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Rezensionen

Vom Coup de foudre zur Selbstzerstörung

Regensburg / Theater Regensburg (Oktober 2021)
Massenets „Werther“ voller Eindringlichkeit und Intensität

Regensburg / Theater Regensburg (Oktober 2021)
Massenets „Werther“ voller Eindringlichkeit und Intensität

Suizid in allen Variationen: Erschießen, erdolchen, erhängen, vergiften … Das erste Bild, das Regisseur Nurkan Erpulat in seiner „Werther“-Inszenierung dem Publikum „zumutet“, verschlägt einem den Atem – die von Modjgan Hashemian choreografierten Moves („The Crowd“ sind Tänzer und Studierende der ADK Bayern) sind verstörend. Höllisch der Anblick sich Suizidierender, himmlisch gelungen die musikalische und tänzerische „Illustration“. Wuchtvoll erwächst das Gefühl von Aussichtslosigkeit: Die verzweifelte Liebe Werthers und Charlottes wird im Vorspiel hör- und sichtbar. Eindringlichkeit und Intensität durchzieht den gesamten Premierenabend. Hoch lebe die Oper im Liveformat!

Vom Coup de foudre der ersten Begegnung mit Charlotte verkommt Werthers „Liebe auf den ersten Blick“ im Verlauf von Goethes Briefroman zur unerträglichen Pein und endet in Selbstzerstörung. Der Überempfindsame ist gefangen in verzweifelter Leidenschaft zu der Frau, die er nicht haben kann. Charlotte will loyal zu Albert bleiben, den zu heiraten sie der verstorbenen Mutter gelobt hat. Ihr Gewissen fesselt das Herz, bannt den Geliebten, der ihr, bevor er sich umbringt, zum Gefühlsterroristen wird. Diese „Leiden des jungen Werthers“ enthalten massenweise „Stoff“ für große Gesten.

Im Operngewand bleibt das Werk zeitlos aktuell, skizziert in bewegender, von großer Intimität geprägter Partitur fatale zwischenmenschliche Verstrickungen. Erpulats Inszenierung lebt von starken metaphorischen Bild- und Bewegungsmomenten im sparsamen Bühnenbild (Katrin Nottrodt). Die Bühnenlandschaft spiegelt die Vielschichtigkeit der Emotionen wider – schiefe Ebenen, Treppen, mittig steht ein versenkbarer Raum mit verschiebbaren Glastüren, durch die in der Ballszene tanzende Gäste zu sehen sind. Immer wieder kommt die multifunktionale Drehbühne zum wirkstarken Einsatz, bewegt im Freeze befindliche Protagonisten oder verändert die räumliche Stellung zueinander. In Ausdruckstanz ähnlichem Bewegungsvokabular agiert „The Crowd“, macht in einzelnen Szenen in Gruppenbewegungen Gedanken und Emotionen der Hauptfiguren „sichtbar“ – beeindruckend.

Die „artigen“ Kinder der Amtmann-Familie proben und singen mit dem Vater (Daniel Ochoa) und den älteren Schwestern Sophie und Charlotte im Sommer ein Weihnachtsspiel – ein skurriles Familienidyll. Reizend der Einsatz der Kinder: Spielend, lachend und singend erfüllen sie die Szenen mit erfrischender Heiterkeit. So auch Charlottes Schwester Sophie (Eva Zalenga), die nicht nur stimmlich umwerfend ist, sondern ihre Rolle in allen Facetten mit Herzenswärme füllt. Seymur Karimov als Albert singt kraftvoll und vermittelt als blasser Bürokrat Solidität – was ihm in seiner Rolle an Leidenschaft fehlt, das sollte Werther im Übermaß haben. Amar Muchhala als Werther kann stimmlich in seidenmattem Tenorglanz voll überzeugen, legt auch reichlich Gefühl in seinen Gesang, „stolpert“ aber im körperlichen Ausdruck etwas ungelenk durch seine Gefühlswallungen. Vera Semieniuk als Charlotte setzt mit stimmlicher Ausdruckskraft die bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Linien mit Aufrichtigkeit und Finesse um: „Um nicht mich zu verlieren, habe ich dich verloren.“ Man glaubt es ihr wirklich.

Das Philharmonische Orchester Regensburg schafft unter Tom Woods’ Leitung Fantastisches, meistert die raffinierten Harmonien mit Verve und setzt somit dem Regensburger „Werther“ die Krone auf.

Kirsten Benekam

„Werther“ (1892) // Drame lyrique von Jules Massenet

Infos und Termine auf der Website des Theaters

Gescheiterter Neuanfang

Osnabrück / Theater Osnabrück (Oktober 2021)
Verdienstvolle Ausgrabung von Karol Rathaus’ Oper „Fremde Erde“

Osnabrück / Theater Osnabrück (Oktober 2021)
Verdienstvolle Ausgrabung von Karol Rathaus’ Oper „Fremde Erde“

„Fremde Erde“ ist die einzige Oper, die Karol Rathaus geschrieben hat. Nicht einmal in ambitionierten Opernführern schafft sie es über eine Erwähnung hinaus. Was nicht wirklich verwundert, wenn man bedenkt, wie schwer es die Werke etwa von Korngold, Schreker und vieler ihrer Zeitgenossen hatten, um aus dem dunklen Schatten wieder herauszutreten, den der Rassenwahn der Nazis über einen großen Teil der bis Anfang der 1930er Jahre entstandenen Meisterwerke warf.

Im Falle des 1895 in Tarnopol geborenen, 1938 in die USA emigrierten und 1954 in New York gestorbenen Schreker-Schülers Rathaus kommt hinzu, dass es seine im Auftrag von Erich Kleiber geschriebene und von ihm 1930 uraufgeführte Oper „Fremde Erde“ von Anfang an schwer hatte. Umso verdienstvoller ist jetzt der zweite Anlauf (einen ersten gab es vor 30 Jahren in Bielefeld), den das Theater Osnabrück mit einer Inszenierung von Jakob Peters-Messers in der Ausstattung von Markus Meyer unternimmt. Die Story (Libretto: Kamilla Palffy-Waniek) könnte zeitgemäßer kaum sein, geht es doch um die Suche von Menschen in existenzieller Not nach einer neuen Heimat.

Semjin (intensiv: Jan Friedrich Eggers) führt die Gruppe verzweifelter Litauer an, die nach einer beschwerlichen Überfahrt in den Salpeter-Minen Südamerikas ihr Heil suchen, aber die Hölle finden. Zwischen der Herrin der Minen Lean Branchista (mit dem Gestus einer Diva: Susann Vent-Wunderlich) und Semjin entspinnt sich eine Affäre, die natürlich scheitert, als er versucht, für seine Leute einzutreten. Als die Auswanderer in die Heimat zurückwollen, beharrt Semjin darauf, in der fremden Erde Wurzeln zu schlagen. So trist, wie die Geschichte mit dem Tod seiner verlassenen einstigen Braut Anschutka (Olga Privalova) endet, wird sie wohl eher sein frühes Grab.

Unter Leitung von Andreas Hotz entfaltet das Osnabrücker Symphonieorchester die großformatige Klangopulenz und zeitgeistige Expressivität, mit der Rathaus diese Geschichte des Scheiterns musikalisch ausgestattet hat. Zudem gelingt es der Regie und dem engagierten Protagonisten-Ensemble, die brutalen Ausbeutungsverhältnisse plastisch zu machen. Allein schon der Container, in den alle bei der Überfahrt gezwängt sind, schlägt einen Bogen in die Gegenwart, der bedrückend ist. Alles in allem eine Ausgrabung, die unbedingt lohnt!

Dr. Joachim Lange

„Fremde Erde“ (1930) // Oper von Karol Rathaus

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Wie realistisch ist real?

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2021)
Kirill Serebrennikov inszeniert Schostakowitschs Frühwerk „Die Nase“

Sekt und Häppchen sucht man in Serge Dornys Einstandspremiere mangels Pause vergebens. Den „großen Brocken“ gibt es trotzdem – direkt von der Bühne, mit fulminanter Wucht und beklemmender Intensität, musikalisch auf höchstem Niveau. Dmitri Schostakowitschs Oper „Die Nase“ – das Werk eines 22-Jährigen – wurde bereits kurz nach der Uraufführung 1930 in Leningrad Opfer politischen Drucks. Dass für die Erstaufführung an der Bayerischen Staatsoper – in Koproduktion mit der Novaya Opera Moskau – Regisseur Kirill Serebrennikov aus dem politischen Hausarrest per Videoschalte agiert, verleiht dieser Inszenierung ganz besondere Brisanz. Die absurde Novelle Nikolai Gogols (1836) erzählt von einer Welt, in der Realität und Fiktion in Traumlogik koexistieren. Serebrennikovs beklemmende Szenerie des kalten Petersburger Winters, immer höher werdender Schneeberge, von Räumfahrzeugen mit grellen Scheinwerfern, Schlagstöcken und Absperrgittern zeigt deutliche Bezüge zu Putins Russland – grellbunte Neon-Folklore auf grau-trister Bühne inklusive. Einer, der es wissen muss, setzt auf düstere Bilder und macht die Nase zum sozialen Status: Je mehr Nasen eine Person im Gesicht trägt, desto angesehener ist sie. Die per se dadaistischen Absurditäten der Oper in Form, Sprache und Intention sowie eine Umkehr der Wirkungsweisen von Text und Musik macht sich Serebrennikovs Regie zu eigen. Er teilt die Welt in Täter und Opfer und zeichnet das groteske Bild einer spießigen und korrupten Gesellschaft in Polizeiuniform, in der sich der kleine Beamte Platon Kusmič Kovaljov nicht mehr zurechtfindet, weil ihm seine Nase abhandenkam und nun als Staatsrat ein Eigenleben führt. Die Angst vor dem Anderssein, die Angst vor Strafe und die Vermischung von Absurdität und Realismus bis hin zum grenzenlosen Denken sind die geistigen Pfeiler der Inszenierung. Wenn am Ende die Nase zwar zurückkehrt ins Gesicht des Besitzers, dieser sich trotzdem in trostloser Plattenbau-Umgebung dem Alkohol hingibt und selbst das letzte Zeichen der Hoffnung – ein roter Luftballon in der Hand eines Kindes – mit lautem Knall zerplatzt, ist das vielleicht auch ein Statement des inhaftierten Regisseurs zur Zukunft Russlands.

Dem Bayerischen Staatsorchester in quasi Kammermusikbesetzung steht ein monumentaler Gesangs-Solistenapparat von 58 Rollen gegenüber. Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski – mit dem Repertoire bestens vertraut – erweckt Schostakowitschs Komposition in allen Facetten zum Leben. Die Zwanglosigkeit im Umgang mit Logik, aber auch eine gewisse Trostlosigkeit wird in der Musik spürbar. Grandios besetzt: die vielen Solistenpartien, allen voran Boris Pinkhasovich als Kovaljov und Doris Soffel als alte Dame. Serge Dorny hätte einen entspannteren Einstieg in seine Intendanz wählen können – aber im Jahr 2021 kaum einen passenderen. München setzt also auf Musik-Theater. Man darf gespannt sein.

Iris Steiner

„Nos“ („Die Nase“) (1930) // Oper von Dmitri D. Schostakowitsch

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Über den Dächern von Nürnberg

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2021)
Eine herausragende Produktion von Wagners „Meistersingern“

Leipzig / Oper Leipzig (Oktober 2021)
Eine herausragende Produktion von Wagners „Meistersingern“

An der Rezeptionsgeschichte speziell dieses Werks von Wagner und seinem Antisemitismus haben sich schon Dutzende Regisseure abgearbeitet. David Pountney, der in Leipzig seine erfolgreiche Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Ulf Schirmer aus Bregenzer Zeiten wieder aufnimmt, besinnt sich endlich wieder auf das Werk selbst, und das mit einer wahrlich tollen Idee: Das mittelalterliche Nürnberg rückt – umgeben von einem Amphitheater nach griechischem Vorbild – im Kleinformat und gebaut aus Holzelementen ins Zentrum von Leslie Travers’ Bühne. Im zweiten Akt wirkt es zunächst unter nächtlichen Beleuchtungswechseln noch pittoresker, bis die Prügelfuge in ein sinnbildhaft kriegerisches Geschehen ausartet. Zu den letzten Tönen des Nachtwächters legt sich eine fotografische Ansicht vom zerbombten Nürnberg über die Arena. Aspekte zu deutscher Geschichte und Identität finden mithin durchaus ihren Raum.

Später findet sich das zerstörte Nürnberg als Ruine nur noch als schmaler Streifen über der Schusterstube und fährt mit ihr vor der letzten szenischen Verwandlung in den Bühnenboden hinab. Damit ist auch der Rahmen für den gesellschaftlichen Konflikt ideal abgesteckt: Die bereits etablierten Älteren, von Marie Jeanne Lecca in prächtige Mode des 16. Jahrhunderts eingekleidet, müssen sich mit dem jungen Neuerer Stolzing, von Anfang an ein heutiger Außenseiter mit roten Sneakers, zusammenraufen. Zum Ende führt Pountney die beiden Ebenen zusammen, gleicht sich Stolzing der Gemeinschaft an, wenn er zu seinem Preislied im vornehmen Anzug auftritt. Und doch werden gleichzeitig Neuerungen sichtbar: In hellem Licht erstrahlt nun, abermals im Kleinformat, der Deutsche Reichstag.

Auch musikalisch gelingt eine weitgehend vorzügliche Einstudierung, auch wenn Mathias Hausmann zum Premierenabend den Sixtus Beckmesser wegen einer schweren Erkältung nur spielen kann. Für ihn singt dezent vom Bühnenrand und allemal souverän Ralf Lukas. Freilich steht und fällt die Oper mit der Besetzung des Sachs, und der ist hier bei dem stimmlich profunden, erfahrenen James Rutherford in besten Händen, gibt er doch wie einst ein Bernd Weikl oder Robert Holl den Schuster als einen weisen, erhabenen und – ja auch etwas stämmigen – Mann.

Der Stolzing von Magnus Vigilius gefällt mit großem Volumen und erinnert mit seinem betont hellen Timbre stupend an Klaus Florian Vogt. Elisabet Strid gibt seitens der Erscheinung geradezu ein Bilderbuch-Evchen ab, lässt nur seitens Timbre den für diese Rolle gebotenen Liebreiz etwas vermissen.

Matthias Stier singt seinen David mühelos und höchst agil in allen Lagen. In kleineren Rollen runden Kathrin Göring (Magdalene), Sebastian Pilgrim (Veit Pogner), Tobias Schabel (Fritz Kothner) und Sejong Chang (Nachtwächter) singend und spielend die Vorstellung ab.

Ein herzlicher, verdienter Beifall bleibt nicht aus. Nicht zum ersten Mal empfiehlt sich Leipzig mit seinem guten Geschmack Wagnerianern als eine Alternative zu einer Metropole wie Berlin, wo schon lange keine Wagner-Neuinszenierung mehr von den Stühlen riss.

Kirsten Liese

„Die Meistersinger von Nürnberg“ (1868) // Oper von Richard Wagner

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Rockig vor der Himmelstür

Fürth / Stadttheater Fürth (Oktober 2021)
„Knockin’ on Heaven’s Door“ als Roadmovie-Musical aus deutschen Landen

Fürth / Stadttheater Fürth (Oktober 2021)
„Knockin’ on Heaven’s Door“ als Roadmovie-Musical aus deutschen Landen

In diesen Zeiten nicht nur auf die großen bekannten Titel zu setzen, sondern stattdessen eine veritable Uraufführung ins Programm zu nehmen, dazu gehört schon einiges an Mut. Doch für das Stadttheater Fürth zahlt sich dieses Wagnis zumindest in künstlerischer Hinsicht auf ganzer Linie aus. Was vor allem daran liegt, dass man gar nicht erst versucht, den Kinohit „Knockin’ on Heaven’s Door“ sklavisch eins zu eins auf die Bühne zu übersetzen und sich bei der Musical-Adaption die eine oder andere bühnenwirksame Freiheit erlaubt.

Dies betrifft in erster Linie die Figur von Gangsterboss Frankie, der nun in Gestalt von Soul-Röhre Sidonie Smith für das weibliche Gegengewicht im sonst eher männerlastigen Roadtrip sorgt. Ihr hat das Komponisten-Duo Alex Geringas und Joachim Schlüter mit „Wo kann nur der Himmel sein“ unter anderem eine eindringliche Ballade zugedacht, deren tieferer Sinn sich in dramaturgischer Hinsicht allerdings erst im Finale offenbart. Trotz kleiner Überraschungen, die vor allem den Fans des Films auffallen dürften, bleibt der Fokus aber natürlich auch in der Bühnenfassung auf den beiden todgeweihten Krebspatienten Martin und Rudi. Sie flüchten gemeinsam aus dem Krankenhaus, um ihre letzten Tage noch einmal in vollen Zügen und ohne Rücksicht auf Recht und Gesetz zu genießen. Und das, obwohl man nicht unbedingt von Freundschaft auf den ersten Blick sprechen kann.

Verkörpert wird das ungleiche Paar in Fürth von Dominik Hees und Jonas Hein, die sich auf der Bühne gegenseitig nichts schenken und einander in ihren Duetten immer wieder zu neuen stimmlichen Höchstleistungen pushen. Wobei es einem echt zu Herzen geht, wie Hees die kleinen Risse in der optimistisch lockeren Fassade seiner Rolle langsam wachsen lässt und schließlich seinen weichen Kern offenbart. Während Hein den umgekehrten Weg einschlägt und den schüchternen Rudi im Finale mit neu gewonnener Stärke und erhobenem Kopf dem unausweichlichen Ende entgegengehen lässt.

Stimmlich bewegen sich beiden absolut in ihrer Wohlfühlzone. Sei es in den nachdenklich ruhigen Momenten oder in den rockigeren Songs, die sich irgendwo zwischen „Rent“ und „Linie 1“ bewegen, daneben auch noch einen amüsanten Bonustrack für Möchtegern-Elvis Thomas Hohler parat halten. Eher musicalische Konfektionsware gibt es dagegen für das slapstickhaft durchs Geschehen stolpernde Gangsterpaar. Was aber nichts daran ändert, dass auch Detlef Leistenschneider und Pedro Reichert die Lacher des Publikums auf ihrer Seite haben. Und zum Glück übertreibt es Regisseur Gil Mehmert mit ihnen auch nicht allzu sehr. Denn selbst die etwas dick aufgetragenen Momente werden von ihm meist schnell wieder geerdet, womit er den schwierigen Balanceakt dieser Tragikomödie letztlich souverän meistert.

Tobias Hell

„Knockin’ on Heaven’s Door“ (2021) // Rock’n’Road-Musical (Musik: Alex Geringas und Joachim Schlüter)

Auf ins Repertoire!

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Oktober 2021)
Carl Nielsens „Maskerade“ als umwerfend komischer Opernimport aus Dänemark

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Oktober 2021)
Carl Nielsens „Maskerade“ als umwerfend komischer Opernimport aus Dänemark

Nach der Kopenhagener Uraufführung im Jahr 1906 galt Carl Nielsens komödiantischer Dreiakter in seiner dänischen Heimat als progressiv, im Ausland hingegen als rückwärtsgewandt. Bei unserem nördlichen Nachbarn mauserte sich „Maskerade“ zur Nationaloper, außerhalb führt sie ein Nischendasein. Die jüngste Produktion der Oper Frankfurt holt sie dort heraus.

„Maskerade“ beruht auf Ludvig Holbergs Lustspiel aus dem Jahr 1724, dessen vom „dänischen Molière“ nur als pantomimisches Zwischenspiel vorgesehenes Ballgeschehen Nielsens Librettist Vilhelm Andersen zum Schlussakt mit flottem Kehraus und elegischer Demaskierung erweitert hat. Die Handlung ist eine amüsante Petitesse: Zwei reiche Kaufleute wollen ihre Kinder miteinander verheiraten. Diese aber scheinen während der Ballsaison auf Abwege zu geraten. Um das Schlimmste zu verhindern, begibt sich der erzkonservative Vater des Bräutigams ins Gewühl eines Maskenballs. Am Ende stellt sich die vom Sohn angehimmelte schöne Unbekannte als die ihm zugedachte Braut heraus.

Nielsens Musik feiert melodieselig bis zur Hitverdächtigkeit Aufklärung und Klassizität, sie sprudelt aus den Geistern Mozarts und des Tanzes, freilich in der Sicht des beginnenden 20. Jahrhunderts, weshalb die Komposition bei Gelegenheit nicht vor harmonischen und rhythmischen Kühnheiten scheut. Eigens für Frankfurt hat sich Martin G. Berger einer Nachdichtung des Librettos angenommen, die Andersens silbenakrobatische Reimfreudigkeit pointensatt und frivol ins Deutsche transferiert. Bergers Übertragung avanciert zu einem der Stars der Produktion. Rainer Sellmaier erweist ihr die Reverenz, indem er die Übertitelungsanlage mitten auf die Szene stellt. Ansonsten begnügt er sich damit, die Spielfläche mit schwarzen Wänden einzufassen, deren zahllose Türen vielfältige Optionen eröffnen.

Tobias Kratzer ölt die Komödienscharniere trefflich. Je nach Erfordernis lässt er die Situationen feinsinnig oder derb ausspielen, doch erhält die Personage insgesamt sympathisches Profil. Kinsun Chan choreografiert flott die zahlreichen Tänze, an denen mitunter auch der von Tilman Michael auf Wendigkeit und Transparenz geeichte Chor der Oper Frankfurt teilnimmt. Mit dem bestens aufgelegten Opern- und Museumsorchester serviert Titus Engel Witz und Charme der geistreichen Partitur.

Alfred Reiter nutzt den ballmuffeligen Hausvater Jeronimus zur hochamüsanten Charakterstudie. Susan Bullock ist dessen stimmlich erstaunlich quecksilbrige Gemahlin Magdelone. Bräutigam Leander wird von Michael Porter mit zureichendem Tenorschmelz versehen. Monika Buczkowska schöpft für die von ihm begehrte Leonora aus der Farbigkeit und Fülle ihrer stimmlichen Möglichkeiten. Leanders Kammerdiener Henrik beweist bei Liviu Holender auch vokal finessenreiche Figaro-Attitüde. Božidar Smiljanić bringt als Nachtwächter Meistersinger-Anmutung ins Stück und als Meister der Maskerade einen Hauch von Vergänglichkeit. Ob des dänischen Opernspaßes kichert das Premierenpublikum dezent, aber in Permanenz.

Michael Kaminski

„Maskerade“ (1906) // Komische Oper von Carl Nielsen in einer neuen deutschen Fassung von Martin G. Berger auf der Grundlage der Linearübersetzung von Hans-Erich Heller

Bücher sind gefährlich

Dresden / Semperoper Dresden (Oktober 2021)
Verdis „Don Carlo“ mit neukomponierter Einleitung von Manfred Trojahn

Dresden / Semperoper Dresden (Oktober 2021)
Verdis „Don Carlo“ mit neukomponierter Einleitung von Manfred Trojahn

Eigentlich war dieser „Don Carlo“ dafür gedacht, die künstlerische Verbindung von Sächsischer Staatskapelle und Semperoper mit den Salzburger Osterfestspielen in einer glanzvoll besetzten großen Verdi-Oper zu manifestieren. Die Osterfestspiele konnte bekanntlich nicht stattfinden. Für Anna Netrebko als Elisabetta blieb nur eine Miniserie von drei konzertanten Aufritten mit kammermusikalischer Begleitung während der Lockdown-Pause in Dresden. Die vorbereitete Inszenierung von Vera Nemirova wurde jetzt an der Semperoper nachgeholt – inklusive der darin enthaltenen Uraufführung. Zum ersten Mal erklang vor der vieraktigen italienischen Fassung von Verdis Schiller-Oper ein zehnminütiges Vorspiel, mit dem Manfred Trojahn (*1949) den Fontainebleau-Akt der fünfaktigen Fassung dieser Oper aufgreift und imaginiert.

Auf der Bühne fassen eingeblendete Videos und ein Tänzerpaar das Kennenlernen der beiden Königskinder, die zueinander nicht kommen sollten, gleichsam zusammen. Das funktioniert szenisch und vor allem musikalisch hervorragend. Ebenso wie das eingefügte Cello-Intermezzo Trojahns („Mendelssohns Möwen“, 2012), das die Nachwirkung des Autodafés verstärkt. Diese heikle Szene übersetzt Nemirova von der Menschen- in eine Bücherverbrennung. Sie macht daraus ein Event für eine bessere Gesellschaft in einem autoritären Regime von heute. Ergänzt durch das Saallicht wird es (über-)deutlich zu einer Warnung für uns. Als Raum für die ansonsten geradlinige Nacherzählung der Geschichte hat Heike Scheele eine gewaltige Klosterbibliothek auf die Bühne gebaut. Die bietet Platz für diverse Umbauten, aber auch für die Tableaus. So raumgreifend (und mit Büchern welchen Inhaltes auch immer hantierend) inszeniert, sieht man beispielsweise die zentrale Szene zwischen dem König und Posa selten. Gleichwohl funktionieren die Bücher auch hier als immer wieder bemühtes optisches Leitmotiv nur bedingt.

Musikalisch bleiben bei dieser in Dresden leider nur drei Mal zu erlebenden Produktion freilich keine Wünsche offen. Die Sächsische Staatskapelle unter der Leitung von Ivan Repušić ist in Hochform. Der von André Kellinghaus einstudierte Chor ebenso. Andrei Bondarenko ist als Posa mit seinem kraftvoll leidenschaftlich auftrumpfenden Bariton geradezu sensationell, ebenso Riccardo Massi als strahlkräftiger Don Carlo. Ihre Duette sind Höhepunkte des Abends. Dazu kommt Vitalij Kowaljow als robuster Filippo II. Mit ihrem schlanken Sopran ist Dinara Alieva eine glaubwürdige Elisabetta und Anna Smirnova eine prägnante Eboli. Auch der Rest des Ensembles überzeugt.

Roberto Becker

„Don Carlo“ // Oper von Giuseppe Verdi in der vieraktigen Fassung von 1884, ergänzt um einen Prolog für Orchester (2021) und ein Zwischenspiel für Violoncello solo (2012) von Manfred Trojahn

Sympathischer Serienmörder

Detmold / Landestheater Detmold (Oktober 2021)
Steven Lutvaks Musical „Liebe, Mord und Adelspflichten“ als launige Farce

Detmold / Landestheater Detmold (Oktober 2021)
Steven Lutvaks Musical „Liebe, Mord und Adelspflichten“ als launige Farce

Der amerikanische Soziologe Stanley Milgram behauptete, kein Mensch auf dem Erdenrund sei von jedem beliebigen anderen weiter als sechs Bekannte entfernt. Die acht Erben, die Monty Navarro, den Helden der 2012 uraufgeführten, an den Broadway übernommenen und alsbald mit vier Tony Awards ausgezeichneten musikalischen Komödie, von Titel und Reichtum eines Lord D’Ysquith trennen, bezeichnen insofern eine überdurchschnittliche Distanz. Um dennoch ans Ziel zu gelangen, helfen allein drastische Mittel. Wie der entfernte Verwandte sich durch allerhand Tötungsdelikte aus prekären Verhältnissen in den Hochadel empormordet, ist Thema des zu Beginn des vorletzten Jahrhunderts angesiedelten schwarzhumorigen – im amerikanischen Original unter „A Gentleman’s Guide to Love and Murder“ firmierenden – Musicals.

Librettist Robert L. Freedman greift dazu auf den Roman „Israel Rank“ von Roy Horniman zurück, dessen Verfilmung mit Alec Guinness in der Hauptrolle 1949 in die Kinos kam. Der Serienmord als Lustspielstoff funktioniert, weil keiner der Hingerafften Sympathien weckt und sie alle Popanze bleiben. Das Beste am doppelmoralischen Geistlichen, der vermeintlichen Philanthropin, tatsächlich aber üblen Rassistin, der talentfreien, doch adligen Schauspielerin, dem imperialistischen Lord selbst und all der anderen D’Ysquiths ist deren Abgang.

Steven Lutvak schreibt für die Entsorgung der noblen Herrschaften eine Musik mit der nostalgischen Talmi-Anmutung der Vaudevilles und Music Halls. Augenzwinkernd serviert Lutvak unterkomplexe Walzer und Ensemblesätze wie aus dem Baukasten.

Am Detmolder Landestheater entsteht daraus versiert gemachte und kurzweilige Unterhaltung voll schriller Situationen. Regisseur Götz Hellriegel gibt dem Affen reichlich Zucker und scheut nicht vor Pointenkrachern. Das Detmolder Haus, als Hoftheater errichtet, wird höchst amüsant zur hinsichtlich der künstlerischen Mittel nicht eben wählerischen Vorstadt-Bühne umfunktioniert, auf der Jan Freese mittels Drehscheibe für rasche Schauplatzwechsel sorgt. Valerie Hirschmann steckt den Hochadel in schreiend-spleenige Garderobe.

Mathias Mönius begleitet das Bühnengeschehen mit dem animiert aufspielenden Symphonischen Orchester des Landestheaters. Randy Diamond übernimmt, ob als Frau oder Mann, die Parts sämtlicher zu beseitigender D’Ysquiths und macht aus ihnen die Knallchargen, die sie sind. Tobias Bieri ist der sympathische Serienmörder und soziale Aufsteiger Monty Navarro. Charmant gibt Veronika Hörmann dessen zwischen dem zunächst armen Schlucker und dem Wunsch nach auskömmlichem Lebensstandard schwankende Freundin Sibella. Annina Olivia Battaglia verleiht der hochadeligen und dem jungen Navarro vielleicht noch inniger zugetanen Phoebe ebenso zauberhafte wie schönstimmige Kontur. In Gestalt von Miss Shingle kommt – ohne dessen Wissen – die verschmitzt agierende Brigitte Bauma dem jungen Erben beim entscheidenden letzten Mord zuvor.

Michael Kaminski

„A Gentleman’s Guide to Love and Murder“ („Liebe, Mord und Adelspflichten“) (2012) // Musical von Robert L. Freedman (Buch) und Steven Lutvak (Musik)

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Notwendiger Untergang

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Oktober 2021)
„Götterdämmerung“ der Pandemie geschuldet als vorletzter Teil der „Ring“-Tetralogie

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Oktober 2021)
„Götterdämmerung“ der Pandemie geschuldet als vorletzter Teil der „Ring“-Tetralogie

Wie zwei steinerne Gäste knüppeln von hohen Sockeln herab Siegfried und Gunther Brünnhilde mit Worten nieder – statuengleich und austauschbar. Die anschließende Vergewaltigung verwundert niemanden. Stefan Herheim lässt ungeheure Brutalität zu einem Markenzeichen dieser Produktion werden. Ein weiteres ist Boshaftigkeit. Auf ihre Demütigung sinnend, steigt Hagen zu den Göttern empor, reißt Wotan den zerbrochenen Speer aus der Hand. Heißt – beider Eid von vornherein brüskierend – Siegfried und Brünnhilde auf dessen Spitze schwören. Drittes Hauptmerkmal ist die meist hinlänglich konsequent durchgehaltene Ununterscheidbarkeit von Parodie und Ernst. So, wenn Siegfried wie aus einem Wurmloch im raumzeitlichen Kontinuum durch den allgegenwärtigen Ding-Symbol-Konzertflügel vom Walkürenfelsen mitten in der als Kopie des Hauptfoyers der Deutschen Oper auf die Bühne gestellten Gibichungenhalle anlangt. Herheims Sicht auf deren Hausherrn Gunther ist freilich disparat. Die anfängliche Schießbudenfigur kommt nicht mit der Trauer überein, die den Gibichungen erfasst, als der Blutsbruder ihm tot in die Arme sinkt. Bewegend hingegen Brünnhildes Wandlung zur das Spiel von Göttern und Menschen durchschauenden, die Notwendigkeit des Weltuntergangs begreifenden und herbeiführenden einzig wahren Heldin inmitten einer auch durch Siegfried korrumpierten Welt.

Der Regisseur reduziert als sein eigener Bühnenbildner die für ihn nach wiederholtem Bekunden zentrale Flüchtlingsthematik auf ein Koffergebirge. Illusionistisch beleuchtet, täuscht es einen Berggipfel vor, von dem aus die zu optisch attraktiven Grüppchen erstarrte Götterwelt machtlos die irdischen Geschehen beobachtet. Uta Heiseke gewandet das Pantheon wie übrigens auch Siegfried germanisch. Die Besucher der Uraufführung hätten daran ihre Freude gehabt.

Musikalisch nimmt die Produktion beinahe rundum für sich ein. Der Chor der Deutschen Oper unter Jeremy Bines haut dem Auditorium seinen Part stückgemäß um die Ohren. Donald Runnicles arbeitet mit dem Orchester des Hauses die leitmotivischen Verflechtungen prägnant heraus, was den Klangkörper nicht hindert, sich als atmender Organismus hören zu lassen.

Clay Hilley ist ein konditionsstarker und durchschlagskräftiger Siegfried. Nina Stemme phrasiert jederzeit erwogen. Stupende Sicherheit, Unangestrengtheit und Strahlkraft erheben ihre Brünnhilde zu einer Klasse für sich. Thomas Lehman steigert Gunther aus dem zunächst Buffonesken zum jede Charakterschwäche übertönenden Heldenbariton. Der als Hagen besetzte Gidon Saks lässt sich mit beginnender Indisposition ansagen. Aile Asszonyi ist eine rollendeckende Gutrune. Okka von der Dameraus Waltraute trumpft gewaltig auf. Bleibt, vom Weltenbrand zu berichten: Den Saal blendet ein rotgestirntes Firmament aus unzähligen Scheinwerfer-Sonnen. Wenn sie verlöschen, zeigt sich die leere Bühne bei Arbeitslicht. Eine Reinigungskraft wischt den Boden. Das nächste Welttheater harrt des Aufbaus.

Michael Kaminski

„Götterdämmerung“ (1876) // Oper von Richard Wagner

Von wegen Opernprovinz!

Annaberg-Buchholz / Eduard-von-Winterstein-Theater & Radebeul / Landesbühnen Sachsen (Oktober 2021)
Begeisternde Opernraritäten abseits der Zentren

Annaberg-Buchholz / Eduard-von-Winterstein-Theater & Radebeul / Landesbühnen Sachsen (Oktober 2021)
Begeisternde Opernraritäten abseits der Zentren

Deutschlands reiche Opernlandschaft ist stets eine Reise wert. Doch wer sie durchwandert, sollte sich nicht auf die Großstädte beschränken, sondern regelmäßige Abstecher in die sogenannte „Provinz“ machen. Denn an den kleinen Häusern herrscht trotz schmalen Budgets häufig ein leidenschaftlicheres und phantasievolleres Theaterleben als in mancher Metropole.

Beispielsweise Annaberg-Buchholz: Die Erzgebirgs-Stadt besitzt mit dem über 100 Jahre alten Eduard-von-Winterstein-Theater ein schmuckes Haus. Hier ist seit dieser Saison der Bariton Moritz Gogg Intendant und in puncto aufregender Spielplangestaltung tritt er in die Fußstapfen seines Vorgängers Ingolf Huhn. Der hatte mit Trouvaillen wie Goldmarks „Götz von Berlichingen“, Peter Gasts „Der Löwe von Venedig“ oder Carl Mangolds „Tannhäuser“ Raritätenfans von weither gelockt.

Diese dürften auch von Goggs Eröffnungspremiere angetan sein, für die er die Büchner-Vertonung „Leonce und Lena“ von Erich Zeisl auswählte, ein Stück weit abseits des gängigen Repertoires.

Sie ist gleichzeitig eine Wiedergutmachung an dem 1905 geborenen Komponisten, der sich in seiner Heimat Wien einen Namen gemacht hatte, 1938 aber wegen seiner jüdischen Herkunft emigrieren musste. In Los Angeles fand Zeisl ein neues Zuhause, doch künstlerisch konnte er nicht an frühere Erfolge anknüpfen. Wenigstens erlebte er hier 1952 die Uraufführung seiner zweiten, bereits 1937 komponierten Oper, der Büchner-Vertonung „Leonce und Lena“. Erst 2017 schaffte sie es über den Ozean: In Linz fand die europäische Premiere statt, die Produktion in Annaberg-Buchholz ist die erste in Deutschland. Wie der Intendant am Beginn der Vorstellung stolz verkündet, ist zu diesem Anlass auch Eric Randol Schoenberg, der Enkel von Zeisl (und Arnold Schönberg) angereist. Er kann zufrieden sein.

Darüber, wie elektrisierend Dirigent Jens Georg Bachmann mit der Erzgebirgischen Philharmonie Aue die tolle Musik seines Großvaters – eine Mischung von frechen Rhythmen à la Kurt Weill und süffigen Melodien à la Erich Wolfgang Korngold fernab der damaligen Avantgarde – über die Rampe bringt. Und darüber, wie kompetent das Ensemble den sängerischen Anforderungen gerecht wird und die ausgedehnten Zwischentexte spricht: der neu engagierte Tenor Richard Glöckner als feinstimmiger Prinz, Bettina Grothkopf als Lena mit großformatigem Sopran, Jason-Nandor Tomory als agiler Diener und László Varga als König mit Bassbuffo-Vorzügen.

Das Stück, von Zeisl als Opern-Lustspiel bezeichnet, inszeniert Jasmin Sarah Zamani als turbulente Komödie zwischen Sein und Schein. Prinz Leonce, der bei Büchner durch die Liebe zur Prinzessin Lena von seiner Melancholie geheilt wird, ist in der Sicht der Regisseurin ein junger Mann an der Schwelle zum Erwachsenen, der aus der Realität in seine eigene Traumwelt flieht. Die besteht in der Ausstattung von Martin Scherm aus geometrischen weißen Versatzstücken, die vor wechselnden bunten Hintergrundprospekten immer neue Spielflächen ergeben. Ein Happy End gibt es nicht. Auch Lena scheint eine Projektion zu sein, denn bis zum Schluss bleibt das Paar auf Distanz.

Von Annaberg-Buchholz geht es weiter nach Radebeul. Die unweit von Dresden gelegene Karl-May-Stadt ist Sitz der Landesbühnen Sachsen. Seit 2017 lenkt Operndirektor Sebastian Ritschel die Musiktheatersparte und auch er bricht gerne aus dem Repertoire-Alltag aus, etwa mit den Musicals „Das Licht auf der Piazza“ und Sondheims „Sunday in the Park with George“.

Genauso ambitioniert ist der Saisonauftakt mit Gottfried von Einems Kafka-Vertonung „Der Prozess“. Sie entstand 1953 im Auftrag der Salzburger Festspiele, es dirigierte Karl Böhm und auf der Bühne stand die Crème de la Crème der damaligen deutschsprachigen Sängerszene, vorneweg Max Lorenz und Lisa della Casa.

Solche Starnamen braucht Radebeul nicht für einen rundum geglückten Theaterabend. Sebastian Ritschel, Regisseur und Ausstatter in Personalunion, lässt das bekannte Geschehen um Josef K., der von einer nebulösen Obrigkeit verfolgt wird, in einer surrealen Raumlandschaft spielen. Eine Drehbühne zeigt im Wechsel drei klaustrophobische Örtlichkeiten mit unerwartet sich öffnenden Luken, Fenstern und Türen. Ein gespenstisches Panoptikum aus dominanten Frauen, bedrohlichen Beamten und grotesken Gehilfen, verkörpert durch ein Männertrio, umkreist den Prokuristen.

Videos, die mal Zerrbilder, mal höhere Machtpersonen zeigen, verunsichern ihn zusätzlich. Selbst Gott spricht, von Wolken umhüllt, zu ihm. Das Leben des Josef K. ist aus den Fugen geraten, es spielt sich in einer vom Netz beherrschten Welt ab. Das spiegeln auch die Kostüme wider, die von spinnwebartigen Mustern, Algorithmen gleich, überzogen sind. Nur K. ist als einziger weiß gekleidet. Am Ende, wenn sich seine Fantasien verflüchtigt haben, sitzt er allein neben einer nackten Schaufensterpuppe, ein Ersatz für reale Weiblichkeit.

Pascal Herington als dauerpräsenter Josef K. beeindruckt mit kultiviertem lyrischem Tenor und darstellerischer Glaubwürdigkeit – eine Idealbesetzung. Stellvertretend für das durchweg großartig agierende Ensemble sei die Sopranistin Kirsten Labonte erwähnt. Obwohl kurzfristig eingesprungen, singt sie von der Seite souverän zwei der fünf Frauenrollen.

Unter der Leitung von Hans-Peter Preu breitet die Elbland Philharmonie Sachsen einen transparenten, rhythmisch pulsierenden Instrumentalteppich aus. Der musste zwar aufgrund der aktuellen Abstandsregeln verschlankt werden, doch bleibt die von Tobias Leppert arrangierte Fassung nahe am Originalklang und entwickelt durch ihren ostinaten Drive enorme Sogkraft.

Beide Städte haben übrigens schon die nächsten Raritäten angesetzt. Annaberg-Buchholz präsentiert aktuell die deutsche Erstaufführung von Ralph Benatzkys Operette „Der reichste Mann der Welt“, Radebeul die Wagner-Parodie „Die lustigen Nibelungen“ von Oscar Straus.

Karin Coper

„Leonce und Lena“ (1937 entstanden, 1952 uraufgeführt) // Opern-Lustspiel von Erich Zeisl
Infos und Termine auf der Website des Eduard-von-Winterstein-Theaters

„Der Prozess“ (1953) // Oper von Gottfried von Einem in einer Bearbeitung für kleines Orchester von Tobias Leppert
Infos und Termine auf der Website der Landesbühnen Sachsen