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Rezensionen

Schach den Königinnen

Dortmund / Oper Dortmund (November 2021)
Ambitionierte Ausgrabung von Ernest Guirauds und Camille Saint-Saëns’ „Frédégonde“

Dortmund / Oper Dortmund (November 2021)
Ambitionierte Ausgrabung von Ernest Guirauds und Camille Saint-Saëns’ „Frédégonde“

Es gibt zwei Gründe für den Wagemut der Oper Dortmund, das völlig unbekannte Drame lyrique „Frédégonde“ auf den Spielplan zu setzen. Einmal ist es eingebunden in den vierjährigen Zyklus „Wagner-Kosmos“ rund um die Neuinszenierung vom „Ring des Nibelungen“, als Beispiel für den französischen Wagnérisme. Zum anderen reiht es sich in die Aktivitäten anlässlich des 100. Todestags von Camille Saint-Saëns ein. Wobei nur die letzten beiden Akte samt Ballettmusik von dem Spätromantiker stammen. Denn der eigentliche Komponist war sein Freund Ernest Guiraud, jener französische Tonschöpfer, der heute für die Bearbeitungen von Bizets „Carmen“ und Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ bekannter ist denn für seine eigenen Werke. Guiraud aber starb vor der Vollendung und Paul Dukas orchestrierte die ersten drei Akte, während Saint-Saëns den Rest während eines dreimonatigen Aufenthalts in Saigon komplettierte. In der vietnamesischen Metropole, der jetzigen Ho-Chi-Minh-Stadt, fand 2017 auch die bislang einzige – konzertante – Vorstellung nach der Pariser Uraufführung 1895 statt.

„Frédégonde“ ist ein blutrünstiges Familiendrama, das historisch sehr frei um Machtränke innerhalb der Merowinger-Dynastie im 6. Jahrhundert kreist. Die Titelheldin, Mätresse und spätere Ehefrau des Königs Hilpéric, lässt erst dessen erste Gattin ermorden und danach ihre Schwägerin Brunhilda, die Konkurrentin um den Thron, verbannen. Darauf begeht Mérowig, Hilpérics mit Brunhilda verheirateter Sohn, Selbstmord.

Stilistisch kann man „Frédégonde“ als spätes Relikt einer Grand opéra mit opulenten Tableaus, großen Chören und einem hier gestrichenen Ballett einordnen. Beim ersten Hören klingen die drei musikalischen Handschriften wie eine Einheit, vielleicht melodiös einprägsamer bei Guiraud, gerade im Vergleich der beiden ausgedehnten Duette für das böse und gute Paar.

Die Aufführung musste pandemiebedingt mehrmals verschoben und an die neuen Gegebenheiten angepasst werden. Deshalb ist der Chor im Parkett und das Publikum nur in den Rängen platziert. Marie-Eve Signeyrole arbeitet in ihrer Inszenierung mit drei Ebenen. Zum einen läuft die krude Geschichte teils in Rückblenden als ein mit viel Sex and Crime gewürzter Stummfilm auf einer großen Leinwand ab. Parallel dazu finden Live-Aktionen auf dem vorderen Rand der Bühne statt. Und drittens sehen wir an der Seite zwei Statistinnen als Königinnen beim Schachspiel, ein Symbol für die Machtkämpfe.

Dass angesichts der visuellen Tripelung und der damit verbundenen bildnerischen Überfrachtung die Musik zu ihrem Recht kommt, ist dem sich leidenschaftlich einsetzenden Dirigenten Motonori Kobayashi und dem famosen Ensemble zu verdanken. Anna Sohn als höhenstarke, auch im Espressivo stimmlich kultivierte Brunhilda kontrastiert optimal mit dem wuchtigen Mezzo von Hyona Kims Frédégonde. Der erst kurz vor der Produktion eingesprungene Sergey Romanovsky, als Belcanto-Tenor eine Kapazität, zeigt als Mérowig auch im französischen Fach vokale Souveränität. Und Mandla Mndebele beglaubigt mit noblem Bariton den schwachen König. Eine Entdeckung, auf die die Oper Dortmund stolz sein kann.

Karin Coper

„Frédégonde“ (1895 uraufgeführt) // Drame lyrique von Ernest Guiraud und Camille Saint-Saëns in Zusammenarbeit mit Paul Dukas

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Ins Licht

Dessau / Anhaltisches Theater Dessau (November 2021)
Glänzende Deutung von Tschaikowskis selten gespieltem Spätwerk „Iolanta“

Dessau / Anhaltisches Theater Dessau (November 2021)
Glänzende Deutung von Tschaikowskis selten gespieltem Spätwerk „Iolanta“

Pjotr I. Tschaikowski (1840-1893) ist immer auf emotionale Überwältigung aus. Bei seiner letzten Oper „Iolanta“ setzte er noch mal eins drauf. Der Geschichte von der blinden Königstochter, der man ihre Blindheit verschweigt, die aber durch die Kraft der Liebe sehend wird, kann man kaum ausweichen. Musikalisch ist es russisches Pathos pur von einem großen Romantiker in Hochform komponiert, der parallel auch an seiner „Symphonie Patétique“ arbeitete. GMD Markus L. Frank am Pult der Anhaltischen Philharmonie Dessau schwelgt darin geradezu. Ohne, dass das Protagonisten-Ensemble dabei auch nur ansatzweise Probleme bekäme.

Dass das Ganze auf ein ergreifendes Happy End zuläuft, verrät die Inszenierung von Michael Schachermaier gleich zu Beginn. Da kehrt nämlich die erwachsene Iolanta an den Ort ihrer Kindheit zurück, sieht sich selbst als junges Mädchen, dem man in falscher Rücksicht eingeredet hatte, dass die Augen nur zum Weinen da seien. Jessica Rockstrohs Bühne ist ein Sanatorium, wirkt luftig, aber eingegrenzt. Ein königliches Refugium, das kein Fremder betreten darf. Was natürlich doch passiert. Der Ritter Graf Vaudémont, der hier im Kosmonauten-Anzug eindringt (mit geschmeidigem Tenor: Costa Latsos), verliebt sich in die schlafende Königstochter und erzählt ihr vom Licht. Der König (grimmig machtvoll: Don Lee) will ihn nur am Leben lassen, wenn Iolanta nach der Behandlung durch den maurischen Arzt Ibn Hakia (als überzeugender Einspringer: Valentin Anikin) sehend wird. Mit Iordanka Derilova hat Dessau eine Idealbesetzung für die Iolanta in den eigenen Reihen.

Die Inszenierung setzt auf dezente Opulenz: es gibt Riesen-Rosen. Der Kopfputz der Schwestern erinnert an Engelsflügel. Während der König und das Personal in Alltagszivil bzw. Krankenhauskluft auftauchen, kommt Ibn Hakia im Zaubermantel, der Ritter als Astronaut und der ursprüngliche Bräutigam Robert (Dmitry Lavrov) als Ritter aus dem Märchenbuch (Kostüme: Alexander Djurkov Hotter). Es sind Figuren aus dem Spielzeugkoffer des blinden Mädchens, die plötzlich lebendig vor ihr stehen. Iolanta wird sehend, Robert löst die Verlobung, der König macht den Eindringling zum Schwiegersohn. Das Wunder ist tatsächlich mal passiert. Schachermaier hat die Geschichte (von der Erinnerung am Anfang abgesehen) geradlinig mit viel Empathie erzählt. Am Ende triumphiert die Freude über das Licht. Was würde heutzutage besser passen?

Dr. Joachim Lange

„Иоланта“ („Iolanta“) (1892) // Lyrische Oper von Pjotr I. Tschaikowski

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Obdachlosigkeit am Fjord

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
Peter Eötvös thematisiert in seiner neuen Oper „Sleepless“ gesellschaftliche Rohheit

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
Peter Eötvös thematisiert in seiner neuen Oper „Sleepless“ gesellschaftliche Rohheit

Wer für die Pause der Uraufführung ein Lachscanapé bestellt hat, beißt mit einiger Beklemmung hinein. Den Vorbehalt bewirkt jenes Prachtexemplar des Raub- und Speisefischs, das Bühnenbildnerin Monika Pormale auf die Spielfläche wuchtet. Die eine Hälfte des Tieres ist komplett anzusehen, setzt sich aber die Drehscheibe in Bewegung, zeigt es sich filetiert, Rückgrat und Gräten stechen in den Raum. Der Riesenfisch weist nach Norwegen. Aus dem in der Sonne glitzernden Wasser springende Lachse bezeugen die übermütige Schönheit der Natur, auf der anderen Seite steht das raue Leben der Fischer. Unangepasste werden erbarmungslos aussortiert.

Librettistin Mari Mezei transformiert den 2014 erschienenen mit dem Titel der Oper gleichnamigen Roman des Norwegers Jon Fosse in ein Stationendrama. Die beiden Akte erzählen die Geschichte der zunächst hochschwangeren und dann jungen Mutter Alida und ihres Geliebten und Kindsvaters Asle. Beide sind mittellos und unverheiratet, es ergeht ihnen schlimmer noch als einst Maria und Josef. Hinter jeder Tür lauert Abweisung. Um Frau und Kind das nackte Überleben in unwirtlichen Novembernächten zu sichern, wird Asle zum dreifachen Mörder. Die Dorfbewohner lynchen ihn, Alida zieht des Kindes halber in die Heimat des weitaus älteren Asleik. Nach einem imaginären Dialog mit Asle ertränkt sie sich im Meer. Das Libretto erzählt über weite Strecken stringent, was aber nach Asles Tod geschieht, kommt als überlanger Epilog daher.

Eötvös erzeugt die Stimmungen und Farben der dreizehn Szenen seiner „Opera Ballad“ auf Basis jeweils eines der chromatischen Grundtöne. Den Quintenzirkel durchmessend, bezeichnet das h Anfang und Ende des Werks. Auch wenn Eötvös die Hardangerfiedel fasziniert, zitiert er norwegische Musik nur sparsam. Die Atmosphäre der Fjorde soll aus verminderten und das Somnambule dieser Welt evozierenden übermäßigen Dreiklängen in oft komplexer Schichtung erstehen. Zwei Vokaltrios figurieren gleichermaßen als Psyche Alidas und balladenhafte Erzählerinnen.

Regisseur Kornél Mundruczó betont weniger das Traumverlorene des Sujets als die Sozialreportage. Das Leben der Fischer ist hart, Alkohol, Prostitution und Lynchmord bieten willkommene Abwechslung. Monika Pormale staffiert ihren Riesenlachs mit realistischen Wohninterieurs aus, dem entsprechen Pormales wie zusammengewürfelte Kostüme.

Peter Eötvös leitet die Staatskapelle Berlin als versierter Anwalt seiner Partitur. Victoria Randem ist eine berührende Alida. Wo immer möglich, blüht sie vokal auf. Linard Vrielink lässt Asle auf unangenehmer kompositorischer Linie tenorale Höhen erklimmen. Als sich prostituierendes „Girl“ spannt Sarah Defrise virtuose Koloraturgirlanden. Den übelwollenden Man in Black gibt Tómas Tómasson mit bass-baritonaler Durchtriebenheit. Hanna Schwarz macht aus der kleinen Partie der herzlosen Old Woman ein Kabinettstück.   

Michael Kaminski

„Sleepless“ (2021) // Opera Ballad von Peter Eötvös

Barockes Glück

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (November 2021)
20 Jahre Le Concert d’Astrée mit André Campras „Idoménée“

Wenn die Staatskapelle im November traditionell auf Reisen geht, wird die Berliner Staatsoper zum Treffpunkt von Größen aus der Alte-Musik-Szene. Denn dann richtet sie die Barocktage aus, die 2021 im Zeichen Frankreichs stehen. Zur Eröffnungspremiere ist das Ensemble Le Concert d’Astrée aus Lille mit seiner Leiterin Emmanuelle Haïm angereist. Im Gepäck hat es die Oper „Idoménée“ von André Campra, einem hierzulande wenig Bekanntem. Doch im Paris des frühen 18. Jahrhunderts gehörte der 1660 in der Provence geborene Komponist zu den bedeutendsten Vertretern des Opéra-ballets und seine komödiantischen „Les fêtes vénitiennes“ waren 1710 der saisonale Publikumsrenner. Der kurz danach entstandene „Idoménée“ gehört zur Gattung der Tragédie en musique. Die Handlung kreist um den Kreterkönig Idoménée, der bei der Rückkehr aus dem Krieg Schiffsbruch erleidet, vom Meeresgott Neptun gerettet wird und ihm dafür den ersten Menschen, den er an Land trifft, opfern muss. Als dies sein Sohn Idamante ist, bittet er vergebens um Mitleid. Wahnsinnig geworden, tötet er den jungen Mann. Zurück bleiben zwei seelisch verletzte Frauen: die gefangene Trojanerin Ilione und ihre Rivalin Électre, beide in Idamante verliebt.

Ihre Traumata, emotionalen Verstörungen und Beziehungskonflikte will Àlex Ollé von der Truppe La Fura dels Baus in seiner zeitlosen Inszenierung sichtbar zu machen. Die beweglichen Plexiglaswände, mit denen Alfons Flores die Bühne ausgestattet hat, werden zu einem Spiegelbild der Gefühle. Videos, die Seestürme mit Ertrinkenden, düstere Schlossräume oder Feuersbrünste zeigen, visualisieren Träume und Erinnerungen der Figuren. Die Götter sind ihre Projektionen und deshalb identisch gekleidet. Idoménée findet seinen Gegenpart in Neptun, Électre in Venus und der personifizierten Eifersucht und an Ilione zerren Doppelgängerinnen mit Stricken als Symbol für ihre Zerrissenheit. Denn auch die Aktionen der energetischen Tanz-Compagnie Dantaz und des Chores sind Ausdruck vom Innenleben der Figuren.

Es sind teils starke Bilder, doch die wirkliche Kraft geht von der Musik aus. Affekte stimmlich ausloten, das kann die wunderbare Solistenschar: der noble Idoménée von Tassis Christoyannis, der feinstimmige Samuel Boden als Idamante und im Wechsel von Expressivität und Wohlklang Chiara Skerath als Ilione und Hélène Carpentier als Électre. Emmanuelle Haïm kennt das Stück genau und weiß Campras Stilmix aus französischen und italienischen Elementen zu verlebendigen. Mit ihren Händen modelliert sie ein Maximum an klanglichen Details und Farben, gibt dem Ensemble Impulse und atmet mit ihm.

Das musikalische Glück setzt sich drei Tage später beim Galakonzert zum 20-jährigen Bestehen von Le Concert d’Astrée fort. Auch Simon Rattle gibt sich die Ehre, doch es ist der Abend der Gründerin Emmanuelle Haïm, deren Vitalität auf ihre famosen Instrumentalisten und das erstrangige Gesangsdefilee überspringt. Umwerfend, in welche Basstiefen Andrea Mastroni dringt, mit welchem Furor Lea Desandre und Carlo Vistoli Koloraturen-Feuerwerke abbrennen oder Michael Spyres den stimmlichen Umfang seines Baritenors ausstellt. Natalie Dessay feiert ein exquisites Comeback und Sandrine Piau läutet das Finale mit einer berückend zelebrierten Händel-Arie ein. Die Zugabe: „Hallelujah“ – und danach frenetischer Beifall.

Karin Coper

„Idoménée“ (1712/1731) // Tragédie en musique von André Campra

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Von Assoziationen und Anspielungen atomisiert

Berlin / Deutsche Oper Berlin (November 2021)
Stefan Herheim taucht „Siegfried“ ins Wechselbad aus Hochartifiziellem und Dilettantismus

Berlin / Deutsche Oper Berlin (November 2021)
Stefan Herheim taucht „Siegfried“ ins Wechselbad aus Hochartifiziellem und Dilettantismus

Mime hat vom Blechblasinstrumentenbauer, dessen Erzeugnisse noch im Hintergrund seiner Werkstatt prangen, zum Waffenschmied umgeschult. Nun hockt er in gestreifter KZ-Häftlingsjacke vor dem Amboss, auf dem Haupt das samtene Wagner-Barett. Kein Zweifel, Stefan Herheims Assoziationsreichtum ist oft immens. In Mimes Fall verbinden sich die nie bewiesene, aber immer virulente Deutung der Figur als Karikatur des vorgeblich jüdisch profitsüchtig-verschlagenen Wesens und die wenig stattliche Körpergröße Wagners. Doch taugt die Fülle der Einfälle nicht dazu, Schlüsselsituationen überzeugend auszuagieren. Weder in der zerfransenden Schmiedeszene, noch vor Neidhöhle, wo des Titelhelden stumme Eltern als Engel im Humperdinck-Format posieren.

Vollends scheitert Herheim, wenn das komplette Geschehen in Parodie umschlagen soll. Auf dem Walkürefelsen harren die Geflüchteten, um Zeugen der Erstbegegnung von Siegfried und Brünnhilde zu werden. Für sie wirft sich das Paar in talentfreie Opernposen. Danach heischt der Recke in dilettantischer Selbstüberschätzung bei den Umstehenden Applaus. So zerfällt denn die Handlung in meist rohrkrepierende Pointen. Selbst der immer gegenwärtige Konzertflügel bringt zwar effektvoll Mime am Amboss, später dann viel weniger eindrücklich die schlafende Brünnhilde aus dem Geist der Musik hervor, zwischendurch aber viel Kunstgewerbliches wie adrett aufgespießte Klavierauszugs-Seiten. Die oft frappanten Metamorphosen des Herheim’schen Gebirges aus Flüchtlingskoffern gelangen bei der Verwandlung in den riesigen augenrollenden Fafner an technische Grenzen.

Kostümlich macht Uta Heiseke aus Mime einen Blickfang, der die Ambivalenz der Figur zeigt; Siegfried steckt im Germanenkostüm aus dem Fundus des 19. Jahrhunderts. Angesichts der auf dem Walkürefelsen entfesselten Liebe zwischen Heros und Ex-Walküre stürzen sich die bis auf Dessous und Trikotagen entkleideten Geflüchteten in die Orgie. Die Tragödie ersteht halt aus dem Dionysischen.

Musikalisch überzeugt die Produktion. Donald Runnicles und das Orchester der Deutschen Oper kontrastieren das schwer Gelagerte und beinahe Starre der Fafner-Sphäre spannungsgeladen mit der schreitenden Grandezza in den Wanderer-Harmonien. Fein spinnen Dirigent und Klangkörper Filigranes wie das Waldweben aus.

Clay Hilley lässt sich in der Titelpartie oft höchst strahlkräftig vernehmen, spart aber bisweilen allzu merklich. Bei Iain Paterson streift der Wanderer, ohne vokal sonderlich Wogen zu schlagen, recht ausgeglichen durch die Welt. Der Mime von Ya-Chung Huang indessen geht tenoral angemessen gierig-brutal in die Vollen. Jordan Shanahan gibt Alberich machtbesessene Statur. Tobias Kehrer verleiht Fafner stimmlich monumentale Blockhaftigkeit. Nina Stemme reflektiert die Zwiespältigkeit der Empfindungen Brünnhildes, um final zu jubeln und zu leuchten. Eine Erda aus Urtiefen beglaubigt Judit Kutasi. Für den mit einem Knabensopran besetzten Waldvogel legt sich Sebastian Scherer von der Chorakademie Dortmund engagiert ins Zeug.

Michael Kaminski

„Siegfried“ (1876) // Oper von Richard Wagner

Neuanfang

New York / The Metropolitan Opera (Oktober 2021)
Historische Premiere mit Terence Blanchards „Fire Shut Up in My Bones“

New York / The Metropolitan Opera (Oktober 2021)
Historische Premiere mit Terence Blanchards „Fire Shut Up in My Bones“

Die New Yorker Met eröffnet nach 18 Monaten Schließung mit der ersten Oper eines afroamerikanischen Komponisten in ihrer Geschichte. Der Jazztrompeter Terence Blanchard hat sich auch als Filmkomponist einen Namen gemacht und schrieb seine erste Oper basierend auf den Memoiren des schwarzen Journalisten Charles M. Blow.

Die Handlung spielt zwar in einem schwarzen Umfeld, wird ebenfalls erstmals an der Met von der schwarzen Regisseurin und Choreographin Camille A. Brown umgesetzt – das Thema ist jedoch ein allgemein menschliches. Es hat alle Elemente, die eine Oper braucht, es geht um Wut, Trauer, Liebe, Hass, Missbrauch, Verletztheit, um all die großen Gefühle. Sie finden sich wesentlich stärker im Text und in der Darstellung als in der Musik. Man spürt, dass Camille A. Brown vom Film kommt, auch das Libretto oder in diesem Fall das Skript ist durchwegs filmgerecht. Natürlich verstärkt sich dieser Eindruck noch durch die besuchte Übertragung im Rahmen der Reihe „Met Opera live im Kino“.

Die Musik hat ebenfalls viel von Filmmusik – für an die klassische Opernliteratur gewöhnte Ohren bleibt sie eher diesem Genre verhaftet. Klug eingesetzte Wiederholungen wie „… the south is no place for a boy of peculiar grace …“ oder die wiederholt eingesetzte Aufforderung Billies „… sometimes, you gotta leave it in the road …“ spielen mit Motivtechnik, der generelle Musikduktus arbeitet mit Jazzelementen, Gospelchören bis zu ariosen Stellen in der Tradition von Puccini. Im Ohr bleibt keine Melodie, es sind die Textstellen, die in Erinnerung bleiben.

Unglaublich beeindruckend allerdings die Protagonisten. Will Liverman singt Charles, der sich als Kind nach Liebe sehnt und sie nicht so findet, wie er es bräuchte. Er wird von seinem Cousin missbraucht und es bleibt ihm nur die Andersartigkeit. Livermans Intensität der Darstellung und auch seine gesangliche Leistung beeindrucken. Sein junges Ich Char’es-Baby wird von Walter Russel III verkörpert und gesungen. Der Komponist unterstützt die Knabenstimme dadurch, dass er das erwachsene Alter Ego viele Stellen mitsingen lässt – man merkt, dass das dem jungen Darsteller hilft.

Atemberaubend ist Latonia Moore als Billie – eine Mutter von fünf Söhnen, die ihren Mann, der sie laufend betrügt, hinauswirft und die Söhne alleine durchbringt. Sie wird unterstützt von ihrem Bruder, arbeitet in der Hühnerfabrik und kann, erschöpft durch den Kampf ums Überleben, dem jungen Charles nicht die Liebe geben, nach der er sich sehnt. Erst am Ende werden für beide die erlösenden Worte „I love you“ möglich. Latonia Moore agiert nicht nur stimmlich hervorragend, auch ihre Darstellung ist unglaublich intensiv. Angel Blue begleitet Charles als Destiny, Loneliness und Greta – auch sie großartig, sowohl darstellerisch wie musikalisch.

Die Einsamkeit bleibt die ständige Begleiterin im Aufsteigertraum von Charles, der sich durch sein Studium erfüllt. Seine Begegnung mit Greta, in die er sich verliebt und die sich aber für einen anderen entscheidet, verwirft ihn wieder auf die Einsamkeit.

Thema und Verortung sowie die musikalische Umsetzung sind in dieser Form auch zutiefst amerikanisch. Nur eine Herangehensweise ohne die Last langer Tradition macht ein derartiges Werk möglich – und ganz sicher sehens- und hörenswert. Insbesondere in dieser Besetzung, die von Yannick Nézet-Séguin großartig geführt und begleitet wird. Die knappen drei Stunden inklusive Pause verlieren keinen Moment an Spannung.

Gabriela Scolik

„Fire Shut Up in My Bones“ (2019) // Oper von Terence Blanchard

Zwischen Machtbesessenheit und Wahnsinn

Salzburg / Salzburger Landestheater (Oktober 2021)
Verdis Opernthriller „Macbeth“ in der Felsenreitschule

Salzburg / Salzburger Landestheater (Oktober 2021)
Verdis Opernthriller „Macbeth“ in der Felsenreitschule

Düsternis, aufsteigender Nebel und zwielichtige Stimmung. Im Halbdunkel der mystisch-archaischen Felsenreitschule sind vor dem Hintergrund riesiger Kupferwände schemenhaft schwarz gekleidete Gestalten zu sehen. Sie werden in den einzelnen Szenen Zeugen und Mittäter destruktiver Machenschaften um egomanes Ringen nach Macht: Die Premiere der Verdi-Oper „Macbeth“ am Salzburger Landestheater ist ein rauschender Erfolg voller beklemmender Intensitäten.

Auf der Bühne waten die Protagonisten strauchelnd durch schwarzbraunen Morast: Machtbesessenheit vernebelt die Sinne und ist in der Nähe von Wahnsinn anzusiedeln. Da versinkt man leicht mal im moorig-dreckigen Terrain, selbst mit Gummistiefeln. Schon der erste Blick auf Alexander Müller-Elmaus atemberaubende Bühne macht genau das offenbar. Der Wahnsinn hat vielerlei Gestalt, ist geschlechtslos und taktiert in hübsch-hässlichem Gewand. Etwaige „Kollateralschäden“ auf dem Weg nach oben tangieren nicht.

Verdis Opernthriller „Macbeth“ um den schottischen König, der zusammen mit seiner machtgierigen Lady die Herrschaft mit skrupelloser Radikalität gewaltvoll an sich reißt und letztlich im Verderben landet, ist nicht gerade ein Stimmungsaufheller. Und die Komposition, seine einzige Vertonung eines Shakespeares-Stoffs, soll „Musik mit Drama verschmelzen“ und dabei unbedingt dem großen Dramatiker mit „etwas jenseits des Gewöhnlichen“ gerecht werden. So lässt sich auch die Inszenierung von Amélie Niermeyer im Kurztext beschreiben: Mit kunstvoll-inszenatorischem Handgriff destilliert sie die Essenz, schafft eine Opernproduktion, die sich vom „Gewöhnlichen“ weit abhebt und mit ungewöhnlicher Wucht das umsetzt, was hinter Shakespeares Drama steht.

Blut aus vorausgegangenen Schlachten klebt schon in der ersten Szene an Macbeths Händen. Doch das ist nur der Anfang. Die Weissagung der Hexen, unheimliche Erscheinungen von blondhaarigen Kinder-Gestalten und Königsmord – es ist ein morbides Treiben und blutrünstiges Morden. „Der Weg zur Macht ist voller Verbrechen“, heißt es. Das „Hände in Unschuld waschen“ entartet zum Waschzwang. Ein Mordsspektakel in beeindruckenden Bildern lässt das Premierenpublikum des Schauens und Grausens nicht satt werden.

Simon Neal gestaltet die Titelrolle mit starkem Gespür für emotionale Zwischentöne, rüstet Macbeth mit Machtgier, Verstörtheit, Gebrochenheit und Obsessivem aus und kann stimmlich voll überzeugen. Kraftstrotzend und knallhart zielorientiert verkörpert Annemarie Kremer die Lady Macbeth. Ihre Stimme – voluminös, in den Höhen stählern, in den Tiefen bedrohlich – hat ein zu teuflischen Tönungen fähiges Timbre. In exzellenter Besetzung und gesanglich brillant tragen auch die übrigen Solisten zum musikalischen Gesamteindruck bei: Raimundas Juzuitis als Banco, Luke Sinclair als Macduff und Chong Sun als Malcolm. Als phantastisch bereicherndes Extra sei auch die Chor-Inszenierung gelobt: In klug gestellten Massenszenen produziert sie Schauer-Momente, in denen Geister- und Hexenwesen räkelnd, robbend, schreitend oder in stilisierter Geste applaudierend zum morbiden Geschehen beitragen, ohne dabei Präzision und Flexibilität im Gesang einzubüßen.

Am Pult steht, krankheitsbedingt für Leslie Suganandarajah eingesprungen, Gabriel Venzago und beweist ein enormes Gespür für Verdis martialisch-düstere Partitur. Das Mozarteumorchester Salzburg und der Chor des Salzburger Landestheaters folgen seinem eindringlichen Dirigat mit Verve. Zum Schluss hilft nur noch eines, um sich der Opern-Begeisterung Luft zu verschaffen: Klatschen, bis die Hände kribbeln – genau das tut das Salzburger Publikum dann auch.

Kirsten Benekam

„Macbeth“ (1847) // Melodramma von Giuseppe Verdi

Konzentriertes Drama

Wuppertal / Oper Wuppertal (Oktober 2021)
Sciarrino-Erstaufführung der Oper Wuppertal im Leverkusener „Exil“

Wuppertal / Oper Wuppertal (Oktober 2021)
Sciarrino-Erstaufführung der Oper Wuppertal im Leverkusener „Exil“

Es ist kompliziert. Damit ist nicht etwa ein Beziehungsstatus gemeint, sondern die aktuelle Situation der Oper Wuppertal. Dort hat man nicht nur mit der aktuellen Corona-Lage zu kämpfen, sondern auch mit den Nachwirkungen eines schweren Unwetters, das im Juli dieses Jahres allein im Opernhaus Schäden von rund 10 Millionen Euro verursacht hat. Deren Behebung dauert immer noch an, sodass viele Produktionen in Ausweichquartiere verlegt werden mussten. Erst am 9. Dezember kehrt man mit der Wiederaufnahme von Mozarts „Zauberflöte“ ins Opernhaus zurück. Die deutsche Erstaufführung von Salvatore Sciarrinos Oper „Il canto s’attrista, perché?“ etwa hatte es in das Erholungshaus Leverkusen verschlagen.

Bühnentechnisch hätte es schlimmer kommen können, denn – obwohl von 1908 und als Mehrzweckhalle konzipiert – erweist sich der Bau mit Orchestergraben und Drehbühne als durchaus theatertauglich. Aber nicht nur das macht den Besuch erquicklich. Die Wuppertaler Oper hatte sich bereits in der Vergangenheit als außergewöhnlich experimentierfreudig erwiesen. Eine Logistik-Oper etwa hat man dort schon produziert, Luigi Nonos Opernerstling „Intolleranza 1960“ inmitten der Pandemie auf die Bühne gebracht und nun also die deutsche Erstaufführung von Sciarrinos Mythologie-Oper.

Die erzählt ein antikes Drama: Nach zehn Jahren Krieg gegen Troja kehrt der siegreiche König Agamemnon mit der Wahrsagerin Kassandra als Sklavin und Mätresse nach Mykene zurück. Doch seine Gattin Klytämnestra kann ihm weder den jetzigen Ehebruch noch die frühere Opferung ihrer Tochter Iphigenie verzeihen und setzt einen schrecklichen Racheplan in Gang.

Sciarrino, über dessen Musik sich der spartanische Programmflyer leider völlig ausschweigt, erzählt die Geschichte in ebenso sparsamen wie konzentrierten Klanggesten. Nur selten verdichtet sich der stockende Musikstrom zu ekstatischeren Passagen. Musikalisch wird das in Wuppertal unter der Leitung von Johannes Witt vom hauseigenen Sinfonieorchester und dem vom Rang singenden Chor außerordentlich packend in Szene gesetzt. Auch die Solistenriege ist ausgezeichnet besetzt: Nina Koufochristou als Klytämnestra und Iris Marie Sojer als Kassandra, Simon Stricker als Agamemnon, Tobias Hechler als Wächter und Timothy Edlin als Herold geben ihren Rollen sowohl stimmlich als auch szenisch eine ungemein eindringliche Kontur.

Die konzentrierte Inszenierung von Nigel Lowery überzeichnet Gesten und Figuren bei gleichzeitiger Beschränkung auf das Wesentliche, wobei der Regisseur auch für Kostüme und Bühne verantwortlich zeichnet. Das kommt der Geschlossenheit des ausgezeichneten Gesamteindrucks ebenso entgegen wie die vielschichten Videoprojektionen von Thilo David Heins.

Guido Krawinkel

„Il canto s’attrista, perché?“ (2021) // Szenen nach Aischylos von Salvatore Sciarrino

Das Humboldt-Forum am Nil

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2021)
Verdis „Aida“ als packend-gegenwärtige Bilderflut

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2021)
Verdis „Aida“ als packend-gegenwärtige Bilderflut

In Weimar startet die neue Operndirektorin Andreas Moses mit einer Inszenierung von Verdis „Aida“. Das Bühnenbild von Jan Pappelbaum verweist auf das gerade eröffnete Humboldt-Forum in Berlin, also dem Nachbau des Stadtschlosses der Hohenzollern, bei dem nicht nur das Kreuz auf der Kuppel umstritten, sondern auch der Inhalt noch nicht in Sack und Tüten ist. Auch hier finden sich viele Exponate mitten in der Debatte um deren Herkunft oder Rückgabe wieder. In diesem Raum verschränkt Moses Epochen und Perspektiven und macht daraus packendes Musiktheater, das seine Bildersprache aus unserer Gegenwart bezieht.

Eine Ausstellung mit dem Titel „ZWEIFEL“ soll eröffnet werden. Aida und die anderen Putzfrauen legen letzte Hand an. Die Feierlaune der Vernissage-Gesellschaft wird durch Bilder eines Terroranschlags gestört – die Mobilmachung ist die Folge, Radamès wird zum Anführer des Gegenschlags bestimmt.

Wie immer bei Verdi ist die Haupt- und Staatsaktion mit einer Liebesgeschichte verwoben. Die nimmt Fahrt auf, als Amneris Radamès ihren Slip überreicht. Moses billigt Aida eine Entschlossenheit zu, die sie zur Kämpferin macht, die ohne Probleme einen Wachmann umbringt. Auch Amneris kämpft für Radamès und dann sogar für die Reste von Recht und Freiheit, die es nach der Machtergreifung durch die radikalen Ideologen in ihrem Ägypten noch gibt. Am Ende sitzt sie mit der Benin-Bronze in dem Lastwagen, in dem schon die gefangenen Äthiopier beim Triumphmarsch ins Museum gekarrt worden waren. Diese Gefangenen wurden als Abendmal-Tableau vivant zu einem Ausstellungsobjekt gemacht! Zur Beute gehören die für diese Produktion restaurierten Aida-Trompeten, die an der Rampe zum effektvollen Einsatz kommen.

Das Ensemble trägt die Bilderflut und Assoziationsangebote vokal und darstellerisch überzeugend. Gegen die vor allem durchschlagende Wucht von Eduardo Aladrén (Radamès), die sonore Gewalt von Avtandil Kaspeli (Ramphis) und die fanatische Prägnanz von Alik Abdukayumov (Amonasro) muss Dominik Beykirch eher die fabelhaft aufspielenden Musiker der Staatskapelle verteidigen, als umgekehrt. Camila Ribero-Souza riskiert als Aida auch mal eine bewusst eingesetzte Schärfe, besticht aber dann mit wunderbaren Piani. Eine echte Sensation ist Margarita Gritskova als Amneris. Prägnant mit dunkler Farbe und lodernder Höhe, aus dem Körper geschleuderte Stimmgewalt. Sie ist der vokale i-Punkt auf einer „Aida“, die als Aufforderung zum Diskurs ebenso ihre Meriten hat wie als sinnlich packendes Theaterereignis!

Dr. Joachim Lange

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi in einer reduzierten Orchesterfassung von Alberto Colla

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Vom Coup de foudre zur Selbstzerstörung

Regensburg / Theater Regensburg (Oktober 2021)
Massenets „Werther“ voller Eindringlichkeit und Intensität

Regensburg / Theater Regensburg (Oktober 2021)
Massenets „Werther“ voller Eindringlichkeit und Intensität

Suizid in allen Variationen: Erschießen, erdolchen, erhängen, vergiften … Das erste Bild, das Regisseur Nurkan Erpulat in seiner „Werther“-Inszenierung dem Publikum „zumutet“, verschlägt einem den Atem – die von Modjgan Hashemian choreografierten Moves („The Crowd“ sind Tänzer und Studierende der ADK Bayern) sind verstörend. Höllisch der Anblick sich Suizidierender, himmlisch gelungen die musikalische und tänzerische „Illustration“. Wuchtvoll erwächst das Gefühl von Aussichtslosigkeit: Die verzweifelte Liebe Werthers und Charlottes wird im Vorspiel hör- und sichtbar. Eindringlichkeit und Intensität durchzieht den gesamten Premierenabend. Hoch lebe die Oper im Liveformat!

Vom Coup de foudre der ersten Begegnung mit Charlotte verkommt Werthers „Liebe auf den ersten Blick“ im Verlauf von Goethes Briefroman zur unerträglichen Pein und endet in Selbstzerstörung. Der Überempfindsame ist gefangen in verzweifelter Leidenschaft zu der Frau, die er nicht haben kann. Charlotte will loyal zu Albert bleiben, den zu heiraten sie der verstorbenen Mutter gelobt hat. Ihr Gewissen fesselt das Herz, bannt den Geliebten, der ihr, bevor er sich umbringt, zum Gefühlsterroristen wird. Diese „Leiden des jungen Werthers“ enthalten massenweise „Stoff“ für große Gesten.

Im Operngewand bleibt das Werk zeitlos aktuell, skizziert in bewegender, von großer Intimität geprägter Partitur fatale zwischenmenschliche Verstrickungen. Erpulats Inszenierung lebt von starken metaphorischen Bild- und Bewegungsmomenten im sparsamen Bühnenbild (Katrin Nottrodt). Die Bühnenlandschaft spiegelt die Vielschichtigkeit der Emotionen wider – schiefe Ebenen, Treppen, mittig steht ein versenkbarer Raum mit verschiebbaren Glastüren, durch die in der Ballszene tanzende Gäste zu sehen sind. Immer wieder kommt die multifunktionale Drehbühne zum wirkstarken Einsatz, bewegt im Freeze befindliche Protagonisten oder verändert die räumliche Stellung zueinander. In Ausdruckstanz ähnlichem Bewegungsvokabular agiert „The Crowd“, macht in einzelnen Szenen in Gruppenbewegungen Gedanken und Emotionen der Hauptfiguren „sichtbar“ – beeindruckend.

Die „artigen“ Kinder der Amtmann-Familie proben und singen mit dem Vater (Daniel Ochoa) und den älteren Schwestern Sophie und Charlotte im Sommer ein Weihnachtsspiel – ein skurriles Familienidyll. Reizend der Einsatz der Kinder: Spielend, lachend und singend erfüllen sie die Szenen mit erfrischender Heiterkeit. So auch Charlottes Schwester Sophie (Eva Zalenga), die nicht nur stimmlich umwerfend ist, sondern ihre Rolle in allen Facetten mit Herzenswärme füllt. Seymur Karimov als Albert singt kraftvoll und vermittelt als blasser Bürokrat Solidität – was ihm in seiner Rolle an Leidenschaft fehlt, das sollte Werther im Übermaß haben. Amar Muchhala als Werther kann stimmlich in seidenmattem Tenorglanz voll überzeugen, legt auch reichlich Gefühl in seinen Gesang, „stolpert“ aber im körperlichen Ausdruck etwas ungelenk durch seine Gefühlswallungen. Vera Semieniuk als Charlotte setzt mit stimmlicher Ausdruckskraft die bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Linien mit Aufrichtigkeit und Finesse um: „Um nicht mich zu verlieren, habe ich dich verloren.“ Man glaubt es ihr wirklich.

Das Philharmonische Orchester Regensburg schafft unter Tom Woods’ Leitung Fantastisches, meistert die raffinierten Harmonien mit Verve und setzt somit dem Regensburger „Werther“ die Krone auf.

Kirsten Benekam

„Werther“ (1892) // Drame lyrique von Jules Massenet

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