung. „Die Komposition folgt meisterhaft einem großen musikalischen Bogen und zugleich vielen ­Einzelaspekten.“

Neue Oper – In Chicago ­bereits Tradition

John Mangum, seit einem halben Jahr General Director, sieht die Erfolgsaussichten des Werkes noch von einer anderen Seite: „Ich habe ,The Listeners‘ von meinem Vorgänger geerbt, da die Verträge natürlich schon vor Jahren geschlossen wurden. Aber ich bin sehr glücklich mit dieser Produktion, Missy Mazzoli und Royce Vavrek haben einen hohen Bekanntheitsgrad in Chicago – beim Publikum und unseren Sponsoren.“ Nicht zuletzt folgt man auch der bestehenden Tradition, moderne amerikanische Oper im Programm zu etablieren. „Wir haben mittlerweile ein Publikum entwickelt, das bereits darauf wartet.“ Immerhin fünf Mal steht „The Listeners“ auf dem Spielplan – bei der Größe des Hauses für potenzielle 16.000 Besucherinnen und Besucher. „Wir haben ziemlich große Erfahrung darin, wie die Produktion neuer Stücke auch wirtschaftlich funktionieren kann“, meint Mangum. „Fünf Vorstellungen sind demnach schon eine Aussage – selbst Beethovens ,Fidelio‘ hatten wir nur sechsmal im Programm.“ Man arbeitet im Stagione-Betrieb und sollte im fast komplett privat finanzierten US-Kultursystem eines immer im Auge behalten: Auch die zahlreichen Sponsoren und „Boards“ müssen mit im Boot sein.

Ob die realitätsnahe Inszenierung mit dem sehr amerikanischen „Schulklasse- und Wohnhaus-Setting“ (Bühne: Adam Rigg) zur Akzeptanz beim Chicagoer Publikum beiträgt, kann man nur vermuten. Zumindest rief der Charakter der Nachrichtensprecherin im zweiten Teil – offensichtlich eine perfekte Imitation des Archetypen lokaler amerikanischer News-Stationen – zahlreiche spontane Lacher im Publikum hervor. Und auch die englische Sprache der Oper sei in dieser Hinsicht ein deutlicher Pluspunkt, erklärt Mangum. „Gerade, weil unsere Thematik – Isolation und Einsamkeit – sehr aktuell und unsere Inszenierung nah am Leben ist, möchten wir, dass die Menschen sich auch durch ,ihre‘ Sprache ein Stück weit abgeholt fühlen.“

Das 1929 erbaute, aufwendig gestaltete „Civic Opera House“ in Art-déco-Architektur beherbergt heute die „Lyric Opera“. Im Innenraum: prunkvolle, elegante Ausstattung und beeindruckende Akustik (Fotos Lyric Opera of Chicago, Darris Lee Harris Photography)

„Networking“ – der Schlüssel zum Erfolg

Seit ihrer Gründung 1954 ist die Lyric Opera of Chicago fester Bestandteil des kulturellen Lebens der Stadt. Verortet im „Civic Opera House“, einem architektonisch beeindruckenden Art-déco-Gebäude aus dem Jahr 1929, spielt man neben dem breiten klassischen Repertoire traditionell auch moderne, amerikanische Opern und legt großen Wert auf Bildungs- und Outreach-Programme. In einem System, das ein Jahresbudget von gut 75 Millionen Dollar am zweitgrößten Opernhaus der USA großteils durch privatwirtschaftliche Finanzierung stemmen muss, ist die Einbindung in die Stadtgesellschaft ohnehin überlebenswichtig. „Den Hauptanteil erwirtschaften wir aus Ticketeinnahmen und durch Fundraising, was meine allererste Aufgabe als General Director ist und sicher 50 Prozent meiner Arbeitszeit ausmacht“, erklärt Mangum. „Ein signifikanter Unterschied zu Kollegen in Deutschland und Europa.“

Wie viele Kulturinstitutionen in den USA besitzt auch die Lyric Opera ein sogenanntes „Board of Directors“, eine gewachsene Gemeinschaft aus Spendern, Unterstützern und Opernliebhabern, die dem Betrieb nicht selten auch mit ihrer Wirtschafts- und Politikexper­tise unter die Arme greifen. Und erst vor wenigen Wochen freute man sich über die sagenhafte 25-Millionen-Dollar-­Einzelspende der Kunstliebhaberin Penelope Steiner. Als langjähriges aktives Mitglied im Unterstützer-­Board sorgt sie damit nun für neue künstlerische Perspektiven und wünscht sich nicht zuletzt „künstlerisches Top-­Level“ auf der Bühne. Mit Generalmusikdirektor Mazzola pflegt sie auch eine persönliche Freundschaft. „Sie weiß, dass ich nicht nur dirigieren möchte, sondern dass es mir um mehr geht und ich dieses Haus entwickeln möchte“, meint der Italiener mit Geburtsort ­Barcelona. Und gibt auch gleich zu, dass für ihn ein privat finanziertes System zunächst ungewohnt war. „Ich habe immer gedacht, staatliche Zuschüsse seien im Kulturbetrieb ,normal‘. Das ist aber eigentlich eine anonyme Sache, der Staat hat ja kein Gesicht. Hier kennt man im Gegensatz dazu jeden Einzelnen, der unsere Kunst unterstützt. Diese Leute sitzen hinter Dir im Publikum – und man kann sich auch mal bei ihnen bedanken.“

Ein gutes Team: Musikdirektor Enrique ­Mazzola, die stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrats und Großspenderin Penelope Steiner, Verwaltungsratsvorsitzende Sylvia Neil und Generaldirektor und CEO John Mangum (v. l. n.r.) (Foto Jaclyn Simpson)

So ist die Großspende dann auch gut eingebettet – in eine Vision, die man hier „Oper der Zukunft“ nennt: Gemeint sind (auch) Koproduktionen und Partnerschaften mit amerikanischen und europäischen Häusern. Mangum denkt pragmatisch: „Da die meisten Menschen hauptsächlich ihr lokales Opernhaus besuchen, kann man diesen Kompromiss gut vertreten.“ Und auch im internen Arbeitsalltag eines Generalmusikdirektors lassen sich unmittelbare Auswirkungen feststellen, die Mazzola erst in Chicago gelernt hat. „Musical Director ist hier auch eine soziale Position, die stark netzwerkt und Kontakte pflegt. Alles ist sehr persönlich und viel mehr als ein Geschäft. Eine Art, die meinem Wesen sehr entgegenkommt. Ich glaube übrigens, dass wir in Europa zukünftig ebenfalls viel mehr Wert auf solche Dinge legen müssen in Zeiten, in denen staatliche Zuschüsse zurückgehen.“

Und selbst drohender „Cancel Culture“ eines Donald Trump sieht das Team Mangum/Mazzola gelassen entgegen. Sie wissen ihr Publikum hinter sich. „Wir haben eine Vereinbarung mit der Stadt Chicago, abgesehen davon sind wir unabhängig und leben hier in einer der diversesten Gesellschaften der Welt. Es ist uns vor allem wichtig, für unser Publikum zu spielen. Und zusammen mit der Met die neue amerikanische Oper zu formen.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2025

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28. Februar 2025

Gestern. Heute. Morgen?

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Interview Florian Maier

2010 kam Nora Schmid als Chefdramaturgin das erste Mal nach Dresden, nach dem überraschenden Tod ihrer Chefin Ulrike Hessler 2012 trug sie als Teil der Interims-Intendanz schon einmal die Verantwortung. Heute – zehn Jahre später – setzt die 46-Jährige mit mittlerweile achtjähriger Grazer Intendanz-­Erfahrung ganz allein „die Segel“ für die Semperoper auf dem Weg in eine erfolgreiche ­Zukunft. Unter zugegebenermaßen nicht einfachen Bedingungen.

Hatten Sie schon in der Ära Hessler und der darauffolgenden Interims-Intendanz Visionen, die sich erst jetzt als „offizielle“ Nachfolgerin verwirklichen ­lassen?
Ich bin damals gemeinsam mit Ulrike Hessler nach ­Dresden gekommen – durch ihren viel zu frühen, tragischen Tod ist quasi über Nacht eine große Lücke entstanden. Da ging es dann mit unglaublichem Zusammenhalt zuallererst ums Reagieren: Wie machen wir jetzt weiter? Ich habe gemerkt, dass ich vor diesem Hintergrund mittelfristig erst einmal einen anderen Weg für mich selbst einschlagen wollte. Es war in der Vorbereitung meiner eigenen Intendanz von Vorteil, die Semperoper schon so gut zu kennen. Aber in den zehn Jahren seit meinem damaligen Abschied hat sich hier auch viel weiterentwickelt – und mir war es wichtig, jetzt „frisch“ in ein neues Kapitel zu starten.

Sie kehren an ein sehr traditionsreiches Haus zurück. Schlagen Sie programmatische Brücken zur Historie – oder gerade bewusst nicht?
Ich glaube, es braucht beides. ­Jedes Theater hat seine Wurzeln, seine ­Seele. Die gilt es zu pflegen, aber auch weiterzuführen. Die Semperoper hätte keine Tradition, wenn man sie nicht immer wieder ins Hier und Jetzt geholt hätte. Wenn Sie sich unseren ersten Spielplan ansehen, entdecken Sie Richard Strauss’ „Intermezzo“, dessen Uraufführung im vergangenen November vor exakt 100 Jahren in ­Dresden stattfand. Aber mit ­Kaija ­Saariahos „­Innocence“ von 2021 auch eine der packendsten zeitgenössischen Opern der letzten Jahre. Diese Spann­weite macht ein ausgewogenes Programm aus.

Von einer ­Zukunftsperspektive „Semper 2030“ war die Rede, als Sachsens Kulturministerin ­Barbara Klepsch 2021 Ihre Berufung bekanntgab: „Wir sehen dabei das, was heute gut ist, und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper.“ Wie sieht denn dieses „Über­morgen“ konkret aus, das Sie ansteuern möchten?
Ich halte es für falsch zu kategorisieren: „Das ist das Gestern/das Heute/das Morgen.“ Gerade bei einem großen Repertoirebetrieb wie dem unseren läuft alles ineinander. Wir haben eine ­breite Palette an Aufführungen, die in ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sind – manche sind 40 Jahre alt, andere noch ganz neu. Mich erinnert das manchmal an ein Museum: Wenn man eine neue Hängung plant und eine bestimmte Produktion in Kontrast zu einer anderen setzt, erlebt man womöglich auch das Altbekannte plötzlich wieder ganz „neu“. „Übermorgen der Oper“ bedeutet für mich, mit unserem Gesamtprogramm zu spielen und dabei das Publikum mitzunehmen – das ist immer ein laufender Entwicklungsprozess.

Sie haben das Ensemble der Semperoper vergrößert. Ein Bekenntnis zum genannten Repertoiretheater?
Auf jeden Fall. Instrument des Jahres 2025 ist die menschliche Stimme und wenn wir uns fragen, wovon das Musiktheater lebt, ist für mich die eindeutige Antwort der singende Mensch. Er berührt uns und steht Abend für Abend auf dieser Bühne. Natürlich ist es zentral, welche Geschichten wir erzählen – aber eben auch, mit welchen Menschen. Das Publikum baut eine Beziehung mit „seinen“ Künstlerinnen und Künstlern auf. Mir ist es dabei immer wichtig, dass verschiedene Generationen und Erfahrungslevel aufeinandertreffen. Nur so können die Mitglieder eines Ensembles voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren.

Oper „ganz nah an unserer Zeit“: Szene aus Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“, 2024 (Foto Semperoper Dresden/David Baltzer)

„Mich interessiert nur gesellschaftlich relevantes Theater“, bekannte Ihr Vorgänger Peter Theiler. Was bedeutet das für Sie?
Es gibt viele Dinge, die gesellschaftlich relevant sind. Oft werde ich aber auch gefragt, was ich unter „­modern“ verstehe. Ob beides letztlich ein und dasselbe ist? Ich weiß es nicht. Mich beschäftigt auf jeden Fall das, was uns berührt und bewegt, unabhängig von einer zwanghaft „modernen“ Ästhetik. Wenn wir noch einmal auf „­Innocence“ schauen, geht es dort um Themen wie Waffengewalt, Mobbing und Zivilcourage. Auch ­Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ ist bei aller überbordenden Fantasie ganz nah an unserer Zeit: Ein Prinz hat das Lachen verlernt, findet keine Freude am Leben, ist depressiv – in der Welt nach Corona ein riesiges Thema. Letztlich verstecken sich die Motive, die uns in unserem Menschsein umtreiben, in allen Werken der Theatergeschichte – sonst wären diese ja nie entstanden. Gutes Theater erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern ist immer eine Einladung zum Öffnen von Gedankenräumen.

Das führt uns zum Motto Ihrer ersten Spielzeit: „Stell dir vor“.
„Stell dir vor“ ist weniger Spielzeitmotto als vielmehr ein Appell an die eigene Vorstellungskraft: Lass Dich auf die Oper ein – und entdecke, was sie womöglich mit Dir selbst zu tun hat.

Ist die persönliche Ansprache per „Du“ auch ein Versuch, die Oper unverkrampfter an neue Besucherschichten heranzutragen? Und ist das eine Genera­tionenfrage?
Lustigerweise haben wir tatsächlich intern darüber diskutiert, ob wir „einfach so“ alle duzen können. (lacht) Aber es handelt sich ja eher um eine indirekte Kontaktaufnahme, auf die erfreulicherweise alle Generationen anspringen. Wir bekommen Feedback, dass unsere Besucherinnen und Besucher mittlerweile schon neugierig sind, welcher Spruch als nächstes kommt. Ravels „Das Kind und der Zauberspuk“ etwa bewerben wir mit „Stell dir vor, deine Fantasie wird Wirklichkeit“, ­Gounods „Roméo et Juliette“ mit „Stell dir vor, du darfst nicht lieben, wen du liebst“. Das sind Gedanken, die uns alle etwas angehen.

In den fast zehn Jahren Ihrer Abwesenheit hat sich das gesellschaftspolitische Klima extrem erhitzt – gerade auch in Dresden. Macht sich das für Ihr Ensemble und Sie bemerkbar – im Alltag und auf der Bühne?
Wir sind ein enorm internationales Haus mit Menschen aus fünf Kontinenten – ein richtig gutes Beispiel für ein harmonisches Miteinander, finde ich. Aber natürlich werden auch wir mit der zunehmenden Entwicklung zu einer Empörungs- und Befindlichkeitsgesellschaft konfrontiert … Das würde ich aber nicht speziell auf Sachsen beziehen, das lässt sich ja mittlerweile leider ­europa- und weltweit beobachten.

Wie reagiert man darauf – mit politischem Theater und klarer Haltung?
Wir sind Kulturschaffende und keine Parteipolitiker, aber selbstverständlich vertreten wir die Grundpfeiler der Demokratie und des Humanismus. Das sind unsere Wurzeln und für die stehen wir auch mit ganz klaren Haltungen ein.

40 Jahre „dritte“ Semperoper: Oben die Videoinstallation „SILENTIUM“ des Kollektivs OchoReSotto als „Ausrufezeichen des Erinnerns und Wachhaltens“. Unten Schlüsselübergabe auf dem Theaterplatz, 13. Februar 1985 (Fotos Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe & Matthias Rank)

40 Jahre sind seit dem Wiederaufbau der Semperoper vergangen – das Ereignis galt damals als Symbol gegen Krieg und Zerstörung. Ist dieser Symbolcharakter in der Stadtgesellschaft heute noch präsent?
Der Wiederaufbau der Semperoper zu DDR-Zeiten ist ein unglaublich faszinierendes Thema. Genauso wie übrigens die Weihe der Frauenkirche 20 Jahre später: Das war ein Zeichen der Völkerverständigung, ein Brückenschlag zwischen Ost und West, vielleicht sogar so etwas wie ein europäischer Versöhnungsgedanke. Beides sind Jahrhundertprojekte, die als Wahrzeichen weit über Dresden hinausstrahlen. Jetzt sind die politischen Tendenzen überall gerade völlig andere … Aber ich denke, man wird sich irgendwann wieder darauf besinnen. Denn die Kraft, die von diesen Institutionen ausgeht, ist eine sehr besondere. Manchmal frage ich mich, wenn ich allein im Zuschauerraum sitze: Was würde mir dieser Raum alles erzählen, wenn er sprechen könnte?

In Zeiten mauer Kassen gerät die Kultur wieder einmal mit als erstes in den Sparfokus. Große Dresdner Kulturinstitutionen wie die Staatsoperette stehen auf der „roten Liste“ – die Semperoper auch?
Zunächst sprechen wir da von zwei verschiedenen Töpfen: Die Staatsoperette ist städtisch, wir werden vom Freistaat Sachsen finanziert. Allerdings beschränken sich die mauen Kassen nicht nur auf die Stadt. Umso wichtiger ist es, immer wieder zu zeigen, warum es uns braucht. Wir sind ein sächsischer Leuchtturm für die Welt: Die Semperoper kennt man. Als Kulturbotschafterin appelliere ich an alle Verantwortlichen, sich bewusst zu machen, dass so etwas nicht aufs Spiel ­gesetzt werden darf! Vom kulturgeschichtlichen und künstlerischen Stellenwert einmal abgesehen lässt sich das auch wirtschaftlich bekräftigen: Wir generieren enorm viele Besucherinnen und Besucher, die wegen der Semper­oper überhaupt erst nach ­Dresden kommen – und dann hier einkaufen, Cafés, Bars und Restaurants besuchen. Wir sind auch ein unglaublicher Wirtschaftsfaktor für die Stadt und die Region.

Die Semperoper hat dabei einen Spagat zu meistern: hier die Befriedigung des Touristenanspruchs, da der Wunsch, künstlerisch zukunftsfähig zu bleiben.
Naja, was heißt „Touristenanspruch“? 50 Prozent unseres Publikums ist ein überregionales, das von außerhalb Sachsens zu uns kommt. Mehrheitlich sind das wirk­liche Kulturfans. Oft klingt es aber trotzdem nach: „Die Semperoper ist wegen der Touristen eh voll.“ Es kauft sich aber jemand nur dann eine Karte, wenn das, was wir bieten, attraktiv und von hoher Qualität ist.

In den letzten Jahren steht das Berufsbild Intendanz wegen Machtmissbrauch, toxischem Arbeitsklima etc. vielerorts in der Kritik. Sie dagegen gelten als Teamplayerin. Wie schafft man es, eine solche „Worthülse“ im Alltag wirklich mit gutem Beispiel zu beglaubigen?
Indem man es jeden Tag immer wieder aufs Neue versucht. Bei der Anzahl der Prozesse, die es in so einem großen Haus zu moderieren gilt, ist das eine Herausforderung. Ich halte nichts von einer Fehlerkultur, in der man auf den Schuldigen zeigt. Es ist doch viel zielführender, darüber nachzudenken, was man beim nächsten Mal besser machen kann. Ganz abgesehen davon, dass ich viele Berufsjahre ja selbst nicht „die Chefin“ war. Wo viel gearbeitet wird, passiert immer mal wieder irgendetwas, aber die Grundfrage für uns alle ist doch: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2025

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20. Dezember 2024

Ich brauche Freiheit!

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Interview Georg Rudiger

Bis 2023 war Omer Meir Wellber Musikdirektor an der Volksoper Wien, bis 2024 auch Chefdirigent am Teatro Massimo in Palermo – in Kürze beginnt sein Engagement als Generalmusikdirektor an der Staatsoper Hamburg. Wir haben nach der Wiener Uraufführung von „Alma“ mit dem 43-Jährigen ­gesprochen: über sein Aufwachsen am Rande der Wüste, sein eigenes Komponieren, über Antisemitismus und die Ignoranz der Linken. Und darüber, was er gemeinsam mit dem neuen Intendanten Tobias Kratzer in Hamburg vorhat.

An der Wiener Volksoper haben Sie Ende ­Oktober die Uraufführung von „Alma“, einer fünfaktigen Oper der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff, dirigiert. Sie komponieren selbst. Hilft das in der Zusammenarbeit mit einer Komponistin?
Auf jeden Fall. Wir haben für diese Oper drei Jahre zusammengearbeitet und uns alle sechs Monate getroffen, um Veränderungen vorzunehmen, zu kürzen, zu ergänzen und die Instrumentation zu überarbeiten. Die Entscheidungen hat natürlich Ella getroffen – aber für sie war es wichtig, mit mir im Dialog zu sein. Große Komponisten wie ­Giacomo Puccini, ­Richard Strauss oder Johannes Brahms waren immer im Dialog. Seien wir ehrlich: Bei zeitgenössischen Opern könnte man häufig einige Passagen streichen. „Alma“ dagegen hat eine Kompaktheit, die sicherlich auch ein Ergebnis unseres Austauschs ist.

Was hat Ihnen musikalisch besonders gefallen an der Oper?
Vieles! Ich kenne die musikalische Sprache von Ella sehr gut, ich habe schon viele ihrer Werke dirigiert. Ihre Musik hat eine sehr starke Verbindung mit dem Text, es gibt theatralische Ideen in ihrer Partitur. Außerdem finde ich es sehr interessant, wie virtuos sie mit verschiedenen Stilen spielt, ohne dabei eklektisch zu werden.

Das Leben von Alma Mahler-Gropius-Werfel wird in der Oper von hinten nach vorne erzählt – es beginnt mit der 56-jährigen Alma Gropius im Jahr 1935 und endet mit der 22-jährigen Alma Schindler 1901. Die Oper ­läuft im letzten Akt auf die zentrale Szene zu, wenn Alma ihre Noten verbrennt. Kurz zuvor hatte ihr Gustav Mahler das Komponieren verboten. Sie haben schon als Kind eigene Musik zu Papier gebracht. Was hätten Sie gemacht, wenn Ihnen Ihre Eltern das Komponieren verboten hätten?
(lacht) Das ist eine gute Frage. Man kann sich das schwer vorstellen, weil heutzutage die meisten Kinder grundsätzlich alles machen dürfen. Aber es gibt schon viele Länder wie ­Afghanistan oder der Iran, in denen Frauen wenige oder gar keine Rechte haben. Diese Entscheidung gegen die Musik war für Alma eine Entscheidung gegen sich selbst, gegen ihre Persönlichkeit. Das ist sehr tragisch. Bei uns zuhause war das völlig anders. Meine Eltern haben nichts forciert, aber auch nichts behindert. Ich war da ganz frei in meiner Entwicklung, wofür ich dankbar bin. Aber natürlich habe ich durch die Entscheidung für die Musik auf vieles verzichten müssen. Ich spielte sehr wenig mit anderen Kindern auf der Straße, habe nie an Schulausflügen teilgenommen. Als Künstler muss man immer einen Preis zahlen, dieser Verzicht gehört einfach dazu. Wir sind jetzt in Wien – und meine Tochter in Mailand.

Bei der Probe von „Alma“ mit Komponistin Ella Milch-Sheriff (Foto Barbara Pálffy)

Wie sind Sie denn überhaupt zum Komponieren gekommen? Das ist ja eher ungewöhnlich für ein Kind. Wie alt waren Sie denn?
Elf Jahre.

Kam das zeitgleich mit dem Erlernen von Klavier und Akkordeon?
Ja. Das hatte auch mit meinen Lehrern zu tun, die echte Künstler waren und meine ­Kreativität gefördert haben. Einer war Emigrant aus Russland, der andere Holocaust-Überlebender. Sie haben viel erlebt. Auch meine Heimatstadt spielte eine Rolle.

Be’er Sheva am Rand der Negev-Wüste: eine Großstadt mit über 200.000 Einwohnern.
In meiner Kindheit war die Stadt allerdings mit rund 80.000 Einwohnern noch viel kleiner. Der Aufschwung kam erst in den 90er Jahren mit der Gründung von zwei Universitäten. Be’er Sheva war in meiner Kindheit eine arme, multikulturelle Stadt, in der wenig geboten war. In meiner Schulklasse hörte ich acht verschiedene Sprachen. Ich habe aus rumänischen Büchern gelernt, weil meine Lehrerin aus Rumänien kam. Wir mussten uns alles hart erarbeiten – das hat mich geprägt.

Für wen haben Sie komponiert?
Für meine Freunde. Einer spielte Mandoline, der andere Violine, ich Klavier und Akkordeon. Ich habe viele Stücke für diese Besetzung geschrieben. Wir waren wie eine kleine musikalische Gesellschaft und haben unsere eigene Musik gespielt. So ein bisschen wie bei Joseph Haydn und Antonio Vivaldi.

Welchen Stellenwert hat das Komponieren heute für Sie?
Seit zehn Jahren komponiere ich gar nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hatte ich das Bedürfnis, Bücher zu schreiben und keine Musik mehr. Ich wollte konkreter werden – meine künstlerischen Ideen konnte ich ab diesem Zeitpunkt besser durch Sprache ausdrücken. Dann habe ich meinen ersten Roman „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“ geschrieben. Inzwischen ist mein zweiter fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Das ist im Augenblick meine kreative Welt. Durch meine Tätigkeit als Dirigent habe ich so viel Musik von anderen im Kopf, dass es mir schwerer fällt als früher, meine eigene Musik zu hören. Richard Strauss und Gustav Mahler ging es ähnlich – sie haben sich dann in die Stille der Natur zurückgezogen, um wieder komponieren zu können.

Beeinflussen Ihre Erfahrungen mit dem Komponieren auch Ihre Interpretationen als Dirigent? Möchten Sie lieber etwas Neues schaffen, als das Alte zum Leben zu erwecken?
Absolut ja. Als Komponist sehe ich andere Dinge in der Partitur: Was steht hinter den Noten? Ich sehe meine Arbeit als Dirigent viel weitgefasster. Und habe auch kein Problem damit, eine Partitur zu kürzen oder Dinge herauszuarbeiten, die nicht notiert sind. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie Mozarts Musik in der Zeit ihrer Entstehung geklungen hat. Der Notentext braucht immer eine Interpretation.

„Wenn ich ein Werk ­dirigiere, mache ich das niemals gleich“ (Foto Oliver Killig)

In der Oper „Alma“ gibt es im ersten Akt wüste antisemitische Äußerungen von Alma Mahler. Gustav Mahler wurde 1907 Opfer einer antisemitischen Kampagne in Wien, vor der er mit Alma nach New York an die Met flüchtete. Sie arbeiten als israelischer Dirigent schon lange in Europa. Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt?
Nein, persönlich nicht. Aber meine Definition von Antisemitismus ist auch etwas anders. Alma Mahler ist hierfür ein gutes Beispiel. Diese Frau war zwar Antisemitin, aber trotzdem verheiratet mit Gustav Mahler und Franz Werfel, zwei sehr bekannten Juden. Das Leben ist kompliziert und voller Widersprüche. Heute muss man in einer Diskussion für oder gegen Israel sein. In der polarisierten öffentlichen Debatte wird eine Stellungnahme gegen ­Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt. Das ist falsch. Die politische Korrektheit spiegelt die Ambivalenz der Wirklichkeit nicht wider. Man kann gegen Netanjahu sein, aber für Israel. Für Palästina, aber gegen die Hamas. Diese Möglichkeiten, diese Grautöne werden aber im Schwarz-Weiß-­Denken und der damit verbundenen Empörungskultur nicht abgebildet. Die Erstarkung der Rechten in Europa hängt damit zusammen. Das ist der Protest gegen Denkverbote. Alma Mahler könnte ein gutes Beispiel dafür sein, wie komplex das Leben ist. Einfache Lösungen sind immer falsch.

Wie schauen Sie selbst aktuell auf den Krieg in Israel und dem Libanon?
Ich bin ein großer Kritiker von Benjamin ­Netanjahu und seiner faschistischen Clique. Das Vorgehen ­Israels im Gazastreifen ist für mich nicht akzeptabel. Da wurden viele Fehler gemacht. Im Libanon ist die Sache etwas anders. Vom Libanon aus wurde Israel die letzten zehn Jahre von der Hisbollah mit Raketen angegriffen. Mehr als 150.000 Bewohner aus dem Norden Israels mussten ihre Häuser verlassen und leben seit einem Jahr im Hotel. Diese Situation muss gelöst werden. Von hundert falschen Sachen macht Netanjahu eine Sache richtig. Und im palästinensischen Widerstand gibt es auch berechtigte Anliegen. Ich war ein überzeugter Linker, aber die Linke hat im palästinensisch-israelischen Konflikt große Fehler gemacht.

Wie meinen Sie das?
Wir waren zu zufrieden in unserer Denkblase und haben die Realität nicht angeschaut. Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nach den brutalen Vergewaltigungen, Geiselnahmen, Folterungen und Tötungen hat keine feministische Organisation etwas gegen die Hamas gesagt. Die Linke hat die Realität nicht gesehen. Freunde meiner Mutter sind in diesem von der Hamas überfallenen Kibbuz geköpft worden. Ihre Köpfe hat man nicht mehr gefunden. Diese Realitätsverkennung der Linken ist gefährlich. Eine Transgender-Person aus Berlin würde im Iran oder in Palästina sofort getötet. Diese Ignoranz der Linken und der Rechten ist das Problem, das uns auch in Zukunft noch beschäftigen wird. Alma Mahler, um auf sie zurückzukommen, vereint Widersprüche in sich und wird damit der Realität viel mehr gerecht. Wir brauchen mehr Alma ­Mahlers.

Sie hatten an der Wiener Volksoper einen Vertrag bis 2027 als Musikdirektor, sind dann aber Ende 2023 von diesem Amt zurückgetreten, weil sie im September 2025 als Generalmusikdirektor in Hamburg beginnen.
Wichtig war Intendantin Lotte de Beer und mir, dass unsere musikalische Zusammenarbeit wie jetzt in „Alma“ weitergeht. Ende Januar werde ich an der Volksoper mit dem „KaiserRequiem“, einer Verbindung von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ mit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem, die nächste Produktion dirigieren. Mein früherer Assistent Ben Glassberg hat die Stelle des Musikdirektors übernommen – so ist das für alle eine gute Lösung.

Und was haben Sie in Hamburg vor?
Ich kann noch nicht viel sagen, weil erst im März unsere Pressekonferenz stattfindet. Aber so viel: An der Staatsoper Hamburg beginnt eine neue Ära. Das wird zu spüren sein. Wir haben neue Ideen für die Konzerte, aber auch für das Musiktheater. Ich leite dort in der kommenden Spielzeit zwei Produktionen – und beide sind keine klassischen Opern. Das Haus soll innerhalb Deutschlands ein besonderes Profil erhalten, wie es auch in der Vergangenheit mit Peter Konwitschny, Rolf Liebermann oder auch schon Gustav Mahler der Fall war.

Also mehr Experiment?
Ja. Es gibt hier ein sehr neugieriges, offenes Publikum. Wir haben den Hafen als Tor zur Welt, wir haben viele Touristen. Wir möchten noch mehr in Dialog treten mit der Stadt, mit den unterschiedlichen Kulturen, aber auch mit der Wirtschaft und Politik.

Sie haben sich Ihr Studium als Zauberer finanziert. Welche Probleme im Musikbetrieb würden Sie gerne verschwinden lassen?
(lacht) Als Zauberer gibt es zwei entscheidende Dinge. Erstens: Timing. Zweitens: Man kann denselben Trick nicht zweimal machen. Das ist für einen Zauberer wichtig, aber auch für einen Generalmusikdirektor. Wenn ich ein Werk dirigiere, mache ich das niemals gleich. Auch in den Proben lasse ich viele Entscheidungen offen, was für die Orchester­musikerinnen und -musiker vielleicht auch anstrengend sein kann. Ich brauche diese Freiheit. Die eigentliche Interpretation entsteht dann im Augenblick der Aufführung – das ist der Zauber.

Lesetipp

Omer Meir Wellber:
„Die vier Ohnmachten
des Chaim Birkner“
208 Seiten, Berlin Verlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2025

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