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Rezensionen 2025/02

Aus einem Guss

Lübeck / Theater Lübeck (Februar 2025)
„Tristan und Isolde“ im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks

Lübeck / Theater Lübeck (Februar 2025)
„Tristan und Isolde“ im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks

Nach einer sehr ansprechenden „Tristan und Isolde“-Produktion vor zwölf Jahren setzt das Theater Lübeck seine beachtliche Pflege des Werks von Richard Wagner mit einer Neuinszenierung seines Opus summum fort. Regie führt Altmeister Stephen Lawless im Bühnenbild und den Kostümen von Frank Philipp Schlößmann, die musikalische Leitung liegt bei Generalmusikdirektor Stefan Vladar. Und wieder wird es im dezenten und stets stimmungsvollen Licht von Falk Hampel eine sehr gute, ja streckenweise emotional stark einnehmende Produktion.

Schlicht und einfach auf die Ideen Wagners abstellend, sieht man in einen breiten Schiffsrumpf, nicht so voll gerümpelt wie jener in Bayreuth im letzten Jahr. Hier sind nur zwei Sessel für Tristan und Isolde und ein paar Umzugskisten zu sehen. Dafür weist der Rumpf in der Mitte einen großen Spalt auf, der sich öffnet oder schließt, je nachdem, ob es auf der Bühne zu einer harmonischen Situation, also einer Annäherung zwischen Tristan und Isolde kommt oder diese Harmonie gestört ist. Dann sieht man einen großen Spalt, der sich nahezu bedrohlich öffnet. Das ist’s eigentlich schon mit der Optik, die durch eine ausgefeilte Personenregie ergänzt wird.

Das Sänger-Ensemble weiß diese außerordentlich nachvollziehbar umzusetzen. Lena Kutzner debütiert als Isolde mit großer und klar artikulierter Spielfreude sehr authentisch mit ihrem klangvollen jugendlich-dramatischen Sopran. Ihr ebenbürtig debütiert Ric Furman als großer und stattlich aussehender Tristan mit einem kraftvollen und höhensicheren Tenor und reizvoller baritonaler Unterlegung. Marlene Lichtenberg ist nach ihrem Rollendebüt in Glyndebourne als Brangäne ein echtes Erlebnis. Ihr bestens projizierender und kräftiger Mezzo hat in letzter Zeit noch an Potenz gewonnen, und darstellerisch verkörpert sie die Rolle mit einer äußerst einnehmenden Mimik.

Rúni Brattaberg ist als Marke schwer indisponiert und singt nur, um die Aufführung zu retten. Steffen Kubach gibt mit schönem Timbre und guter Resonanz einen auch darstellerisch ausdrucksstarken Kurwenal. Seine Interaktion mit Tristan im dritten Aufzug hat sehr viel Emotion, wie überhaupt Lawless in seiner Inszenierung Emotionen relativ viel Freiraum lässt. So wandelt Brangäne bei ihrem ersten Ruf langsam, fast mystisch über die Bühne, während sich im Hintergrund Tristan und Isolde im Dunkel näherkommen. Der meist etwas peinlich wirkende Kampf am Schluss läuft teilweise als Schattenspiel nur im Hintergrund ab und erzielt damit sogar mehr Wirkung.

Vladar dirigiert zum ersten Mal „Tristan und Isolde“ und weiß das Philharmonische Orchester der Hansestadt Lübeck zu einer ausgezeichneten Leistung zu motivieren, die den Abend in Verbindung mit Bühnenbild und Gesang im Sinne des Wagner’schen Gesamtkunstwerks wie aus einem Guss werden lässt. Entsprechend ist der kaum enden wollende Applaus.

Dr. Klaus Billand

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Theaters Lübeck

Kuss der Muse?

Wuppertal / Oper Wuppertal (Januar 2025)
Eine Wupperetten-Revue bekommt nichts so richtig „gewuppt“

Wuppertal / Oper Wuppertal (Januar 2025)
Eine Wupperetten-Revue bekommt nichts so richtig „gewuppt“

Als gegen Ende des vorigen Jahrhunderts Frank Loessers Broadway-Hit „Guys and Dolls“ an der Oper Wuppertal auf dem Programm stand, wurde der Premieren-Applaus auch durch viele Buhs und Missfallensbekundungen („Raus aus unserem Opernhaus!“) überschattet. Das Musical hatte es eben nicht leicht beim überalterten Abo-Publikum, das allenfalls die Operette in seinen heiligen Hallen duldete. Mittlerweile hat sich das amerikanische Musiktheater an vielen Opernhäusern hierzulande einen festen (und meist auch finanziell erfolgreichen) Nischenplatz erobert. Die Wupperetten-Revue „Von Thalia geküsst“ bedient sich nun bei beiden Genres: Im Mittelpunkt stehen die Operetten-Melodien der goldenen 1920er und 30er Jahre von Ralph Benatzky über Eduard Künneke bis hin zu Mischa Spoliansky und zeitgenössische Chansons, umrahmt von einer musicalartigen Revue.

Ort der Handlung ist das legendäre, 1906 gegründete Wuppertaler Thalia-Theater, das der jüdische Schauspieler Robert Riemer 1929 übernahm und ihm mit einer Mischung aus Operetten, Revuen und Filmvorstellungen zu neuem Glanz verhalf – bis er 1933 vor den Nazis in die USA floh.

Und so stimmen auf den Bühnenhintergrund projizierte, historische Filmaufnahmen und Fotos aus jenen Tagen auf die von Dramaturgin Laura Knoll geschriebene Geschichte ein. Doch der Charme dieses Openings wird gleich von der so gar nicht zu einer Revue passenden Ouvertüre aus Franz von Suppès „Die schöne Galathée“ zunichte gemacht. Die kommt so bräsig aus dem Orchestergraben, dass man schon einzunicken droht, ehe es überhaupt losgeht. Leider überkommen einen diese Müdigkeitsattacken immer wieder während der nur knapp 90 Minuten dauernden Vorstellung, weil die Auswahl der 23 Musiknummern eher beliebig wirkt und die Inszenierung von Intendantin Rebekah Rota sie selten mit der Handlung korrespondieren lässt. Wenn man schon einem so schillernden Impresario wie Robert Riemer ein theatralisches Denkmal setzt, dann wäre eigentlich ein wenig Varieté-Zauber und Kino-Nostalgie angesagt gewesen, als nur betuliche Operetten-Seligkeit. Aber so bleiben die hell leuchtenden Showtreppen (Bühne: Sabine Lindner) unbetanzt, während das Tanz-Ensemble sich im Dunkeln an den nicht gerade dynamischen Choreografien von Edison Vigil abarbeitet. Selbst seine Referenz an „Singin’ in the Rain“ will durch die wenig schmissigen Operetten-Melodien nicht zünden.

Bleibt die schlichte Handlung, die durch die fehlenden Show-Qualitäten der Inszenierung den bescheidenen Unterhaltungswert des Abends tragen muss: Luise (Elia Cohen-Weissert) verliebt sich in Peter (Merlin Wagner), ihr Bruder Felix (Zachary Wilson) in Thalia (Edith Grossman), die Göttin des Theaters. Die war vom Himmel herabgestiegen, um Robert Riemer (Oliver Weidinger) und seine Frau Frieda (Vera Egorova) vor der Insolvenz zu retten. Ein mit viel Spielfreude und schönen Gesangsstimmen dargebotener Beziehungsreigen, dem Edith Grossman mit einer kleinen Stepp-Einlage wenigstens einen Hauch von Revue beschert.

Rolf-Rüdiger Hamacher

„Von Thalia geküsst“ (2025) // Eine Wupperetten-Revue mit Musik von Eduard Künneke, Ralph Benatzky, Franz Lehár u. a.; Buch und Dialoge von Laura Knoll

Infos und Termine auf der Website der Oper Wuppertal

Käpt’n Dalands Spuk-Kaschemme

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Januar 2025)
„Der fliegende Holländer“ läuft szenisch auf Grund

Wenn das Publikum den Zuschauersaal des Wiesbadener Staatstheaters betritt, ist auf der Bühne bereits eine Piraten-Motto-Party im Gange, zu der eine Texteinblendung erläutert, dass der Geschäftsmann Daland eine solche alle sieben Jahre veranstaltet. Zur Ouvertüre wird auf eine Leinwand ein wildes Amalgam aus Seefahrer-, Mantel-und-Degen- sowie Gruselgeschichte in Schwarz-Weiß-Optik projiziert: Eine junge Frau sitzt träumend am Spinnrad in einer Burg an felsiger Küste, davor brandet das Meer. Ein Seefahrer naht auf seinem Schiff, geht an Land, führt ein paar Degenkämpfe, erreicht endlich das Burgfräulein und – beißt ihr in den Hals (!).

Weil dies in Nachahmung expressionistischer Stummfilmästhetik mit einer Überzeichnung von Gestik und Mimik einhergeht, möchte man es für eine Parodie halten. Die Regie von Martin G. Berger meint es aber bitterernst. Sie deutet die Sage nämlich psychologisch als Ausdruck eines verdrängten Kindesmissbrauchs, der allmählich in eingeblendeten Filmrückblicken offenbart wird. Als dessen Konsequenz habe Dalands Frau einst ihren Mann verlassen und die Teenager-Tochter Senta mit sich genommen, um sie vor weiteren sexuellen Übergriffen des Vaters zu bewahren. Nun kehrt die erwachsene Senta zurück. In dieser Deutung ist der Holländer das Alter Ego Dalands, eine Projektion seiner düsteren Triebe.

Leider ist es unmöglich, die grotesk überzeichnete Spukgestalt mit überlangem Mantel, Piratenhut und Zottelbart (Kostüme: Esther Bialas) auch nur für eine Sekunde ernst zu nehmen. Schon deswegen funktioniert das Regiekonzept nicht, von den permanenten Reibungen des gesungenen Textes mit der gezeigten Handlung ganz abgesehen. Alles wirkt wie eine schräge Mischung aus Murnaus „Nosferatu“ und Disneys „Käpt’n Blackbeards Spuk-Kaschemme“. Entweder ist diese Komik unfreiwillig oder sie ist dem Thema des inzestuösen Kindesmissbrauchs unangemessen.

Schade ist es um die Besetzung, denn mit Tommi Hakala steht in der Titelpartie ein Sänger zur Verfügung, dessen kerniger Heldenbariton mühelos eine ungefährdete Höhenlage mit satter Tiefe verbindet. Seine Auftrittsarie („Die Frist ist um“) ist der erste musikalische Höhepunkt des Abends. Ideal besetzt ist die Senta mit Dorothea Herbert. Ihre Stimme besitzt jugendliche Frische und Kraft ohne Schärfe. Ohne Anstrengung kann sie in der „Ballade“ die Höhen attackieren, reich ist ihr Spektrum an Klangfarben und dynamischer Differenzierung. Young Doo Park bewährt sich als Daland mit seinem sonoren Bass, während Aaron Cawley als Erik sich nach starkem Beginn zunehmend mit der Höhenlage abmüht. Mühelos frisch präsentiert sich Lukas Schmidt als Steuermann, mit tadellosem Mezzo gibt Ariana Lucas die Mary. Nach der uneinheitlichen Ouvertüre fasst das Orchester unter seinem neuen Generalmusikdirektor Leo McFall im weiteren Verlauf Tritt und zeigt insgesamt eine solide Leistung. Der Chorklang ist kräftig und präsent.

Und doch läuft dieser musikalisch ordentliche und sängerisch teils beachtliche „Holländer“ szenisch in den Untiefen eines unausgegorenen Regiekonzepts auf Grund.

Dr. Michael Demel

„Der fliegende Holländer“ (1843) // Romantische Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden

Nichts ist komischer als das Unglück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Januar 2025)
Galgenhumor für György Kurtágs Beckett-Vertonung „Fin de partie“

„Fin de partie“ ist die einzige Oper von György Kurtág. Der ungarische Komponist (*1926) vertonte hierfür das französische Original von Samuel Becketts Einakter „Endspiel“. Nach einem zähen Entstehungsprozess wurde die Oper 2018 an der Mailänder Scala uraufgeführt. Nach Stationen in Dortmund und Wien bringt jetzt auch die Berliner Staatsoper dieses finster-absurde Musiktheater auf die Bühne. Regie führt Johannes Erath, der bereits in Graz eng mit der neuen Intendantin Elisabeth Sobotka zusammenarbeitete.

In „Fin de partie“ geht es um vier Überlebende einer ungenannten Katastrophe. Bühnenbildner Kaspar Glarner steckt sie in ein winziges vergilbtes Tapetenzimmer mit abgeklebten Fenstern. Hausherr Hamm, der mit Blindenbrille im Rollstuhl sitzt, drangsaliert seinen steifbeinigen Diener Clov. Hamms Eltern Nagg und Nell, die seit einem Tandem-Unfall keine Beine mehr haben, hausen in zwei Mülltonnen.

Während die Dortmunder Inszenierung von Ingo Kerkhof das Publikum quasi mit auf die Opernbühne holte, setzt Johannes Erath auf maximale Distanz. Das Geschehen im Zimmer ist eingerahmt wie eine Postkarte, dann wieder wird die Perspektive verfremdet und verzerrt. So blicken wir mit Naggs Augen aus der Mülltonne, durch einen kreisförmigen Ausschnitt, in den Raum hinein. Derweil wird auf die schwarze Fläche um diesen Ausschnitt herum schattenhaft projiziert, was jenseits der Mülltonne vor sich geht.

Dem intimen Kammerspiel für vier Sänger stellt Kurtág ein 60-köpfiges Orchester gegenüber. Das soll jedoch nicht für opulenten Klangrausch sorgen, sondern beleuchtet den stets verständlichen Text mit fragmentarischen Zwischentönen, schillernden Farben, filigranen Tongespinsten im Pianissimo. Celesta und zwei Knopfakkordeons sorgen für einen Hauch von Zirkus und Varieté. All diese hochkomplexen akustischen Feinheiten kosten Dirigent Alexander Soddy und die Staatskapelle Berlin wirkungsvoll aus. Feingefühl und Expressivität gehen dabei Hand in Hand.

Regisseur Erath liest das zwischen Absurdität und Tragik kippelnde Stück in erster Linie als Komödie. Visuell spektakulär ist am Ende ein umgestürztes Riesenrad, das die gesamte Bühne einnimmt. Clov und Hamm turnen kerngesund in silbernen Glitzeranzügen darauf herum. Im Zeichen des absurden Theaters, das unlogische Szenarien ausdrücklich erlaubt, ist so ein Eingriff durchaus legitim. Die vier Solisten bieten einen großen Abend und meistern fulminant ihre französischen Monologe, die mit unzähligen komplizierten Taktwechseln gespickt sind. Die feinfühlige Personenregie schärft die Charaktere und Interaktionen.

Nuanciert und spannungsreich singt der französische Bassbariton Laurent Naouri die ausufernden Selbstgespräche des in stoischer Würde an seinen Rollstuhl gefesselten Hamm. Bo Skovhus setzt seine enorme Bühnenpräsenz und sein Slapstick-Talent für den clownesken Diener Clov ein. Als Nell sinniert Dalia Schaechter mit mildem Mezzo ihren Erinnerungen und dem Endspiel ihrer Ehe nach. Aus ihrem Mund kommt ein zentraler Satz des Abends: „Nichts ist komischer als das Unglück.“ Stephan Rügamer als Nagg witzelt sich mit seiner mal schneidenden, mal schmeichelnden Tenorstimme durch seine letzten Stunden.

Der ausweglose Überlebenskampf der vier nicht voneinander loskommenden Gestalten wird hier in eine gehörige Portion Galgenhumor verpackt. Dennoch macht sich im Laufe der 100 pausenlosen Minuten immer mehr Beklemmung breit, das Lachen bleibt einem im Halse stecken. Am Ende sorgen die grandiosen Sängerdarsteller und das funkelnde Orchester für begeisterten Applaus.

Antje Rößler

„Fin de Partie“ (2018) // Oper von György Kurtág

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Unter den Linden

Zu wissen, wer man ist

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2024)
Damiano Michieletto setzt „La fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene

Das illustre Münchner Premierenpublikum – Anne-Sophie Mutter in der Königsloge – ist begeistert. Es gibt wiederholt Szenenapplaus und frenetischen Beifall mit Fußgetrampel am Ende. Star des Abends ist der mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete Tenor Xabier Anduaga. Er verkörpert Tonio, den Tiroler, der die Regimentstochter Marie einst vor dem Sturz in einen Abgrund bewahrte, sich in sie verliebte und dem sie das Leben rettet, als das 21. Regiment der französischen Armee ihn als Spion köpfen möchte. Mit dem herrlichen Schmelz seines Timbres, voluminöser Strahlkraft und körperbetonten Spitzentönen interpretiert er auch die bekannteste Arie der Oper, die Cavatine „Ah! mes amis, quel jour de fête!“ mit neun hohen Cs, in der er sein Schicksal preist, Soldat und Bräutigam zu sein. Der gewaltige Beifall nach dieser Arie löst minutenlange Erstarrung auf der Bühne aus, ehe die Marquise de Berkenfield Marie als ihre „Nichte“ mit auf ihr Anwesen nimmt, um sie standesgemäß zu bilden und zu verheiraten.

Regisseur Damiano Michieletto und sein Bühnenbildner Paolo Fantin, die eine langjährige Zusammenarbeit verbindet, setzen Gaetano Donizettis komische Oper „la fille du régiment“ mit Witz und Ironie in Szene. Der realistische Wald im Hintergrund der Spielfläche, in dem sich plötzlich ein „Fenster“ in das Anwesen der Marquise öffnet, erscheint im zweiten Akt als Bild, aus dem die Soldaten einfallen, um Marie zurückzuholen. Mit den Kostümen von Agostino Cavalca bietet die Inszenierung wirkungsvolle Momente der Symbolik und ironischen Brechung. Doch erlangt sie damit keine Tiefe. Daran ändert auch die Schauspielerin Sunnyi Melles als Duchesse de Crakentorp und Erzählerin nichts. In neu verfassten Monologen an Stelle der Dialoge führt sie durch die Handlung und erklärt forsch: „Das Einzige, was im Leben zählt, ist zu wissen, wer man ist.“ Von all den Fragen um die psychologische Komplexität der Marketenderin Marie, das Frau-Werden eines Mädchens, das unter Soldaten aufwächst, sowie den historischen Kontext der Handlung, die das Programmheft aufwirft, berührt die Inszenierung keine. Vielmehr irritiert die romantische Verklärung des Soldatenlebens, die, angetrieben von den Trompetensignalen und Trommelwirbeln der Musik, immer wieder in Klamauk mündet.

So wird der Abend zu einem Fest für Melomanen. Neben Xabier Anduaga ist es Sopranistin Pretty Yende in der Rolle der Marie, die mit ihrer Bühnenpräsenz, ihrem darstellerischen Talent und ihrem Gesang, der sich von Lyrischem über halsbrecherische Koloraturen bis zu Durchbrüchen über den Schönklang hinaus erstreckt, das Publikum zu Beifallsstürmen hinreißt. Auch der Bariton Misha Kiria als Sergeant Sulpice und Maries Ziehvater sowie die Sopranistin Dorothea Röschmann als Marquise de Berkenfield und Maries leibliche Mutter überzeugen mit ihren komischen Übertreibungen und ihrem Gesang. Und Stefano Montanari geleitet das wie immer exzellent spielende Bayerische Staatsorchester mit Esprit durch alle Kontraste der Partitur.

Ruth Renée Reif

„La fille du régiment“ (1840) // Opéra comique von Gaetano Donizetti

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

Mit allen Facetten

Stuttgart / Staatstoper Stuttgart (Dezember 2024)
Cornelius Meister zelebriert Johann Strauss’ „Casanova“

Stuttgart / Staatstoper Stuttgart (Dezember 2024)
Cornelius Meister zelebriert Johann Strauss’ „Casanova“

1928 hatte der Intendant des Großen Berliner Schauspielhauses Erik Charell die Idee, unter Verwendung wertvoller Musikteile von Johann Strauss (Sohn) eine Operetten-Revue zu kompilieren. Ralph Benatzky sollte ihm dieses Arrangement erstellen und dabei zugleich eine Brücke zum Jazz schlagen, gefertigt aus eher unbekannt gebliebenen Strauss-Bühnenwerken wie „Indigo“ oder „Prinz Methusalem“. Und mit Einlagen für ein Männer-Vokalquintett, das in diesem Stück seinen ersten großen öffentlichen Auftritt hatte, den es weltberühmt machte: die Comedian Harmonists.

Unter der inspirierten Stabführung von Cornelius Meister blitzt, funkt und zündet es. Meister kann Operette mit allen Facetten: schwelgerisch-süffig in den zarten Melodiewendungen, mit perfekt dosierter Süße in den Liebesduetten, einschließlich einer latenten Melancholie. Das Staatsorchester Stuttgart folgt ihm gewandt, und der Staatsopernchor hat seinen von Bernhard Moncado perfekt einstudierten Spaß am Persiflieren.

Den hat zuweilen auch Regisseur Marco Štorman. Schade nur, dass er sich dabei immer wieder selbst im Wege steht. Dass er Solisten, Ensembles und Chor führen kann, steht außer Frage. Man weiß aber nicht so recht, wohin er konzeptionell möchte. Einerseits zieht er temperamentvoll seine Register zwischen leisem Humor und knall-draller Komik, andererseits will er auch aktuelle kritische Impulse setzen. Doch die Anspielungen auf Elon Musk oder die AfD verpuffen aufgrund ihrer Aufgesetztheit. Wie zudem die eingelagerten „Textinseln“ über die antike Dichterin Sappho alles Spielerische immer wieder ins Stocken bringen.

Dass die Titelfigur wie Botticellis Venus einer Muschel entsteigt, verwundert. Das soll wohl Androgynität vorstellen. Und Casanova in einer lächerlichen Fellhose herumlaufen zu lassen, wirkt genauso deplatziert. Ansonsten sind die Kostüme von Yassu Yabara genauso pracht- wie fantasievoll. Und das farbenfrohe Bühnenbild von Demian Wohler ist in der raffinierten Ausleuchtung von Valentin Däumler und Clemens Gorzella gekonnt opulent, weshalb es in dieser Massivität nicht gerechtfertigt scheint, beim Schlussvorhang das Regieteam derart gnadenlos auszubuhen. Ein Übriges zur Haben-Seite leistet die fetzige Choreografie von Cassie Augusta Jørgensen.

Ein feiner Zug vom Solisten-Ensemble ist, dass insbesondere die Herren gemeinsam die Songs der Comedian Harmonists professionell gestalten, darunter der charaktervolle Elmar Gilbertsson, der markige Bariton Johannes Kammler und der großzügig tenoralen Schmelz verschenkende Moritz Kallenberg. Bei den Damen gefallen die substanzreiche Maria Theresa Ullrich, die silbrige Stine Marie Fischer und die blühende Esther Dierkes. Michael Mayes beginnt seinen Casanova mit genussvoll dröhnendem Bass-Pathos und wahrt dabei die gebotene Leichtigkeit in der Stimmführung. Bedauerlich, dass ihm im Verlauf die Kräfte schwinden. Doch hörenswert ist dieser Beitrag zum großen Johann-Strauss-Jahr 2025 allemal.

Dr. Jörg Riedlbauer

„Casanova“ (1928) // Revue-Operette von Ralph Benatzky mit Musik von Johann Strauss (Sohn)

Belebte Poesie

Basel / Theater Basel (Dezember 2024)
Christoph Marthaler verzaubert mit seinem Musiktheater „Tiefer Graben 8“

Basel / Theater Basel (Dezember 2024)
Christoph Marthaler verzaubert mit seinem Musiktheater „Tiefer Graben 8“

Die Musik ist von Ludwig van Beethoven. Es handelt sich um eine Auswahl eher seltener Fundstücke, die der Komponist und Dirigent Johannes Harneit bearbeitet hat. Sylvain Cambreling lässt mit dem Sinfonieorchester Basel, dem von Michael Clark präparierten Chor und den Protagonisten lauter musikalische Schmuckstücke daraus werden. Die Text-Melange aus Alltagsbanalität, Lebenswitz oder Glückskeksweisheit stammt von Heimito von Doderer (1896-1966).

Für das Musiktheater, das dabei herauskommt, zeichnen der Schweizer Theatersonderling Christoph Marthaler und die kongeniale Raumerfinderin Anna Viebrock verantwortlich, die vor allem dann überzeugen, wenn sie Arm in Arm ins Rennen gehen wie im Falle von „Tiefer Graben 8“. Der Titel verweist auf eine der Wiener Adressen des notorischen Wohnungswechslers Beethoven.

In typischer Marthaler-Manier finden Typen zusammen, treffen aufeinander, reden aneinander vorbei, wiederholen sich, verstehen einander nicht. Kerstin Avemo, Nikola Weisse, Ueli Jäggi, Magne Håvard Brekke, Andrew Murphy, Raphael Clamer, Bendix Dethleffsen, Martin Hug und Lulama Taifasi können sich allesamt in diesem exemplarischen Marthaler-Theater profilieren und sind Teil einer fiktiven Hausgemeinschaft zwischen Auseinanderfliegen und Aufeinandertreffen, zwischen Zusammenhalten und Gegeneinander-Sticheln.

All das spielt sich vor dem Hintergrund einer nüchtern grauen Allerwelt-Fassade ab. Links sieht man ein Zimmer mit gleich drei Klavieren. Der Mittelteil mit einer tristen Flurtreppe kann sich aus der Rückwand Richtung Rampe lösen. Im rechten Teil des Raumtriptychons befindet sich ein Schlafzimmer, davor ein Raum mit mehreren Tischen, als wäre es eine Wiener Kneipe. Überall liegen meterlange Läufer, die man zusammen- und wieder ausrollen kann, wie man das eben so macht beim Umziehen.

Die Frage „Wohnen Sie hier?“ bekommt in diesem Ambiente einen Unterton à la: „Sie wohnen doch nicht etwa hier?“ Ein Leitmotiv im Running-Gag-Gewand: eins von Marthalers Markenzeichen. Das Programmheft listet die Beethoven-Stücke auf, meist werden ihre Titel beim Erklingen eingeblendet. Sie bleiben in diesem Kontext und in dieser Bearbeitung gleichwohl dicht an einer Neuentdeckung, selbst wenn auf „Christus am Ölberg“, „Missa Solemnis“ oder „Egmont“ verwiesen wird. Hier fügt sich alles, passt und klingt vertraut. Dank Harneits Bearbeitung hört sich manches tatsächlich wie neu an. Marthaler bietet ein Theater, das auf seine eigene Art etwas belebt und zum Klingen bringt, von dem man gar nicht genau sagen kann, was es ist. Der poetische Zauber von Theater? So falsch ist das nicht.

Dr. Joachim Lange

„Tiefer Graben 8“ (2024) // Musiktheater mit Musik von Ludwig van Beethoven