Groß sind die Erwartungen an Tobias Kratzer, den neuen Intendanten der Staatsoper Hamburg. Mit Robert Schumanns Oratorium „Das Paradies und die Peri“ gelingt ihm zum Auftakt ein erster Meilenstein für eine neue Ära.

Die Peri, ein gefallener Engel, muss eine Gabe finden, um wieder in den Himmel zu dürfen. Die ersten zwei Versuche – das Blut eines Freiheitskämpfers und der letzte Seufzer einer Frau, die mit ihrem pestkranken Geliebten sterben will – reichen nicht. Erst die Tränen eines reuigen Verbrechers, berührt vom Anblick eines Kindes, öffnen das Himmelstor.

Kratzer setzt in der Suche nach der Erlösung auf starke Bilder: beginnend mit einer Peri, die mit verbliebenen Federn versucht, wieder zu fliegen, über einen Chor, der endlos hektisch von beiden Seiten über die Bühne läuft und Peri den Anschluss verwehrt, bis zu Kindern, die unter einer Glaskuppel mit Autos und Flugzeugen spielen, während Schornsteine alles vernebeln und sie umkommen lassen. Absperrbänder und Quarantäne-Zelte zu „stirbt jetzt, als hätte er keinen Freund“ offenbaren Kratzers akribische Liebe zum Libretto wie auch der Abschlusschor „Sei uns willkommen, sei uns gegrüßt!“, der sich vor allem ans Publikum richtet.

Denn neben Konflikten, Pandemien und Umweltproblemen geht es Kratzer um die Beziehung zwischen Bühne und Publikum: Wie können wir alle gemeinsam mit der Kunst eine Rolle spielen? Zur Verdeutlichung wird im Publikum (inszeniert) gebuht, geschlafen, Mundschutz getragen, geweint, während die Kamera all das auf eine LED-Wand überträgt. Die zeigt schon beim Einlass das Publikum, überschrieben mit „Willkommen!“ – wie auch beim finalen Coup: Der Engel wird zum Bühnenarbeiter, die Peri zum Teil des Chors. Wenn das Saallicht zu den letzten Klängen („Sei uns willkommen“) angeht, stürmt die Peri von der Bühne. Kunst und Gemeinschaft als Erlösung und Paradies – oder doch nicht?

Kratzers bewährtes Kreativteam begeistert auch hier: Rainer Sellmaier sorgt mit einer cleanen grauen Bühne und Elementen wie Plastik-Palmen und verklärend-kitschigen Himmelsbildern sowie mit zeitlos-schlichten Kostümen für die ideale Projektionsfläche. Video (Manuel Braun) und Licht (Michael Bauer) unterstreichen pointiert.

Auch musikalisch ist der Abend ein präzises Miteinander, wie man es an diesem Haus selten gehört hat. GMD Omer Meir Wellber balanciert mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg die eingängige Musik Schumanns wunderbar. Der entfesselte Chor (Leitung: Alice Meregaglia) beeindruckt mit Volumen und spielt endlich auch. Und ausnahmslos alle Solistinnen und Solisten glänzen.

Wie Vera-Lotte Boecker als Peri jegliche Feinheiten zum Ausdruck bringt – selbst wenn sie durch die Publikumsreihen klettert und auf Stuhllehnen stehend singt –, ist wahrlich paradiesisch. Annika Schlichts angenehm heller Klang fesselt schon zu Beginn, Tenor Kai Kluge brilliert klar und ausdrucksstark als dauerpräsenter Erzähler, Christoph Pohl überzeugt u.a. als strenger Herrscher mit markantem Bariton, Countertenor Ivan Borodulin verzaubert als Engel mit seinem berührend-feinen Klang und Lunga Eric Hallams warme Stimme lässt gemeinsam mit Eliza Booms wohligem Sopran die Sterbeszene noch dramatischer wirken. Auch schauspielerisch sind alle Singenden überirdisch.

Kratzer schlägt an der Staatsoper Hamburg ein neues Kapitel auf – und das Publikum? Scheint erlöst!

Christoph Oscar Hofbauer

„Das Paradies und die Peri“ (1843) // Weltliches Oratorium von Robert Schumann

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Hamburg

kostenfreier Stream bis 26. Dezember 2025 auf arte.tv