Gedenken an den Holocaust, ein Stück über die ökologische Ressourcenplünderung im Turbokapitalismus, Gewissenskonflikte im Rechtsruck und Brückenschläge zum Themenjahr „Faust“ der Klassik Stiftung Weimar … Beim siebten und letzten von Rolf C. Hemke geleiteten Kunstfest Weimar dominieren eindeutig politische Themen. Die Uraufführung der gleichnamigen Oper reflektiert Günter Wallraffs Bestseller-Reportage „Ganz unten“ von 1985 aus türkischer Perspektive. Emotional, effektvoll und sehr milde geben sich der Fusion-Komponist Sabri Tuluğ Tırpan und Textdichter Mehmet Ergen. Das Trio des Komponisten am Klavier mit dem Geiger Bora Gökay und dem Cellisten Burak Ayrancı setzt Klänge wie aus Kurt Weills deutschen Bühnenwerken, etwas Atmosphäre à la Erik Satie und akademische Gründlichkeit.

Trotz dieses moderaten Kolorits ist das Projekt einer Doku-Oper mit einem horriblen Sujet vom beginnenden Niedergang des deutschen Wirtschaftswunders ein Muss. Denn hier positionieren sich nicht die Verursacher des sozialen Drucks, sondern die Kinder jener Gastarbeiter- und Migranten-Generation, ohne die Westdeutschland sich nie in die vorderste Reihe der Industrie- und Exportnationen hätte hochschleusen können. Die plakative Szenenfolge verzichtet aufs Lamentieren und spiegelt die 1980er Jahre nüchtern, ja fast schüchtern. Die den bundesrepublikanischen Zeitgeist der Vorwendejahre sacht spiegelnden Kostüme von Defne Özdoğan machen sparsam eine dichte, aber wenig suggestive Atmosphäre. Das Leben „Ganz unten“ in den 1980ern kannte Großstadt-Glitzern nur verschwommen. Eine saubere Armut wird sichtbar und das Licht von Richard Williamson wirkt leicht schmutzig.

Mehmet Ergens Regie führt die sechs Darstellenden in den vielen Rollen übersichtlich strukturiert, deutlich und leise. Die Theatermittel schließen kabarettgemäße Tanznummern ein. Der Autor Günter Wallraff und die von diesem für die Recherchezüge selbst verkörperte Prekariats-Kunstfigur Ali sind in zwei in ihrer Physiognomie sehr unterschiedliche Darsteller aufgespalten. Diese Brecht’sche Verfremdung ist eine unter mehreren und hat Vorzüge. Der schlanke Günter Wallraff (Ryan Wichert) mit Brille kommentiert, reflektiert, räsoniert. Der größere, leicht bullige und vom Arbeitsstress bald entpersönlichte Ali (Burak Bilgili) agiert langsam. Wallraff spricht viel. Ali singt häufiger, meistens geschlossene Melodien und resignative Aufwallungen.

Die Videos und Fotodokumente aus den 1980er Jahren machen die krasse Faktenfülle von Text und Oper leider etwas klein, wirken wie staunendes und affektives Studententheater angesichts einer die Spielenden überwältigenden Welt. Güvenç Dağüstün, Lou Strenger, Ömer Cem Çoltu und Talha Kaya sind höchst engagierte, emotional präsente und agile Darstellende für das keineswegs einfache Choreografie-Design von Beyhan Murphy und Mert Öztekin. Trotzdem: Die Härten und Spaltungen von heute sind mindestens ebenso sozialdarwinistisch, menschenfeindlich, unachtsam und perfide wie vor 40 Jahren. Weil Wallraffs publizistisch-detektivischer Meilenstein deshalb noch immer relevant ist, bleibt die Uraufführungsproduktion etwas harmlos. Viel Applaus und Anerkennung, auch vom koproduzierenden Goethe Institut und der Istanbul Music Association.

Roland H. Dippel

„Ganz unten“ (2025) // Doku-Oper von Sabri Tuluğ Tırpan (Komposition), Mehmet Ergen (Libretto) und Günter Wallraff (originale Textvorlage); Übersetzung von Zeynep Anacan