Johanna steht. Sie steht auf dem Scheiterhaufen und sie steht vor Gericht. In einem großartigen musikalischen Gemälde hat Arthur Honegger das von Paul Claudel beschriebene Leben der Heiligen Jungfrau von Orléans vertont. In Bielefelds Rudolf-Oetker-Halle wird das Oratorium als „Lichtspieloper“ aufgeführt, mit Johanna Wokalek in der Titelrolle. Als Clou hat das Theater Bielefeld den Comic-Zeichner und Grafiker Reinhard Kleist verpflichtet. Parallel zur Aufführung fertigt er live Szenenskizzen an, deren Entstehen auf einem großen Bildschirm im Bühnenhintergrund zu verfolgen ist.

Es ist eng auf der Bühne, auf der neben dem Orchester auch die Chöre des Theaters stehen. Die zahlreichen Solisten singen in der szenischen Einrichtung von Wolfgang Nägele einerseits am linken Rand der Bühne, aber je nach Rollenverständnis auch von anderen Standorten aus. Rechts ist im Orchester ein Ondes Martenot platziert, jenes aus dem Theremin weiterentwickelte Instrument, mit dem elektronisch variable Töne erzeugt werden können. Demzufolge findet der Kinder- und Jugendchor auf dem linken Rang Platz.

Im Zentrum des Geschehens jedoch steht Johanna Wokalek. Sie steht die ganzen 90 Minuten durch. Denn es wird ja über sie verhandelt, gerichtet. Bruder Dominik (John Wesley Zielmann) ist ihr Gegenpart, der Episoden aus ihrem wahren Leben vorträgt. In diesen insgesamt drei Gesprächsteilen schweigt die Musik. Nicht aber z.B. in der Gerichtsverhandlung mit dem vorbestimmten Todesurteil. Der Vorsitzende Richter ist ein Schwein, die Beisitzer sind Schaf und Esel. Als Karikaturen im Text angelegt und so auch gezeichnet von Reinhard Kleist, erinnern sie an Honoré Daumier. Das Urteil stand vorher fest: Johanna soll mit dem Teufel im Bunde gewesen sein. Der Verdacht entsetzt sie. Sie bestreitet es. Vergeblich.

Wie es dazu kam, erklärt Bruder Dominik anhand der Erfindung des Kartenspiels. Dies ist die genialste Szene des Abends. Die Richter stehen am Zeichentisch von Reinhard Kleist. Und während er sich abmüht, die Szene auf Papier zu bannen, schieben die Richter die Karten mit den Abbildungen der Kriegsparteien hin und her, immer wieder neu mischend. Das ist auf dem Bildschirm im Hintergrund gut zu verfolgen. Selten wurde Machtpolitik so eindringlich dargestellt. Johanna, das einfache Mädchen aus Domrémy, versteht natürlich nichts. Sie ruft ihre Heiligen Katharina und Margarethe an. Aus deren Antwort versteht sie den Aufruf, den Dauphin nach Reims zu führen – was letztendlich ihren Untergang besiegelt. Die Frauenrollen Jungfrau (Veronika Lee), Margarethe (Mayan Goldenfeld) und Katharina (Freya Apffelstaedt) beeindrucken mit stimmlicher Intensität.

Musikalisch ist das Werk eine große Wundertüte, was aus der Entstehungszeit – 1934 – heraus zu verstehen ist. Mittelalterliches Mysterienspiel steht neben Stilelementen der 20er-Jahre-Revue, Chöre und Tänze aus Barock und Jazz werden ebenso verwendet wie Gregorianik und Volkslied. Von Honegger als erstem musikalisch eingesetzt, ist das Ondes Martenot zu Anfang und am Ende besonders deutlich zu hören. Bielefelds GMD Alexander Kalajdzic beherrscht den riesigen Aufwand – das Philharmonische Orchester, Chor, Extrachor, Kinder- und Jugendchor –, der zu dieser Aufführung notwendig ist, bestens. Die unterschiedlichen Stilelemente werden sorgsam herausgearbeitet, die Choreinsätze (Einstudierung: Hagen Enke) kommen exakt. Über allem aber steht Johanna Wokalek, die in dieser Rolle schon öfter aufgetreten ist. Es gelingt ihr, die unterschiedlichen Stimmungen der Johanna zu zeigen: Mut und Leidenschaft, Sehnsucht und Verzagtheit, Wut und Liebe. Der Applaus mündet in einem wohlverdienten Jubelsturm.

Ulrich Schmidt

„Jeanne d’Arc au bûcher“ („Johanna auf dem Scheiterhaufen“) (entstanden 1934/35; szenische Uraufführung 1942) // Dramatisches Oratorium von Arthur Honegger in der deutschen Fassung von Hans Reinhart

Infos und Termine auf der Website des Theaters Bielefeld