Als der Stuttgarter Intendant Viktor Schoner den Regisseur und Choreografen Eric Gauthier eingeladen hatte, eine Oper zu inszenieren, wollte dieser keines der bekannten Werke auf die Bühne bringen. Stattdessen besann er sich auf ein Verfahren, das bis ins späte 18. Jahrhundert durchaus gängige Praxis im Musiktheater war: das Pasticcio, bei dem ein neues Theaterstück zu bereits bestehender Musik von verschiedenen Komponisten aufgeführt wird.

In Stuttgart lässt Gauthier zwei Handlungslinien parallel laufen. Zum einen bereitet sich eine Festgesellschaft – Gastgeberin gleichermaßen wie Gäste – auf ein Fest vor und kommt auf diese Weise in einem eleganten Rahmen zusammen, für den sich Kostümbildnerin Gudrun Schretzmeier eine wunderbare Gewandung hat einfallen lassen. Zugleich wird die Geschichte der Gastgeberin erzählt, eine 90 Jahre alt gewordene Dame, welche aus Anlass ihres runden Geburtstags „La Fest“ ausrichtet und dabei zugleich, den nahenden Tod vor Augen, all jene Feste Revue passieren lässt, die in ihrem Leben bedeutsam gewesen sind – die späte Hochzeit in ihren Fünfzigern, eine Studentenparty, ein Zusammenkommen in früher Kindheit.

Diesem Geschehen im klugen Bühnenbild von Susanne Gschwender stellt Gauthier einen Prolog voran, bei dem er in der Art eines Showmasters sein Team vorstellt und das Publikum gekonnt einbezieht, u.a. zum gemeinsamen Singen mit dem Staatsopernchor animiert. Das kommt gut an, macht sicher vielen, die bislang noch gar nicht oder nur wenige Male aus unbegründeten Schwellenängsten heraus in der Oper gewesen sind, Lust auf mehr und erfreut die „Freaks“ genauso.

Im eigentlichen Teil der Aufführung geht Gauthier mit erkennbarer Spiellust in die Vollen, verbindet Schauspiel, Tanz, Musik, Licht und Farbe zu fantastischer Einheit, hat spürbar Freude an barocker Opulenz, inszeniert aber auch im Schlussgesang der alten Dame das in Barockstücken nicht minder bedeutsame „Memento mori“ mit großer Ernsthaftigkeit. Einmal abgesehen von der langatmigen Flaschendreherei-Szene bei der Studentenparty vergehen die pausenlosen zwei Stunden wie im Flug.

Natürlich gibt es in dieser Zeit, vom überflüssigen Rap-Remix von Bachs Air aus der dritten Orchestersuite einmal abgesehen, durchweg wunderbare Musik zu hören, die sonst kaum zu erleben ist. Gemeinsam mit dem wieder einmal vorzüglichen Solisten-Ensemble bis hin zu Lia Grizelj vom Kinderchor der Staatsoper Stuttgart hat Benjamin Bayl Kostbarkeiten aus rund 150 Jahren Musikgeschichte ausgewählt. Gleichwohl: So richtig überzeugend ist er als Dirigent nur in jenen Musikteilen, die mit einer kleinen Orchester-Besetzung musiziert und von ihm vom Cembalo aus geleitet werden; bei den groß besetzten Stücken, gar noch mit Chor, verliert er immer wieder den Kontakt zu den einzelnen Stimmgruppen. Glücklicherweise lässt sich der von Manuel Pujol hervorragend einstudierte Staatsopernchor wie auch das großartig sich diesen Repertoire-Raritäten annehmenden, von einem tollen Konzertmeister angeführte Staatsorchester Stuttgart von den mitunter wenig plausiblen Dirigier-Bewegungen nicht irritieren. Auch an stilistischer Differenzierung wäre angesichts des reichen Angebots von Chor und Orchester noch mehr herauszuholen.

Bei den Sängerinnen und Sängern zentriert sich das Geschehen um die hinreißende Diana Haller, die nicht nur schauspielerisch die Figur der alten Dame mit ihrer Rückverwandlung in die junge Frau und die abschließende Sterbeszene glaubhaft über die Bühne bringt, sondern schon im Prolog mit ihrem herrlichen mezza di voce auf der ersten Textsilbe „Alto Giove“ aus Porporas Oper „Polifemo“ aufhorchen lässt.

Die Sopranistin Claudia Muschio differenziert glasklar und höhensicher ihre Wut- und Eifersuchtsarien, ihre Kollegin Natasha Te Rupe Wilson steigt fulminant in ihr Duett aus Reinhard Keisers „Fredegunda“ ein, Countertenor Yuriy Mynenko bringt Vivaldis Giustino zum Leuchten, Tenor Alberto Robert überzeugt im italienischen Fach mehr als im deutschen, und Bariton Yannis François gefällt mit eleganter Stimmführung. Bewundernswert auch die Vielgestaltigkeit der Tänzerinnen und Tänzer mit einem stilistischen Spektrum bis hin zu Breakdance und Gebärdensprache. Ein besonderer Abend!

Dr. Jörg Riedlbauer

„La Fest“ (2023) // Oper als barocke Feier des Lebens von und mit Eric Gauthier – Musiktheaterkreation mit Arien, Ensembles, Chören und Tänzen von Johann Sebastian Bach, Riccardo Broschi, Antonio Caldara, Francesco Cavalli, John Dowland, Carl Heinrich Graun, Georg Friedrich Händel, Reinhard Keiser, Marin Marais, Tarquino Merula, Nicola Porpora, Henry Purcell, Jean-Philippe Rameau, Agostino Steffani, Georg Philipp Telemann, Leonardo Vinci und Antonio Vivaldi

Infos und Termine auf der Website der Staatsoper Stuttgart