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Streamingkritik

Zarzuela-Begeisterung im weichen Lockdown von Madrid

Madrid / Teatro de la Zarzuela (Februar 2021)
Beste Unterhaltung mit „Luisa Fernanda“

Madrid / Teatro de la Zarzuela (Februar 2021)
Beste Unterhaltung mit „Luisa Fernanda“

„Luisa Fernanda“, eine lyrische Komödie in drei Akten von Federico Moreno Torroba mit einem Libretto von Federico Romero und Guillermo Fernández-Shaw, erlebte im März 1932 ihre Uraufführung am Teatro Calderón de Madrid. Sie gehört zu den populärsten Stücken dieses ursprünglich rein spanischen Genres, welches sich auch in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko und Kuba, ausbreitete. Die Zarzuela, die man bis zu einem gewissen Grad als spanische Operette bezeichnen könnte, verbindet auf unterhaltsame Weise folkloristische Elemente mit klassischer, oft durchaus opernhafter Musik sowie Tanz und Dialog.

„Luisa Fernanda“, die bisher über zehntausendmal aufgeführt worden sein soll, bringt all das aufs Schönste heraus. Das Stück artikuliert zudem die Gegensätze zwischen der feinen Gesellschaft in Madrid und dem Landleben zur Zeit der spanischen Revolution im September 1868, im Spanischen auch „La Gloriosa“ genannt. Sie führte zu Abdankung und Asyl von Königin Isabella II. infolge des Sieges des republikanischen Aufstands. Darum spannt sich eine Liebesgeschichte um die junge Madrilenin Luisa Fernanda, die zwischen einem reichen Großgrundbesitzer aus dem Süden, Vidal Hernando, und dem bereits lange mit ihr verlobten jungen Militär Javier Moreno steht. Im Kampf um die Angebetete wechselt Hernando sogar die Fronten und wird zum Republikaner, nur weil Javier sich aus vorübergehender Sympathie zu Carolina, einer Dame des Hofes in Madrid, den Monarchisten anschließt. Auch wenn Luisa Vidal die Ehe versprochen hat, kommt es schließlich nicht dazu, da er erkennt, dass ihre Liebe zu Javier, der schon für gefallen galt, aber unerwartet zurückkehrt, größer ist. So entlässt er sie mit einer schönen Überzeugung aus ihrem Versprechen: „Un corazón que perdona no es una carga que pesa.“ – „Ein Herz, das verzeiht, ist keine schwere Last.“

Regisseur Davide Livermore schuf dazu ein einfallsreiches Bühnenbild im Stile eines Theaters im Theater. Im Teatro Doré laufen ständig Schwarz-Weiß-Filme aus alten Zeiten und bilden so den historischen Hintergrund und Kontrast – mit dem seinem Ende entgegen gehenden bourgeoisen Leben in der Hauptstadt – zum lebhaften und meist bunten Geschehen des Heute auf der Bühne. Die Kampfszenen und Explosionen der Revolution werden allerdings allzu folkloristisch nur auf den Bühenparavents angedeutet, wo sich das doch im Teatro Doré etwas dramatischer empfohlen hätte. Umso mehr Gewicht legen Livermore und seine Bühnenbildner der Designers Artists Architects Giò Forma, die Kostümbildnerin Mariana Fracasso, der Beleuchter Antonio Castro sowie Nuria Castejón mit einer exzellenten Choreographie auf die eigentliche Handlung mit all ihren Emotionen, einer entsprechend intensiven Personenregie, schmissigen Tanzszenen und stets guten Chorensembles (Leitung Antonio Fauró). Bestens abgestimmtes audiovisuelles Design kam von Pedro Chamizo.

Yolanda Auyanet war mit ihrem klangvollen Sopran eine brillante Luisa Fernanda. Moreno Torroba sah für die Titelrolle allerdings einen Mezzosopran vor. César San Martín gab mit seinem geschmeidigen Bariton einen ausdrucksstarken Vidal Hernando und Jorge de León mit prägnantem Tenor einen Javier Moreno auf Augenhöhe. Roció Ignacio sang die Carolina mit einem facettenreichen Sopran. Die zahlreichen Nebenrollen waren durchwegs gut besetzt. Das Publikum ging mit großer Emotion mit und spendete nach allen offenbar sehr populären Arien und Duetten begeisterten Applaus. Karel Mark Chichon leitete das Orquesta de la Comunidad de Madrid engagiert mit guter Kenntnis der besonderen Herausforderungen einer Zarzuela.

Klaus Billand

„Luisa Fernanda“ (1932) // Comedia lírica von Federico Moreno Torroba

Eisige Zeiten

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Februar 2021)
Eine packende „Jenůfa“ bietet Janáček de luxe

Was die Staatsoper Unter den Linden mit ihrer jüngsten Livestream-Premiere bietet, ist Janáček de luxe. Vor allem musikalisch. Aber „Jenůfa“ ist immer noch eine unmittelbar packende und aufwühlende Geschichte über Menschen in einer Gesellschaft, die von einer Moral beherrscht wird, in der die Frauen die Rechnungen für Liebe und Leidenschaft oft allein zahlen. Werden sie ohne den Segen der Kirche und einen angetrauten Mann schwanger, dann haben sie das Problem. Als sich die Stiefmutter der Titelheldin gegen die brutal-patriarchalischen Machtverhältnisse zur Wehr setzen will und dabei genauso brutal vorgeht, vernichtet sie sich gleich selbst. Sie schüttet im doppelten Wortsinn das Kind mit dem Bade aus beziehungsweise verbannt den kleinen unschuldigen Jungen ins Eis. Natürlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Sonne diesen Kindsmord an den Tag bringt. Das Ergreifende an dieser Geschichte aus einer voremanzipatorischen Zeit liegt in der Kraft, die Jenůfa und Laca aufbringen, einander und auch der verzweifelten Küsterin zu verzeihen. Dass diese Geschichte immer noch funktioniert, sagt nicht nur etwas über die Genialität ihres Schöpfers aus, sondern ebenso über die Abgründe, die auch heute noch in der kollektiven Erinnerung oder im parallelgesellschaftlichen Halbdunkel verborgen sind. Dass „Jenůfa“ (leider) kein Märchen aus uralten Zeiten ist, wird deutlich, wenn man alles Historisierende der Ausstattung auf wenige sparsame Insignien reduziert. So wie es Paolo Fantin mit seinem transparenten Guckkasten und Carla Teti mit ihren unauffällig gestrigen Kostümen in Damiano Michielettos Inszenierung getan haben. Dieser macht aus dem Eis, von dem immer wieder die Rede ist, den einen optischen Coup. Ein spitzer Eisblock durchschlägt hier wie ein Meteor in Zeitlupe die Decke. Der große Rest besteht aus Psychologie und Kammerspiel.

Das funktioniert, weil Simon Rattle die Staatskapelle Berlin nicht nur gleichsam von innen leuchten lässt, sondern die hörbar große Lust hat, der Regie dabei zu folgen. Einen Spezialeffekt bietet der Chor, der im leeren Haus im Parkett und auf den Rängen verteilt ist – so sind wir zwar außen vor, aber doch irgendwie auch mittendrin.

Das Protagonisten-Ensemble auf der Bühne hat Referenzqualitäten. Das fängt an mit der wunderbaren, so lyrischen wie kraftvollen Camilla Nylund als glaubhafter Titelheldin und Stuart Skelton als einem Laca im Wagnertenor-Format. Es geht weiter über den markanten Ladislav Elgr als leichtsinnigem Števa bis hin zu Evelyn Herlitzius als Küsterin (in einer ihrer Paraderollen) und der legendären Hanna Schwarz in der Rolle der Großmutter. Das Ensemble ist nicht nur stimmlich eine Pracht, sondern vermag durchweg aus der entlarvenden Nähe der Kamera einen Vorzug zu machen. Die technische Qualität der Übertragung ist tadellos. Im Saal dabei zu sein, wäre aber auch hier die bessere Lösung.

Joachim Lange

„Její pastorkyňa“ (Jenůfa“) (1904) // Oper von Leoš Janáček

Nuancenreiches Welttheater

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

Ja, es ist schon toll, wenn über einhundert Mann Wagners „Walkürenritt“ oder den „Trauermarsch“ hinfetzen. Doch dann gibt es die eine Künstlerin auf der weiten, leeren Bühne des Münchner Nationaltheaters, die die ganze Welt erstehen lässt. Der Rezensent hob am Ende sein Glas und verneigte sich vor dem Bildschirm …

Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte irgendwie überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub; der Teufel bittet um drei Tage Geigenunterricht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch; durch teuflische Täuschung werden daraus drei Jahre; niemand im Dorf erkennt den Soldaten und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter; enttäuscht nutzt der Soldat den Buchzauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe; doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen die kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen; nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf; als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Teufel. „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“

Was moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute. Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße des ungenannt bleibenden Szenikers im Theaterrund völlig verzichtbar. Zwar blieben Norbert Grafs kleine Tanzeinlagen ebenfalls belangloses Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte oder mit erhobenem Arm eine hohe Klarinettenlinie beschwor, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre: geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige – stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts bemühtem Theoriebau so etwas wie „epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört“ als Assoziation ein. Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung – ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon.

Da stand auch nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken – und beschwor: ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, liebevolle Prinzessin und vermeintlich souveränen reichen Mann, final tobenden Teufel … und zahllose weitere Nuancen als fesselnde Klangdramatik – ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein: Beschwörung durch situativen Klang und aufgeladene Betonung – und Welt und Mensch sind imaginativ sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas heben und tief beeindruckt danken: für ein singuläres Kabinettstück, einen „Kunst-Brillanten“, der lange weiterstrahlt … und dann zurück in unsere Welt: eine Aufzeichnung auf DVD verdient!

Wolf-Dieter Peter

„L’histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“) (1918) // Igor Strawinsky

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 17. Februar 2021 für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 4,90 Euro.