Hof / Theater Hof (Mai 2025) Auf der Raumbühne erfüllen sich private und kollektive Schicksale
Schroffe Kontrastwirkung: George Antheils Kammeroper „The Brothers“, eine zum Dreieckskonflikt hochgeschaukelte Paraphrase der Genesis-Episode des ersten Brudermords, und Johannes Harneits „Der Jüngste Tag ist jetzt“ als negative Apokalypse und irdisches Dies irae, werden im Theater Hof ein beklemmendes Erinnerungstheater zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Diese Sukzession von innerer menschlicher und äußerer kriegsbedingter Zerstörung wirkt in Aylin Kaips erst fast steriler, dann ergrauter Ausstattung auch deshalb, weil sie den Kontrast zwischen dem noch immer wie neu erscheinenden Theaterbau aus dem Jahr 1994 und den von Menschen in diesem Musiktheater-Doppel angerichteten Verwüstungen planvoll sichtbar werden lässt.
Instrumental- und Stimmklang entfalten sich auf der Raumbühne mit opulenter Klarheit, wenn 13 beziehungsweise 16 Mitglieder der Hofer Symphoniker auf dem hochgefahrenen Graben spielen. Peter Kattermann leistet am Pult eine immense Zähl- und Koordinationsleistung, welche ihm und allen intensiv agierenden Mitwirkenden das Publikum mit riesigem Applaus dankt. Der Chor (topsichere Einstudierung: Ruben Hawer) zischt, skandiert, ächzt, raunt. Stefanie Rhaue als Frau, Markus Gruber als Zivilist, Michal Rudziński als Soldat und Annina Olivia Battaglia als „flüchtende“ Stimme verkörpern zutiefst eindringlich vier Personenmuster von Kriegsopfern. Intendant Lothar Krause setzt ein Antikriegs-Memorandum ohne die direkte Darstellung von Krieg. Über das Libretto von Xavier Zuber glitzert ein wissenschaftlicher Beitrag des Physikers Markus Pössel. Es ist das Verdienst der dramaturgisch bestechenden Werkkombination, dass sie die gespreizte Betroffenheitsgestik von Harneits Musik in sinnliche Leiderfahrung umzumünzen vermag.
Der Höhepunkt der Premiere ist Antheils 55-minütiger Katastrophenreport. Zwei Ex-Soldaten (Markus Gruber und Michal Rudziński) sind signifikant, bleiben allerdings peripher. Die Dreiecksgeschichte um die blinde, in ihren Reden oft Entscheidendes verschweigende Mary, die dem als Soldat in den Krieg gezogenen Ken in einem Abschiedsbrief den Laufpass gibt und dessen von den Eltern begünstigten Bruder Abe heiratet, geht dagegen zutiefst unter die Haut. Die blinde Mary und der grundsympathische Abe stecken tief in einer nur angedeuteten Schuldverstrickung. Der nach dem Krieg bei Abe und Mary unterkommende Ken zeigt erst später Gewaltpotenzial. Inga Lisa Lehr spielt Mary mit lyrisch eindringlicher Sopran-Emphase. Dazu übertüncht Antheil psychische und physische Gewalt mit weichen Klanggebilden und Melodien. Tenor Minseok Kim und Bariton Andrii Chakov reizen den Tennessee-Williams-Groove der Handlung mit psychischer Schärfe aus und dosieren physische Power mit Sensibilität. Bei beiden steckt virile Emotionen- und Rivalitäten-Wildnis hinter prachtvollen und dabei maßhaltenden Stimmen, welche zu Antheils balladesker Musik einen Roman erzählen. Am Ende liegen sie beide blutüberströmt im verwüsteten Eigenheim. Dazu setzt Kattermann einen mit expressiver Stille verklingenden Schlussakkord.
Roland H. Dippel
„The Brothers“ (1954) // Oper von George Antheil
„Der Jüngste Tag ist jetzt“ (2003) // Szenisches Requiem von Johannes Harneit