Suizid in allen Variationen: Erschießen, erdolchen, erhängen, vergiften … Das erste Bild, das Regisseur Nurkan Erpulat in seiner „Werther“-Inszenierung dem Publikum „zumutet“, verschlägt einem den Atem – die von Modjgan Hashemian choreografierten Moves („The Crowd“ sind Tänzer und Studierende der ADK Bayern) sind verstörend. Höllisch der Anblick sich Suizidierender, himmlisch gelungen die musikalische und tänzerische „Illustration“. Wuchtvoll erwächst das Gefühl von Aussichtslosigkeit: Die verzweifelte Liebe Werthers und Charlottes wird im Vorspiel hör- und sichtbar. Eindringlichkeit und Intensität durchzieht den gesamten Premierenabend. Hoch lebe die Oper im Liveformat!

Vom Coup de foudre der ersten Begegnung mit Charlotte verkommt Werthers „Liebe auf den ersten Blick“ im Verlauf von Goethes Briefroman zur unerträglichen Pein und endet in Selbstzerstörung. Der Überempfindsame ist gefangen in verzweifelter Leidenschaft zu der Frau, die er nicht haben kann. Charlotte will loyal zu Albert bleiben, den zu heiraten sie der verstorbenen Mutter gelobt hat. Ihr Gewissen fesselt das Herz, bannt den Geliebten, der ihr, bevor er sich umbringt, zum Gefühlsterroristen wird. Diese „Leiden des jungen Werthers“ enthalten massenweise „Stoff“ für große Gesten.

Im Operngewand bleibt das Werk zeitlos aktuell, skizziert in bewegender, von großer Intimität geprägter Partitur fatale zwischenmenschliche Verstrickungen. Erpulats Inszenierung lebt von starken metaphorischen Bild- und Bewegungsmomenten im sparsamen Bühnenbild (Katrin Nottrodt). Die Bühnenlandschaft spiegelt die Vielschichtigkeit der Emotionen wider – schiefe Ebenen, Treppen, mittig steht ein versenkbarer Raum mit verschiebbaren Glastüren, durch die in der Ballszene tanzende Gäste zu sehen sind. Immer wieder kommt die multifunktionale Drehbühne zum wirkstarken Einsatz, bewegt im Freeze befindliche Protagonisten oder verändert die räumliche Stellung zueinander. In Ausdruckstanz ähnlichem Bewegungsvokabular agiert „The Crowd“, macht in einzelnen Szenen in Gruppenbewegungen Gedanken und Emotionen der Hauptfiguren „sichtbar“ – beeindruckend.

Die „artigen“ Kinder der Amtmann-Familie proben und singen mit dem Vater (Daniel Ochoa) und den älteren Schwestern Sophie und Charlotte im Sommer ein Weihnachtsspiel – ein skurriles Familienidyll. Reizend der Einsatz der Kinder: Spielend, lachend und singend erfüllen sie die Szenen mit erfrischender Heiterkeit. So auch Charlottes Schwester Sophie (Eva Zalenga), die nicht nur stimmlich umwerfend ist, sondern ihre Rolle in allen Facetten mit Herzenswärme füllt. Seymur Karimov als Albert singt kraftvoll und vermittelt als blasser Bürokrat Solidität – was ihm in seiner Rolle an Leidenschaft fehlt, das sollte Werther im Übermaß haben. Amar Muchhala als Werther kann stimmlich in seidenmattem Tenorglanz voll überzeugen, legt auch reichlich Gefühl in seinen Gesang, „stolpert“ aber im körperlichen Ausdruck etwas ungelenk durch seine Gefühlswallungen. Vera Semieniuk als Charlotte setzt mit stimmlicher Ausdruckskraft die bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Linien mit Aufrichtigkeit und Finesse um: „Um nicht mich zu verlieren, habe ich dich verloren.“ Man glaubt es ihr wirklich.

Das Philharmonische Orchester Regensburg schafft unter Tom Woods’ Leitung Fantastisches, meistert die raffinierten Harmonien mit Verve und setzt somit dem Regensburger „Werther“ die Krone auf.

Kirsten Benekam

„Werther“ (1892) // Drame lyrique von Jules Massenet

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