Im Operngewächshaus der großen Gefühle gibt es auch Exoten – und so eine „Opern-Orchidee“ ist Riccardo Zandonais 1914 uraufgeführte „Francesca da Rimini“. Er studierte bei Pietro Mascagni und gehört zu der Generation, die Wagners „Tristan“ und Debussys „Pelléas“, aber auch die meisten Verismo-Vulkanausbrüche erlebt und über Puccini hinaus verarbeitet hat. Hinzu kam eine Portion Endzeitgefühl, ein bisschen Sinn für dekadentes Spiel mit den Abgründen menschlicher Seelen – viel Sinn speziell für die Rolle der Frau in machtversessenen Männergesellschaften – und dann noch das kompositorische Vermögen, dies alles in faszinierend changierende, klangdramatisch mal sensible, mal furiose Musik zu fassen.

Francescas Schicksal hat schon Dante in seiner „Commedia“ gestaltet. Seither taucht sie im Kanon italienischer Literatur in vielfacher Gestaltung auf. Zandonai erlebte das Bühnendrama des damaligen Dichterfürsten Gabriele d’Annunzio, das dieser seiner Geliebten Eleonore Duse geschrieben hatte. Er erkannte den Opernstoff und kein Geringerer als Tito Ricordi schrieb ihm das Libretto: Wortgewalt und Kenntnis der italienischen Renaissance flossen ineinander. Erzählt wird die Geschichte der schönen, sensiblen und leidenschaftlichen Francesca, die aus machtpolitischen Gründen an einen von drei Brüdern verschachert wird. Sie glaubt, an den edlen und schönen Paolo, in den sie sich auf den ersten Blick verliebt, der aber nur als Prokurator für seinen grobschlächtigen, hinkenden Bruder Gianciotto auftritt; dieser ertappt die ehebrecherischen Liebenden schließlich und ersticht beide. Diese dramaturgisch überzeugend gewobene Handlung und sich ausdrücklich auf den Artus-Roman von „Tristan und Isolde“ beziehende Oper wurde auch deshalb das, was sie ist: eine reizvolle Besonderheit, eine Opern-Orchidee.

Für die sänger-darstellerisch heraufordernde Titelfigur konnte die Deutsche Oper Berlin abermals Sara Jakubiak mit Regisseur Christof Loy zusammenbringen. Atemverschlagend trat der sensibel-schönen Jakubiak-Francesca dann der junge Franco Corelli – nein, sein vokaler und äußerlicher Wiedergänger Jonathan Tetelman – gegenüber. Den wuchtigen, in der Maske einem König Marke angenäherten Gianciotto gestaltete Ivan Inverardi mit herrlich dunklem Bariton überzeugend zwischen Macht-gewohntem Oligarchen, mafiosem Padre-Padrone und Mord-erfahrenem Junta-Boss. Wütend verlangte er vom intriganten dritten Bruder Malatestino (gekonnt allglatt-kalt Charles Workman) den Beweis und stach erst dann zu. Auch der Flor der Freudinnen Francescas war mädchenhaft leichtfüßig und vokal klangschön besetzt, von Meechot Marreros ernst-strenger Biancafiore bis hin zur anschmiegsamen Sklavin Smaragdi von Amira Elmadfa und der besorgten Schwester Samaritana (Alexandra Hutton).

Sie alle hatte Bühnenbildner Johannes Leiacker in einen großen hellen Saal eines oberitalienischen Palazzo versetzt, dessen liebliche Blumentapete die duftige Anmut der zunächst dominierenden Frauen unterstrich. Drei Stufen führten zu einer breiten Schiebetür, hinter der sich ein lichter Wintergarten öffnete. Dessen Glaswand gab den Blick auf eine grüne, in der Weite sanft ansteigende Berglandschaft frei – Adaption einer Landschaft von Claude Lorrain. Dieses Einheitsbühnenbild passte perfekt zum ersten und dritten Akt. Für die wilde Kriegsszene des zweiten Akts erwies der Raum sich eher als Korsett, so wüst-turbulent der Bewegungschor auch hin und her stürzte und zusammenbrach. Auch für das Schlafgemach des mörderischen Finales hätte man sich einen intimeren Raum gewünscht – selbst wenn Klaus Bruns’ Kostüme ein zeitloses 20. Jahrhundert beschworen.

Doch dies blieb ein Randwunsch angesichts des Zusammenklangs der Liebenden, den Carlo Rizzi mit dem großen – weil während aller Probenwochen dauernd getesteten – Orchester der Deutschen Oper Berlin klug steigerte und somit den mal drängenden, mal verhaltenen und dann schwelgerisch sich aussingenden Tonfall Zandonais traf. Inmitten der uns oft banal nackt, vor allem aber meist zu handfest direkt gezeigten „Liebe“ ist Christof Loy der Regisseur zarter Nuancen und sanfter Steigerung, aus denen sich gebändigtes Feuer langsam in lodernde Glut und Ich-vergessene Leidenschaft entlädt. Sara Jakubiak kann ihre entspannt schwingenden Linien dazu vibrieren lassen – und so wurde der erste Eintritt Paolos zu diesem sofortigen „Er ist es“, das noch verborgen werden musste. Zu Loys analytisch-differenzierter Deutung Francescas gehörte auch das mit vorgetäuschter Souveränität und lockerer Primadonnen-Grandezza geführte Gespräch mit dem erduldeten Ehemann Gianciotto. Francescas Anprobe für Roben aller Art klang dagegen eher wie mädchenhaftes Modegeschnatter – nervöse Vorahnung des kommenden Geliebten. Diesem hatte Jonathan Tetelman in den ersten Gesprächen mit Francesca bereits verhaltenen Tenorglanz verliehen. Etwas später konnte man seine fesselnden Übergänge vom „tenore lirico“ zum „eroico“ bestaunen, denn über seine drängende Glut hinaus schlugen Sopran- und Tenor-Phrasen in leidenschaftlich strahlendes Duettieren zusammen. Fortissimo eben nicht als „lauteste“, sondern die am stärksten tönende Emotion. Ein überwältigendes Finale, das Francesca und Paolo neben die anderen unsterblichen Liebespaare eintreten ließ ins weltvergessene All-Einssein.

Wolf-Dieter Peter

„Francesca da Rimini“ (1914) // Tragedia von Riccardo Zandonai

Die Inszenierung ist als kostenpflichtiger Stream auf takt1.de verfügbar.