Natürlich kommen in Braunschweig bei der Neuinszenierung des Benatzky-Singspiels „Im Weißen Rössl“ alle Ohrwürmer dran. Da kann man im Salzkammergut „gut lustig sein“; da muss es „was Wunderbares sein“, geliebt zu werden; da kann der Sigismund nichts dafür, „dass er so schön ist“; da steht im Weißen Rössl „das Glück vor der Tür“ und „zuschau’n“ kann der bedauernswerte Zahlkellner Leopold nicht beim Flirt seiner angebeteten Chefin Josepha mit dem Dauergast Dr. Otto Siedler. Alle Lieder und Couplets werden toll gesungen. Aus dem Orchestergraben flutet rauschhaft Sinfonisches hervor, gestaltet vom Braunschweiger Staatsorchester unter der präzisen und zugleich emotional erfüllten Leitung von Alexander Sinan Binder.

Aber diese Hits sind eingebettet in eine innovative Deutung des Geschehens. Denn auch in Braunschweig verschafft man der jahrelang verschmähten Operette wieder ein neues Standing. Und da wagt Regisseur Immo Karaman unter Einbeziehung von Schauspiel und Ballett Extremes – zunächst sehr befremdlich wirkend, im Laufe des Abends aber immer mehr faszinierend. Die Rössl-Wirtin spielt ein Mann in Frauenkleidern (herausragend: Matthew Peña). Erst am Schluss wird dieser Travestie-Streich entschlüsselt. Der Zahlkellner Leopold schwankt zwischen Männer- und Frauenliebe. Fast alle Bewegungsabläufe werden als Slapsticks grotesk überzeichnet (unglaublich gymnastisch dabei: Ivan Marković als Leopold). Und die von Fabian Posca bunt und zugleich exakt choreografierten Tanzszenen würden einem internationalen Travestie-Club Ehre machen. Das Bühnenbild (auch Immo Karaman) vermeidet mit minimalistischem Aufwand allen Operetten-Schnickschnack.

Synchron zu dieser surrealistisch-skurril wirkenden, gleichwohl höchst amüsanten Aktionsweise gibt es eine andere Deutungsebene. Wartende Menschen (der großartig singende Chor) an einer öden Bushaltestelle könnten Touristen auf dem Weg zum Wolfgangsee sein. Die Beleuchtung und das Outfit aber aktivieren auch Deportationsbilder. An der gleichen Haltestelle wartet Leopold nach seiner Entlassung einsam und melancholisch auf den Bus und singt leise „Zuschau’n kann i net“, während er sich auf einem Akkordeon begleitet. Herzergreifend! Und dann die Enttarnung der „Wirtin“: Beim schon von Nazi-Herrschaft überschatteten Schützenfest fällt die Frauen-Perücke vom Kopf. Schrecklich! Die Männer, völkisch in Krachlederne gekleidet, vertreiben daraufhin die „Wirtin“ und Leopold erkennt nun, dass sie ein Mann ist. Vielleicht hat er das schon die ganze Zeit gewusst. Denn im Schlussbild gehen Leopold und die „Wirtin“ Hand in Hand über die leere Bühne aus der Szene. Sehr bewegend!

Harter Schnitt zum glitzernden Finale. Mit einer Persiflage auf TV-Shows der 50er Jahre werden noch einmal alle Paare durch den Kakao dieser spießigen Ästhetik gezogen und ironisiert. Das ist eine amüsante Idee, die aber etwas zu lang ausgewalzt wird. Riesenbeifall und viele Vorhänge zeigen: Karaman wagt und gewinnt. Braunschweig ist eine Theaterreise wert.

Claus-Ulrich Heinke

„Im Weißen Rössl“ (1930) // Singspiel von Ralph Benatzky, bühnenpraktische Rekonstruktion der Originalfassung von Matthias Grimminger und Henning Hagedorn unter Mitarbeit von Winfried Fechner

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Braunschweig