Der Wiener Vizehofkapellmeister Antonio Caldara lieferte mit „Ifigenia in Aulide“ bereits 1718 eine mindestens ebenso zynische Spielplan-Alternative zu Offenbachs 145 jüngerer Opéra-bouffe „Die schöne Helena“. Dabei kommen in Apostolo Zenos Text für den Hof Kaisers Karls VI. die Männer bei der den Beginn des Trojanischen Kriegs verzögernden Flaute um vieles besser weg als die Frauen. Coup Zenos ist die Tatsache, dass Ifigenia die Opferung dann doch erspart bleibt. An ihrer Stelle erdolcht sich zur Besänftigung der olympischen Götter eine gewisse Elisena. Diese wenig bekannte Stoffalternative fanden der französische Tragödiendichter Racine und Zeno in einem Bericht des Pausanias aus dem 2. Jahrhundert nach Christus. In der fast strichlosen Wiederentdeckung bei den 49. Innsbrucker Festwochen der Alten Musik und deren unerschöpflich füllbarem Motto „Wer hält die Fäden in der Hand?“ schenken die Griechen dem Tod Elisenas keine Beileidssekunde zu viel.

Bei Ottavio Dantone und der Accademia Bizantina kommen die Kontraste zwischen Caldaras ständigen Dreiklangsbrechungen des Blechs und der immer glanzvollen Behandlung der anderen Instrumentengruppen ideal zur Geltung. Die langen Rezitative erhalten die bestdenkbare Präzisierung. Dank des persönlichkeitsstarken Solo-Ensembles – vor allem bei den Männern – gerät der fast vierstündige Abend musikalisch weitaus differenzierter als szenisch. Das mit Puppen, Erlesenheit und sparsamen satirischen Spitzen arbeitende Kollektiv Companyia PerPoc um Anna Fernández und Santi Arnal agiert in Alexandra Semenovas Dekor. Warum die drei Frauenfiguren immer wieder lebensgroße Puppen vor sich hertragen, lässt vielerlei Deutungen zu. Alles wirkt wie an der Schnittstelle von Exklusivität und Karikatur.

Elisena, die Figur mit der größten Schicksalsbürde, ist eine fast leichtgewichtige Gesangspartie. Da kann die als „Beste Nachwuchssängerin“ für den Österreichischen Musiktheaterpreis 2025 nominierte Neima Fischer vor allem Innigkeit, aber schwerlich das eigentlich essenzielle dramatische Gewicht setzen. Marie Lys wirft als Ifigenia rasant viel jugendlichen Primadonnen-Aplomb ins Rennen. Shakèd Bar gibt eine Clitennestra, auf die alle Vorbehalte des Dramaturgen Lessing gegen Intrigantinnen mit machiavellistischen Prinzipien zutreffen. Mutter und Tochter bilden ein Duo infernal, gegen das die hellenischen Kampfmaschinen beruhigend harmlos wirken.

Zwei Spitzen-Countertenöre teilen sich die Bühne. Nach selbstverliebten Kapriolen steigert sich Carlo Vistoli als Achille bei seinem Festwochen-Debüt zum fast sentimentalen Heros. Filippo Mineccia ist der zweite Liebende Teucro. Mineccia wächst seit einiger Zeit immer mehr in das Fach des gebrochenen Barock-Helden und geiststarken Ratgebers hinein. Auch Tenor Martin Vanberg als Agamemnone ist ein bemerkenswert differenzierender Charakter, er wäre ebenso ideal in einer ernsthaften Offenbach-Inszenierung. Laurence Kilsby vereint als Ulisse schöne Stimme und Nachdruck, Bariton Giacomo Nanni rät auf edler Linie zu Besonnenheit.

Festwochen-Leiter Dantone macht also barockes Musikdrama mit klaren Mitteln, aus denen immer wieder Sarkasmen schießen und Perfidien züngeln. Diese „Ifigenia in Aulide“ ist alles andere als ein retrobarockes Huldigungsspiel, so schön und bewegend auch manche Arie klingt. Riesenapplaus.

Roland H. Dippel

„Ifigenia in Aulide“ (1718) // Oper von Antonio Caldara, kritische Ausgabe von Bernardo Ticci und Ottavio Dantone