Was ist eine Chuzpe, eine Unverfrorenheit? Wenn der Sohn die Eltern um die Ecke bringt und dann vor Gericht Freispruch fordert, weil er Vollwaise ist.

Die Chuzpe in „Angel’s Bone“, jetzt als europäische Erstaufführung am Staatstheater Augsburg herausgebracht, geht so: Mrs. X.E., diese US-Mittelstandshausfrau, ist unzufrieden von den Zehennägeln bis zu den Haarspitzen über Ehe und arbeitslosen Mann. Doch da stürzen zwei Engel ab – in ihren Vorgarten hinein. Während Mr. X.E. noch überlegt, wie er Erste Hilfe leisten kann, ist Mrs. X.E. gedanklich schon einen Schritt weiter: „Was, wenn ich bestimmt wäre, legendär zu sein? Was, wenn ich mehr verdiene?“ Sie macht ihrem Mann Feuer unterm Hintern, weist ihn an, die Engelsflügel zu stutzen, auf dass keine Flucht mehr möglich werde für Boy Angel und Girl Angel – und dann rollt sie auch schon an, die PR-Maschinerie in der eigenen Gemeinde. Zu buchen sind die Flügelwesen viertelstundenweise, vollkommen vertraulich, vollkommen privat. Fügsamkeit und Segnung von allem wird obendrein versprochen. Also floriert das Geschäft, und in der Gemeinde erwachen auch andere Begierden. Manch frommer Bulle fordert handgreiflich mehr als nur himmlischen Erlösungsbeistand in Glaubensfragen.

Das geht so lange schlecht, bis die zwei Engel zerschunden, gebrochen, verbraucht sind und Mr. X.E. sich mit Feder und letaler Folge die Pulsadern aufschneidet. Und dann eben setzt hier die Chuzpe ein, diese Über-Bigotterie der Mrs. X.E., die ihren toten Mann erst sämtlicher krimineller Energie beschuldigt, dann die beiden Engel um Verzeihung bittet und – hochschwanger durch Boy Angel – in einer TV-Show schwadroniert, sie habe nie legendär werden wollen, sei hilflos gewesen. Ihr Ruhm habe einen hohen Preis, nun sei ihr Leben zerbrochen. So wird denn in „Angel’s Bone“, polystilistisch komponiert von der in New York lebenden Chinesin Du Yun (*1977) und ausgezeichnet mit dem Pulitzer-Preis für Musik, unter Anteilnahme des zielgerichtet emotionalisierten Fernsehpublikums aus einer generalstabsmäßigen Täterin ein anscheinend bemitleidenswertes Opfer.

Dass zwei Engel in „Angel’s Bone“ als Protagonisten des Leidens erscheinen (Alma Naidu und Claudio Zazzaro), ist natürlich nur ein überhöhender Kunstkniff Du Yuns. Übersetzt stehen sie für zwei unschuldige Menschenkinder, die genötigt, versklavt, missbraucht, vergewaltigt werden. Tatsächlich war auch ein realer US-Versklavungsfall ein Kompositionsanlass. Ausgesprochen unmittelbar wird das Publikum von der pausenlos knapp eineinhalbstündigen Oper überrollt, weil Antje Schupp unverbrämt die herrschende Scheinheiligkeit sowie die latente und ausbrechende Gewalt des Werks inszeniert – rund um einen drehbaren Bühnenaufbau, der Küche, Wandelaltar (Grünewalds Isenheimer Altar) und Spiegel(sex)studio mit Matratze gleichermaßen darstellt (Ausstattung: Christoph Rufer und Mona Hapke).

Luise von Garnier als Mrs. X.E. und Wiard Witholt als Mr. X.E. agieren dabei als überzeugende Sängerdarsteller, er getrieben, sie stets das Heft in der Hand haltend. Und Ivan Demidov am Pult verdichtet mit den Augsburger Philharmonikern das ungeheuerliche Geschehen. Ein knallhartes Stück, das an die Nieren geht. Dass es Du Yun aber nicht ganz groß geraten ist, dafür bleibt die illustrative „Funktionstüchtigkeit“ ihrer Musik ausschlaggebend, die Verdopplung des Geschehens. Zu heiliger Engelshandlung ertönt verfremdete sakrale Madrigalmusik, zu Geschäftstüchtigkeit ein Song im Stile Kurt Weills, zu Scheinheiligkeit verführerischer US-Schmonzes. Und Gewaltexzesse auf der Bühne werden – unnötig elektrisch verstärkt – von Gewaltexzessen im Orchester begleitet. Eine lautstarke, leicht eindimensionale Performance.

Rüdiger Heinze

„Angel’s Bone“ (2016) // Oper von Du Yun

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Augsburg