Bekannt ist das 2023 neu gestartete Baltic Opera Festival wohl vor allem für die spektakuläre Naturkulisse der Waldoper von Sopot, die sich nach ihrer Eröffnung 1909 rasch als „Bayreuth des Nordens“ etablierte. Und obwohl die Werke Richard Wagners auch in der aktuellen Inkarnation eine nicht ganz unwichtige Rolle spielen, ist der künstlerische Leiter Tomasz Konieczny stetig um eine Erweiterung des Repertoires bemüht. Neben den großen Produktionen auf der Waldbühne sticht in diesem Sommer vor allem ein neues Werk des polnischen Komponisten Alek Nowak heraus, das begleitend in der Opera Bałtycka im benachbarten Gdańsk gezeigt wird und den mit Strauss’ „Salome“ begonnen roten Faden klug weiterführt.

„Głos Potwora“ („Die Stimme des Monsters“) basiert auf der Autobiografie von Salomon „Salli“ Perel, die 1990 von Regisseurin Agnieszka Holland unter dem Titel „Hitlerjunge Salomon“ verfilmt wurde. Die Geschichte eines jüdischen Jungen, der sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen als Deutscher ausgibt, als vermeintlicher Held später sogar in die Eliteschule der Hitler-Jugend aufgenommen wird und den Holocaust so wie durch ein Wunder überlebt. Ein Stoff wie geschaffen für eine Oper. Aber ganz so einfach machen es Alek Nowak und sein Librettist Robert Bolesto dem Publikum dann doch auch wieder nicht. Denn sie verweben Perels Leben in ihrem Bühnenwerk mit Motiven aus der griechischen Mythologie – im Bestreben, der Geschichte so eine universelle Gültigkeit über das reine Zeitdokument hinaus zu geben.

Die bewusst nüchtern gehaltene Inszenierung von Agnieszka Smoczyńska beginnt in einem Museum, das eine Ausstellung über die Vernichtung der Medusa vorbereitet. Protagonist ist ein namenloser Kurator, der sich mit Fortschreiten der Oper immer tiefer in den antiken Mythos hineinfantasiert: zunächst als mutiger Perseus, bald aber als Medusa selbst, die nach ihrer Vergewaltigung durch Poseidon in die Verbannung gejagt wird. Ein Opfer, das anstelle des Täters büßen muss und für sein Verbrechen sogar in ein Monster verwandelt wird.

Ob sich die Parallelen zu Perel auch ohne vorherige Kenntnis des Films oder von Perels Buch erschließen, ist schwer zu beurteilen. Doch mit dem nötigen Wissen im Hinterkopf liegt klar auf der Hand, wer sich hinter dem blutrünstigen Höllenfürsten Hades verbirgt oder wer in der Schule der rachsüchtigen Erinnyen zum Hass erzogen wird. Und immerhin verlässt auch Smoczyńska die stilisierte Ebene, um auf der Zielgeraden zu drastischeren Motiven zu greifen, wenn auf einer Video-Leinwand Projektionen von Kindern in Uniform auftauchen, ehe es abgeschlagene Medusa-Köpfe aus dem Bühnenhimmel regnet.

Alek Nowak bleibt in dieser Partitur stets seiner eigenen scharfkantigen Musiksprache treu, lässt an markanter Stelle aber ebenso jiddische Kantoren-Gesänge oder militärische Marschrhythmen durchscheinen, die Dirigent Yaroslav Shemet kontrastreich herausarbeitet. Shemet hält Graben und Bühne auch bei den großen Chorszenen gut in Balance und erweist sich als sichere Stütze für Protagonist Jan Jakub Monowid. Denn der Countertenor hat die knapp 80-minütige Oper beinahe im Alleingang zu tragen und absolviert diese Tour de force mit absoluter Bravour. Während sich alle übrigen Charaktere – einer Hydra gleich – stets als mehrstimmiger Chor Gehör verschaffen, bleibt er die einsame Identifikationsfigur fürs Publikum und macht seine innere Zerrissenheit beklemmend spürbar. Ob nun als Kurator, Perseus, Medusa oder Salli, ist dabei zweitrangig. Sie alle verschmelzen in Monowids packender Interpretation zu einer einzigen Person, die in dunklen Zeiten auf der Suche nach sich selbst ist. Eine emotionale Achterbahnfahrt zwischen Trauer, Hoffnung und erster Liebe, die keinen im Saal kalt lässt und nach kurzem respektvollem Schweigen beim Schlussapplaus umso heftiger bejubelt wird.

Tobias Hell

„Głos Potwora“ („Die Stimme des Monsters“) (2025) // Oper von Alek Nowak