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Rezensionen

Schrei nach Humanismus

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2021)
Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in überwältigender Intensität

Salzburg / Salzburger Festspiele (August 2021)
Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in überwältigender Intensität

„Diese Reflexion über die Begriffe ‚Toleranz‘ und ‚Intoleranz‘ ist vermutlich nie wichtiger gewesen als heute, als jetzt, zu dieser Stunde.“ (Markus Hinterhäuser)

Das Wagnis der Salzburger Festspiele, Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ zur Aufführung zu bringen, ist gelungen. Die Aktualität, die Heutigkeit ist erschreckend. Es ist ein Abend des Innehaltens, ein politischer Abend fernab jeder Ideologie, ein Abend der Beklemmung, ein Schrei nach Humanismus, ein festspielwürdiger Abend. Die Felsenreitschule ist ein geradezu idealer Ort für die Musik. Nono wollte einen ungewöhnlichen Raum und hat ihn hier gefunden – es entsteht ein Kosmos zwischen Fortissimo und Pianissimo, allen Ausdrucksformen der menschlichen Stimme. Mit Ingo Metzmacher ist ein genialer Interpret von Nonos Musik am Werk, er führt Orchester, Chor und Solisten scheinbar mühelos durch die Schwierigkeiten der Partitur und lässt unglaubliche musikalische Momente entstehen. Das Orchester ist im ganzen Raum platziert, rechts auf der Galerie sind Vibraphon, Harfe, Pauke und Celesta, links 12 Schlagwerke, Becken und Militärtrommel. Die Wiener Philharmoniker folgen ihm mit hörbarer Freude und unglaublicher Präzision, ohne dass die Unmittelbarkeit verloren geht. Die eigentliche Hauptrolle hat der Chor, hier die Konzertvereinigung Wiener Staatsopernchor in der Einstudierung von Huw Rhys James. Sie ist in Höchstform, während der gesamten Azione scenica auf der Bühne, in ständiger choreografierter Bewegung.

Tenor Sean Panikkar singt den Emigranten fulminant und bewältigt den musikalisch schwierigsten Part mit unzähligen hohen C’s geradezu bravourös. Er ist der Auswanderer, der sich nach seiner Heimat zurücksehnt und letztlich wie alle anderen im reißenden Strom untergehen wird. Die Frau, die mit ihm in der Emigration lebte und ihn zum Bleiben beschwört (solide gesungen von Anna Maria Chiuri), wendet sich voller Hass gegen ihn. Auf seinem Weg in die Heimat gerät der Emigrant in eine Demonstration und wird, obwohl völlig unbeteiligt, festgenommen und als einer von vielen gefoltert. Die fast 20-minütige Folterszene wird vom Chor, Performern und der Compagnie des Bhodi Projects und der Salzburg Experimental Academy of Dance (SEAD) realistisch dargestellt. Bassbariton Musa Ngqungwana gestaltet mit großer Wortdeutlichkeit einen Gefolterten.

Die Gefolterten wenden sich ans Publikum mit der Frage: „Und ihr? Seid ihr taub? … Rüttelt Euch die Klage unserer Brüder nicht auf?“ Schwer, sich hier nicht persönlich betroffen zu fühlen. Mit dem Algerier, gesungen von Antonio Yang, gelingt dem Emigranten die Flucht aus dem Lager, die Freiheit wird zum wichtigeren Ziel als die Heimat. Die Gefährtin, perfekt gesungen und dargestellt unter totalem Körpereinsatz von Sarah Maria Sun, beschwört die Abkehr von Krieg und gibt Hoffnung. Regisseur Jan Lauwers füllt die Bühne mit permanenter Bewegung, geht mit den Folterszenen an die Grenzen. Er führt die Figur des blinden Poeten, gesprochen von Victor Lauwers, ein und verfasst ihm auch einen Text, der von allen verlacht wird. Letztlich verschlingt der Strom alle und alles. Es bleibt Brechts Schlusswort: „Gedenkt unsrer mit Nachsicht.“

Gabriela Scolik

„Intolleranza 1960“ (1961) // Azione scenica von Luigi Nono

Die Inszenierung ist bis 19. Dezember 2021 als kostenfreier Stream über ARTE concert verfügbar.

Kleine Oper ganz groß!

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2021)
Höchst relevantes Musiktheater mit der Pop-up Opera „Nau bens hald I“ über Georg Elser

Heidenheim an der Brenz / Opernfestspiele Heidenheim (Juli 2021)
Höchst relevantes Musiktheater mit der Pop-up Opera „Nau bens hald I“ über Georg Elser

Vier Sängerdarstellerinnen und -darsteller, zwei Musiker und eine Schubkarre, ein Rathausvorplatz – kann das denn schon Oper sein? Wenn man sich die Pop-up Opera „Nau bens hald I“ – eine Auftragskomposition der Opernfestspiele Heidenheim aus dem letzten Jahr – anschaut, dann besteht daran kein Zweifel. Aufwändige Kostüme und Bühnenbilder, üppiges Orchester, ein großes Ensemble – all das braucht es für den Opern-Moment nicht (zwingend). Dem kleinen Stück Musiktheater über den ersten Hitler-Attentäter Georg „Schorsch“ Elser gelingt es, in gut zwanzig Minuten jeden Einzelnen im Publikum zu berühren, zu unterhalten und zum Nachdenken anzuregen, als wär’s im großen Opernhaus.

Das Stück erlebte bereits im letzten Sommer seine Uraufführung. An den damaligen Erfolg anknüpfend, aber auch durch die weiterhin anhaltende Pandemiesituation bedingt, sollte diese „Oper in drei Aufzügen“ erneut auf die Plätze und an die Menschen der Region herangetragen werden. „Pop-up“ lautet die Devise, die nicht nur in leerstehenden Gebäuden der Innenstädte zu finden ist, nein: Gerade in Zeiten „kultureller Leerstände“ ist die Idee der improvisierten Bühne, die an unterschiedliche Orte und sich stets zu den Leuten hinbewegt, eine gelungene Anwendung des „Berg und Prophet“-Prinzips in Ausnahmezeiten.

Librettist Hendrik Rupp führt uns in drei Szenen vom Attentatsjahr 1939 über die direkte Nachkriegszeit hin ins Heute und zeigt, wie unterschiedlich die gesellschaftliche Wahrnehmung und Bewertung Elsers war und wie aktuell Geschichte – zumal diese, die von Zivilcourage und gesellschaftlichen Gruppenzwängen handelt – noch heute ist. In ostschwäbischer Mundart geschrieben, wird die Elser-Geschichte präsentiert als Stück regionaler Identität.

Das kleine Werk will nicht nur eine genuine Oper sein – es schafft das auch. Vor allem überzeugt die Reduktion auf das Wesentliche, die „Nau bens hald I“ zur Elser-Oper „in a nutshell“ macht: zwei Instrumente (Akkordeon, Schlagzeug) und zwei Personengruppen (Georg Elser und ein kleiner Chor, oder besser: Korps), mehr braucht der Komponist Sebastian Schwab für die Charakterzeichnung und Handlungslenkung seiner Figuren nicht. Schlagzeug und Chor bilden unüberhörbar eine Einheit: Der militante Trommelwirbel gibt den drei Jugendlichen den (Marsch-)Takt an. Georg Elser hingegen – hervorragend vom eingesprungenen Gerrit Illenberger verkörpert und im Übrigen der einzige Darsteller, der im klassischen Sinne „singt“ – findet sein Pendant im harmoniesuchenden Akkordeon. Die klare Regie von Lisa-Marie Krauß führt Wort, Musik, Szene und Sinn zusammen und schafft so in jeder Szene aufs Neue veritable Opernbühnen-Momente.

Das simple Prinzip „Pop-up“ mit einem anspruchsvollen Thema zu verknüpfen, das ist den Opernfestspielen Heidenheim hier zweifellos gelungen. Die Entscheidung, keinen Unterhaltungsstoff für dieses Format zu wählen, sondern ein gewichtiges Kapitel regionaler Geschichte, zeugt einmal mehr davon, dass dieses Festival seinen gesellschaftlichen Auftrag wahrnimmt und aufs Beste umsetzt. Hoffentlich bleibt diese Art von Oper auch in Post-Corona-Zeiten erhalten – sie ist ein wahrer Gewinn!

Dr. Dimitra Will

„Nau bens hald I“ (2020) // Pop-up Opera von Sebastian Schwab (Komposition) und Hendrik Rupp (Libretto)

Mord-s-Mozart-Collage

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2021)
Musikdramatisches Ausrufezeichen mit „Mozart muss sterben“

München / Staatstheater am Gärtnerplatz (Juli 2021)
Musikdramatisches Ausrufezeichen mit „Mozart muss sterben“

Zum Ende eines wahnwitzigen Viren-Theater-Jahres noch einmal so richtig aufdrehen: Genau das hat Intendant Josef E. Köpplinger seinem Haus musikdramatisch verordnet. Mozarts prall volle 36 Lebensjahre, die Gerüchte um diese Kürze, vor allem aber sein musikalischer Gefühlskosmos geben da mehr als genug für neunzig pausenlose Minuten her.

Die offene, leere Bühne bis an die Brandmauer; Arbeitslicht; ein paar wenig tätige Bühnenarbeiter; dann die „Beginn“-Ansage der über die Bühne eilenden Abend-Inspizientin samt ihrem prüfenden Blick in den Orchestergraben – und im Zentrum des halbgeschäftigen Nichts: ein leerer Rollstuhl. Nach Auftrittsaufforderung wankt ein gebrechlicher Mann in den Stuhl und brabbelt in einer Suada von seinem Handel mit Gott, dieses Wunder Mozart getötet zu haben. Es ist im Jahr 1823 der alte Antonio Salieri, umspielt von einem „Introitus“-Häppchen seines Requiems, umtänzelt von zwei „Venticelli“, zwei damaligen Klatschverbreitern, die das Gerücht zu einem „Shitstorm“ weiten und zu Allegro-assai-Klängen aus Salieris „Sinfonia veneziana“ diesen in den agil-intriganten Hofkomponisten der Wiener 1780er Jahre bis zu Mozarts Tod verwandeln: gepflegte Allonge-Perücke, glitzer-bestickter Barock-Gehrock über dem Rüschenhemd – und ein feinsinniger Theatraliker wie Erwin Windegger macht daraus ein Kabinettstück mit Sahnehäubchen.

Dann beginnt die Drehbühne zu kreisen, faltet sich auf, bildet kleine Bühnenpodeste – und das hochklassige Handwerksniveau von Choreografin Ricarda Regina Ludigkeit und Regisseur Köpplinger zaubert in den nur durch farbige Leuchtröhren ein bisschen wechselnden Raum eine Handlungs-Musik-Collage: temporeich, spannungsreich, stimmungsreich – bestes Musiktheater. Der Autor Köpplinger hat dabei aus Peter Shaffers „Amadeus“, Alexander Puschkins „Mozart und Salieri“, historischen Zeitungsmeldungen und eigenen verbindenden Sätzen bis hin zum grässlichen Gacker-Lachen des enfant terrible Mozart aus Miloš Formans Film eine Leidenstour des gut Begabten gegenüber dem Genie gemacht – von Peter Neustifters ungebärdigem Mozart über Florine Schnitzels leidgeprüfte Constanze bis zu Frank Bergs steifem Kaiser Joseph bestens gelungen.

Das aber auch, weil vom Orchestergraben aus Anthony Bramall in 21 Arien, Ensembles und Orchesterausschnitten den faszinierenden Kosmos von Mozarts Kompositionen ausbreitet. Ja, da ist nahezu jede Lebenssituation, Gefühlsschattierung und mal lustiges, mal abgründig fatales Ereignis in Töne und Expression verwandelt worden, immer wieder Leichtigkeit mit Tiefgang. Zehn Solisten des Hauses wechseln von Donna Anna über Cherubino, Konstanze, Sarastro, dem Mandolinen-begleiteten Ständchen des Don Giovanni zu Tamino und Figaro, von Jennifer O’Loughlins Koloraturen zu Mária Celengs Elvira-Furor. Bei den Herren geht der Abend-Lorbeer an Daniel Gutman, der nicht nur als Leporello die Mandoline zu Giovannis Ständchen live spielt, sondern als Figaro mit herrlich dunklem, kernigem und voluminösem Bassbariton Cherubino die ironisch-böse Realität des künftigen Soldaten-Daseins vorsingt. Am Ende der gekonnt auf Abstand agierende und dennoch blitzsauber singende Chor des Hauses, das Solistenensemble im „Lacrimosa“ und dann noch die Maurische Trauermusik – dazu Salieris Verzweiflung über die eigene, nur gediegene Mittelmäßigkeit – und dann frenetischer Beifall. Zum Saisonende ein herrlich heftig pulsierendes Lebenszeichen des Theaters – eine Produktion, die die Herbstsaison gleich höchst reizvoll beleben wird.

Dr. Wolf-Dieter Peter

„Mozart muss sterben. Eine theatrale Behauptung“ (2021) // Musik von Wolfgang Amadeus Mozart und Antonio Salieri, zusammengestellt von Josef E. Köpplinger in Anlehnung und unter Verwendung von Zitaten aus Peter Shaffers „Amadeus“, Alexander Puschkins „Mozart und Salieri“ sowie Zeitungsmeldungen und Zeitzeugenberichten aus den Jahren 1781 bis 1825

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters

Zum Abheben schön

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2021)
Operettenglück mit Kálmáns „Csárdásfürstin“

Bad Ischl / Lehár Festival Bad Ischl (Juli 2021)
Operettenglück mit Kálmáns „Csárdásfürstin“

Führt man Emmerich Kálmáns „Csárdásfürstin“ am Ort ihrer „Geburt“ auf, liegt die Messlatte hoch. Fast unüberwindbar, wie der Standesunterschied zwischen Chansonette Sylva Varescu und ihrem geliebten Fürstensohn Edwin von und zu Lippert-Weylersheim: nämlich „so hoch wie ein ganzer Himalaya“, findet Graf Boni. In einer Villa im Bad Ischler Kurpark ging vor über 100 Jahren dieser Operettenstern auf. Und genau dort hat ihn Thomas Enzinger beim Lehár Festival einmal mehr zum Funkeln gebracht. Eine bittersüße Liebesgeschichte, am Rande der Katastrophe des Ersten Weltkrieges: der Tanz auf dem Vulkan, dem die leise Ahnung tiefer Verzweiflung innewohnt. Diese düsteren Schatten zeichnet Enzinger mittels Videoprojektionen mit originalen Dokumentarfilmen, die ein in die Inszenierung eingeführter Conférencier (Kurt Hexmann) mit dramatischer Geste zum Laufen bringt. Am Varieté-Theater „Orpheum“ ist von Weltkriegskrise jedoch nichts zu merken: Dort verliebt sich „von und zu“ Edwin in Chansonette Sylva. Eine Liebe, die nicht sein darf, finden die adelsstolzen Fürsteneltern. Für die ist Comtesse Stasi (Loes Cools) die Richtige. Damit der elterliche Wunsch in Erfüllung geht, wird ein kreativer Plan geschmiedet. Man wittert emotionales Chaos. Enzinger greift tief in die Operetten-Trickkiste, zieht souverän die richtigen Strippen, die das Publikum zum Schwärmen bringt, und entfacht damit inszenatorischen Rückenwind zur erfolgreichen Besteigung des Himalaya. Drei Stunden vergehen wie ein Wimpernschlag – verträumte Walzerseligkeit, heiße Liebesschwüre, turbulente Verwirrungen, zündende Dialoge, romantische Sehnsüchte und das Ganze im goldenen (Bühnen-)Rahmen eines in die Operetten-Ära passenden Bühnenbilds (Toto). Glanz und Glitter spiegeln auch die Kostüme wider. Sven Bindseil lässt kein Klischee aus: die Damen in edlen Kleidern, die Herren in Uniform und Frack. Was will Kálmán mehr?

Mit umwerfender Stimmbrillanz besticht Ursula Pfitzner als Sylva Varescu in schillernden Höhen. Warm und trotzdem kraftvoll gefällt Tenor Thomas Blondelle als Edwin – besonders das Schwalbenduett zum Abheben schön. Publikumsliebling aber ist Matthias Störmer als Graf Boni, der mit slapstickartigem Auftreten zum Lachen bringt und in jeder (Bühnen-)Lage, etwa tanzend, flüchtend oder liegend, bestens bei Stimme ist. Immer ein Gewinn ist auch das energievolle Spiel der Fürsteneltern (Josef Forstner und Uschi Plautz), wie auch Kurt Schreibmayer als Feri, ein äußerst sympathischer Kumpel Edwins. Laszlo Gyüker dirigiert Kálmáns dichtes Orchesterwerk mit sensiblem, aber flottem Taktstock und beflügelt das Franz Lehár-Orchester zur Bestleistung. Zwischen feurigem Csárdás und leidenschaftlichen Melodien in makellosem Gesang wachsen Glücksgefühle. Aufwertendes Sahnehäubchen im Operettenhimmel ist Evamaria Mayers Tanzchoreografie – grandiose Tänzerinnen und Tänzer begeistern csárdásierend, walzernd und schaffen im Grand jeté einen aufregenden Mix aus anderen Tanzstilen. Bravo – die „Csárdásfürstin“ lebt!

Kirsten Benekam

„Die Csárdásfürstin“ (1915) // Operette von Emmerich Kálmán

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Festivals

Weniger ist diesmal mehr

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Halfing / Immling Festival (Juli 2021)
Puccinis „Madama Butterfly“ glänzt in puristischer Optik

Wer bei der aktuellen Neuproduktion von Intendant Ludwig Baumann auf den gewohnten inszenatorischen Überraschungseffekt wartet, wird zunächst ein wenig enttäuscht: Betont traditionell in Bühnenbild und Erzählweise kommt diese „Madama Butterfly“ daher – eine japanisch anmutende Papier-Hausfront vor zartrosa Hintergrund, lediglich bewegliche Schiebetüren geben dem „drinnen“ und „draußen“ der Handlung etwas Struktur. Manchmal dienen Lichteffekte und Schattenspiele zur Darstellung dessen, was parallel zur Handlung im Vordergrund dahinter „im Haus“ passiert. Wären da nicht die ausnahmslos prächtigen Kostüme und Masken – sogar der Chor trägt echte japanische Kimonos – gäbe es auf dieser Bühne nicht sehr viel zu sehen. Aber halt: Das Ganze mündet keineswegs in einem langweiligen Opernabend. Ganz im Gegenteil wirkt sich die Reduktion des Optischen wie ein Brennglas auf die akustische Melodramatik von Puccinis Musik aus. Erstaunlicherweise taugt gerade diese Art der Inszenierung hervorragend zum Beweis des dramatischen „Overloads“, den Puccinis Oper zu bieten hat – für ein emotional ausgehungertes Post-Corona-Publikum fast schon zu viel des Guten.

Dass die Idee gar so gut aufgeht, liegt an der herausragenden musikalischen Qualität – unabdingbar für ein solch puristisches Konzept. Allen voran Yana Kleyn, die Interpretin der Cio-Cio-San, der man darstellerisch wirklich alles abnimmt. Vom 15-jährigen Mädchen zur amerikanisch gewandeten „Mrs. Pinkerton“ und einer gebrochenen Madama Butterfly am Ende des Stücks beherrscht die junge Russin die Darstellung der verschiedenen Facetten ihrer Figur meisterhaft. Dazu macht sie mit einer überragenden Gesangsleistung dem Anspruch der Titelprotagonistin alle Ehre – und die Aufführung fast zur „One-Woman-Show“. Jenish Ysmanov ist ihr als Pinkerton mit vor allem in den Höhen strahlendem Schmelz ein ebenbürtiger Partner (keine einfache Aufgabe in diesem Fall). Ksenia Leonidova singt und spielt ihre Suzuki ausdrucksstark und überzeugend, Sergeij Kostov ist ein wunderbar-schmieriger Heiratsvermittler Goro mit auffällig schönem Tenortimbre. Lediglich der Sharpless von Ian Burns kann stimmlich mit dem sehr hohen Niveau nicht ganz mithalten, sein schauspielerisches Talent macht die kleinen Abstriche aber wieder wett. Sämtliche kleinere Solopartien komplettieren das Solistenensemble zu einer runden Gesamtleistung. Wie immer eine „feste Bank“ ist auch hier der Festivalchor Immling (Einstudierung Cornelia von Kerssenbrock), traditionell vorwiegend ein Laienchor mit erstaunlichem Leistungsvermögen und trotz pandemiebedingter Probeneinschränkungen voll spürbarer Begeisterung für die Sache. Die zweite Krone dieses Abends gebührt neben der Sängerin der Titelpartie allerdings eindeutig dem mitreißend spielenden Festivalorchester Immling, das unter der Leitung von Cornelia von Kerssenbrock diesen Puccini zu dem macht, was er ist: zweieinhalb Stunden italienisch-dramatische Sommerfestival-Oper at its best!

Iris Steiner

„Madama Butterfly“ (1904) // Tragedia giapponese von Giacomo Puccini

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Festivals

Schäferstündchen mit Happy End

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2021)
Frauenpower in Telemanns „Pastorelle en musique“

Potsdam / Musikfestspiele Potsdam Sanssouci (Juni 2021)
Frauenpower in Telemanns „Pastorelle en musique“

Ein Festival wird dreißig und niemand darf persönlich gratulieren. So trist sah es noch vor Kurzem für die Musikfestspiele Potsdam Sanssouci aus. Doch Anfang Juni war unverhoffte Bescherung mit dem wohl schönsten Geburtstagsgeschenk: der Erlaubnis, zu spielen und dies zumindest teilweise vor Publikum. Was das Hin und Her – erst die bereits zweite Absage des Programms, dann das Erarbeiten einer rein digitalen Version und letztendlich eine mit Live-Veranstaltungen – für das Team um Intendantin Dorothee Oberlinger an Fantasie, Organisationsgeschick und starken Nerven bedeutet hat, ist nur zu erahnen.

Bei der Opernpremiere ist von diesem Kraftakt nichts zu spüren. Sondern nur Freude und das auch noch aus einem weiteren Grund. Denn nach siebenjährigen Renovierungsarbeiten kann das Schlosstheater im Neuen Palais Sanssouci, ein Juwel unter historischen Spielstätten, wieder für das Musiktheater genutzt werden. Gegeben wird Georg Philipp Telemanns frühes, nach Texten von Molière komponiertes Bühnenwerk „Pastorelle en musique“, das von den Liebeständeleien zwischen zwei Schäferinnen und ihren männlichen Pendants handelt. 

Die erst Anfang 2000 in einem Archiv in Kiew aufgefundene Partitur ist eine musikalische Köstlichkeit mit französischem Einschlag und reizvoll instrumentierten Arien, die je nach Gefühlslage das idyllische Geschehen abbilden. Die bukolische Stimmung wird durch die von Johannes Ritter entworfenen Landschaftsprospekte und die in Naturtönen gehaltenen Kostüme perfekt illustriert. Auf Harmonie setzt auch Nils Niemann in seiner hübsch arrangierten Inszenierung, die historische Bewegungselemente miteinbezieht.

Das Festspiel-Motto heißt „Flower Power“. Doch bei „Pastorelle en musique“ passt die Überschrift „Frauenpower“ weit besser. Vor allem wird sie verkörpert von Dorothee Oberlinger, die am Pult des von ihr gegründeten Ensembles 1700 steht. Ihre Vitalität gepaart mit stilistischem Wissen befeuert die famosen Instrumentalisten zu farbreichem Musizieren – und dass sie es sich nicht nimmt, bei der Vogelarie zur Blockflöte zu greifen, versteht sich von selbst. Übrigens sitzen im Orchester noch mindestens zwei Mehrfachtalente. Yves Ytier zeigt sich als galanter Tänzer bei gleichzeitigem Geigenspiel und Max Volbers schwebt als flötender Cupido vom Kulissenhimmel herab.

Auch auf der Bühne haben die Damen das Sagen, das wird schon deutlich in Calistes Auftrittsarie „Freiheit soll die Losung sein“, die sich zum Duett mit Frauenchor erweitert. Lydia Teuscher singt sie mit überlegenen Koloraturen und lyrischem Leuchten, unterstützt durch die vokal ebenso gewandte, etwas dunkler timbrierte Sopranistin Marie Lys als Freundin Iris. Auf Wohlklang bedacht ist Bariton Florian Götz bei Damons Liebesschmachten, zurückhaltender, sanfter bemüht sich der Countertenor Alois Mühlbacher als Amyntas um seine Angebetete. Ein Happy End auf allen Ebenen. Nur der vorlaute Außenseiter Knirfix, den Virgil Hartinger mit tenoralem Witz ausstattet, bleibt alleine.

Karin Coper

„Pastorelle en musique oder Musicalisches Hirten-Spiel“ (1713/15) // Georg Philipp Telemann

Bipolare Erkrankungen auf der Musicalbühne

Bukarest / Teatrul Național de Operetă și Musical „Ion Dacian“ (Juni 2021)
Das preisgekrönte Musical „Next to Normal“

Bukarest / Teatrul Național de Operetă și Musical „Ion Dacian“ (Juni 2021)
Das preisgekrönte Musical „Next to Normal“

Was ist schon normal? Scheinbar alles oder nichts in dem gut zehn Jahre jungen Musical „Next to Normal“, dem Außenseiter, der die Karten des Genres neu aufmischt. Im Osten Europas, in der rumänischen Hauptstadt Bukarest, wo noch „Glam-Musicals“ die Hallen füllen, hat sich das junge Schauspieler/Sänger-Duo Victor Bucur und Daniel Burcea des psychisch durchwobenen Stücks von Brian Yorkey (Buch und Liedtexte) und Tom Kitt (Musik) um eine bipolar erkrankte Mutter und ihren Einfluss auf die gesamte Familie angenommen. New York war zutiefst gerührt, in Deutschland gab es Applaus ohne Ende und jetzt hat sich die Operetă National Bukarest an das heikle Thema gewagt.

Rockige, soulige Songs und geschickte Chorus-Passagen bis zu herzzerreißenden Balladen dringen in rumänischer Sprache besonders tief in die Emotionsebene der Zuschauer, ohne stetig melodramatisch sein zu wollen. Die scheinbar normale Familie wird ordentlich durchgeschüttelt und hält die Zuschauer in Atem. Als wichtiges Stück des 21. Jahrhunderts wurde „Next to Normal“ 2010 mit dem renommierten Pulitzerpreis für Drama geadelt, eine Sensation für das Genre Musical. Es will kein Schauspiel sein und zeichnet sich dadurch aus, dass es alle Voraussetzungen für ein Musical erfüllt, fast gänzlich durchkomponiert ist, zudem rasant, mit manch harten Schnitten und ungewohnt wohltuend ohne ständige Ovationen nach jeder Gesangsnummer. Hinzu kommt die intensive Auseinandersetzung mit einer psychischen Krankheit, dramaturgisch von Victor Bucur reif für unsere Zeit gemacht.

Anca Florescu, eine bekannte Darstellerin der großen Theater des Landes, spielt und singt die Rolle der Mutter Diana Goodman, die von absoluten Könnern gefasst werden muss. Sie spielt vor allem deren bipolare Depressionen in tiefer melancholischer Überzeugung bis ins Letzte aus. Denn Sohn Gabe (Lucian Ionescu) starb den Kindstod, ein Geheimnis, das er im Laufe der Vorstellung gekonnt lüftet. Er hilft der Mutter mit den Seelenschmerzen umzugehen. Musicalstar Adrian Nour („Phantom der Oper“, „Romeo und Julia“) offenbart in der Rolle des Vaters Dan Goodman, was er kann, überzeugt glaubwürdig und tief auf dem Weg zwischen dem Bekümmern um die kranke Ehefrau und der Suche nach einem eigenen Glück in wahrscheinlich einer seiner besten Rollen. Die benachteiligte Tochter Natalie (Sidonia Doica) sucht im Drogenrausch ihre Betäubung, findet Halt im pragmatischen Freund Henry (Andrei Miercure, der jüngst im Musical „Guten Abend, Mr. Wilde“ gefeiert wurde), auch wenn der das Leben für eine Katastrophe hält. Ihr Kuss versöhnt nicht nur die beiden, er erobert restlos das Publikum. „Normale“ Schocktherapie als Erinnerungsbewältigung empfehlen die Ärzte. Hier macht die wandlungsfähige Stimme des rumänischen Opernsänger Cătălin Petrescu die Diversität der Rolle des Doctor Madden zu einem Klangerlebnis.

Sichtbar platzierte der Bühnenbildner Cristi Marin die Band gleichberechtigt neben den Schauplatz des Geschehens, denn diese erst – unter dem mehrfach ausgezeichneten Pianisten Alexandru Mihai Burcă – gibt dem Ganzen die vibrierende Live-Atmosphäre. Auch wenn sich der Vorhang Anfang Juli zur Sommerpause schließt: In der kommenden Spielzeit wird sich der Nebel der psychotischen Normalität ein weiteres Mal über die Operetă National legen.

Dieter Topp

„Next to Normal“ // Musical von Tom Kitt (Musik) und Brian Yorkey (Buch und Gesangstexte)

Weitere Infos und Tickets auf der Website der Produktion

Wahlkampf in Neukölln

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Berlin / Neuköllner Oper (Juni 2021)
„Eine Stimme für Deutschland“ am Puls der Zeit

Es ist Wahljahr. In der Provinzstadt Hohenpfaffenberg-Siegertsbrunn kämpfen die Grüne Regula Hartmann-Hagenbeck und die Rechte Alina Deutschmann um das Bürgermeisterinnen-Amt. Zimperlich geht es da nicht zu, auch für kriminelle Aktionen sind sich die beiden nicht zu schade. Und die halbwüchsigen Töchter samt Anhang müssen mitmachen. Am Ende gewinnt eine Dritte, die strategisch gewiefte Wahlmanagerin von Alina. So in etwa könnte es sich demnächst in der Realität abspielen, wohl aber nicht ganz so überspitzt wie in Peter Lunds neuestem Musical „Eine Stimme für Deutschland“. Denn da entpuppt sich Alina als Exmann von Regula, dessen Neigung zum Tragen von Frauenkleidern ein Trennungsgrund war. Und das Happy End? Neues Familienglück zu viert statt Partei-Karriere.

Die jüngste Koproduktion zwischen dem Studiengang Musical/Show der UdK und der Neuköllner Oper Berlin, wo die überspitzte Farce Premiere feierte, strotzt vor politischer und gesellschaftlicher Aktualität, angereichert mit Diversität jeglicher Art, Identitätsfindung, sexueller Orientierung, Gendern und allem, was momentan so modisch ist. Mit leichter Hand, Biss und viel Witz fügt Lund alle Stränge zusammen und schafft zudem Figuren in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit. Jede und jeder kriegt ihr Fett weg, es gibt weder nur gute noch rein böse Charaktere.

In der schnell wandelbaren Kulisse von Ulrike Reinhard, die auch die Kostüme entworfen hat, setzt Lund als eigener Regisseur auf Tempo und genaues Timing. Joel Zupan präsentiert Alina als imposante deutsche Diva mit blondem Haarkranz. Hochgewachsen, kerzengerade beherrscht er die Bühne, ob in glamouröser Goldrobe oder im schicken Schwarzen. Als Gegenpol zu diesem Überweib zeigt Veronika de Vries als Regula die Seiten einer überforderten und gleichzeitig verbissenen Konkurrentin. Ihre Töchter, verkörpert von Mascha Volmershausen und Maria Joachimstaller, sind Energiebündel, die die männlichen Teenager mit ihrer geballten Mädchenpower in Schach halten. Soufjan Ibrahim als Gutmensch Albert und Fabian Sedlmeir als Adolf erspielen sich mit ihrer Unbeholfenheit und Unsicherheit viele Sympathien. Clarissa Gundlach als taffe Wahlmanagerin und Gwen Johansson als verletzliche lesbische Freundin Anuk komplettieren das Ensemble, das toll spielt, singt und auch in den von Cristina Perera choreografierten Tanzeinlagen überzeugt.

Große Themen brauchen große Musik. Die hat Thomas Zaufke komponiert: Seine melodisch eingängigen, effektvollen Songs, teils mit Bezug auf Klassiker von Bach bis Beethoven und bekannte Musicalvorgänger, sind eingebettet in einen Sound, der durch Synthesizer-Verstärkung Orchesterfülle imaginiert. Die kleine Band, von Hans-Peter Kirchberg souverän geleitet, hat hörbar ihr Vergnügen daran. „Entschuldige“ heißt ein Song, der das Wort als inflationäre Floskel entlarvt. Doch für das Musical braucht sich das Team nicht zu entschuldigen. Es ist beste Unterhaltung am Puls der Zeit.

Karin Coper

„Eine Stimme für Deutschland. Die musikalische Quittung“ (2021) // Musical von Thomas Zaufke (Musik) und Peter Lund (Text)

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Auf dem Weg zum großen Kino

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Juni 2021)
Toshio Hosokawas Oper „Hanjo“ filmisch realisiert

Das Staatstheater Braunschweig wartet mit dem 2004 uraufgeführten Opern-Psychothriller „Hanjo“ des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa beinahe im Kintopp-Format auf. Der auf des Messers Schneide balancierende Dramentext Yukio Mishimas und das von Hosokawa ins Japanische übersetzte Musikidiom der europäischen Nachkriegsavantgarde bieten treffliche Voraussetzungen. Isabel Ostermanns Regie lässt offen, was im Dreipersonen-Einakter Realität, was Projektion, Traum oder gar Wahn ist. Gut möglich, dass sie unmerklich ineinander übergehen oder gar erhebliche Schnittmengen bilden. Die seit geraumer Zeit des Geliebten harrende Hanako jedenfalls erklärt auf all diesen Ebenen das Warten zum Seinszustand. Der sie darin bestärkenden Malerin Honda gelingt daher, die junge Frau in Abhängigkeit von sich zu halten. Selbst das Auftauchen des lang ersehnten Liebhabers ändert nichts daran. Ausstatter Stephan von Wedel siedelt das Geschehen in einem Mietshaus an, dessen Querschnitt in der Totale erst einmal wenig Filmisches, sondern ein portalfüllendes Bühnenbild präsentiert. Geht es dann aber in Malerin Hondas stylisches Appartement, von dem eine Wendeltreppe in Hanakos Kombination aus Kerker und Jungmädchenzimmer hinabführt, rückt Ismail Khudidas Kamera den Figuren beklemmend nahe auf den Leib und zu Gesicht. Kontrastiv dazu blickt Khudida den Figuren immer wieder über die Schulter und zeigt die Gesichter geradezu symbolisch im verlorenen Profil. Ebenso augen- wie ohrenfällig tritt die stückimmanente Verschiebung von Wirklichkeit und Wahrnehmung zutage, wenn Bild und Ton auseinanderdriften, indem Lippenbewegungen und Gesang die Synchronität entzogen wird.

Auch musikalisch überzeugt die Produktion. Bezwingend arbeitet Alexis Agrafiotis mit dem Staatsorchester Braunschweig die filmmusikalischen Qualitäten der Partitur so heraus, dass das Blut in den Adern zu gefrieren droht. Darstellerisch und vokal erfüllt Jelena Banković die Seele der Titelfigur randvoll mit zuweilen kantabel überbordendem Warten. Milda Tubelytė verleiht der im Inneren brodelnden Honda äußere Fassung und Kühle samt scharsinnig-intellektuellem Raffinement. Auf sanglich eleganter Linie bewegt Maximilian Krummen den chancenlosen Liebhaber Yoshio. So sehr für die Zukunft auf Produktionen vor dann wieder physisch anwesendem Publikum zu hoffen ist: Das Staatstheater Braunschweig hat mit „Hanjo“ einen Weg der Synthese von Musiktheater und Film gefunden. Nun herrscht Spannung auf künftige Rückkopplungseffekte für die Bühne.

Michael Kaminski

„Hanjo“ (2004) // Oper von Toshio Hosokawa

Die Inszenierung ist als Stream bis 4. Januar 2022 über die Website des Theaters verfügbar („pay as you wish“).

„Die rechte Braut“ am Lied erkannt

Salzburg / Salzburger Landestheater (Mai 2021)
Alma Deutschers „Cinderella“ als Augen- und Ohrenschmaus

Salzburg / Salzburger Landestheater (Mai 2021)
Alma Deutschers „Cinderella“ als Augen- und Ohrenschmaus

Talent verpflichtet – gerade in Sachen Musik ist Teilen Ehrensache. Das spürte die Britin Alma Deutscher (*2005) bereits im Kindesalter. Inspiriert vom Grimm’schen Märchen, komponierte sie als Achtjährige ihre erste abendfüllende Märchenoper „Cinderella“ und avancierte bei der Uraufführung 2016 (Orchesterversion) in Wien ad hoc zum Shootingstar. „Töne schweben um mich herum. Sie zaubern ein Lied für mich!“, schwärmt Deutschers Cinderella im ersten Akt. Sie selbst fing die Töne ein, schuf aus ihrem inneren Klangzauber ein vieraktiges Werk in der Tradition der komischen Oper. Nach entbehrungsvoller Corona-Stille feierte „Cinderella“ in der Inszenierung von Carl Philip von Maldeghem und unter musikalischer Leitung von Gabriel Venzago nun eine rauschende Premiere.

Dass der Abend im besten Wortsinn etwas Märchenhaftes hat, liegt gewiss nicht am harten Kulturentzug. Die wohltuend belebende, zauberhaft berührende und mit feingeschliffener Situationskomik gewürzte „Cinderella“ wurde am Ende verdient mit Standing Ovations geehrt. Deutscher verlegt die Handlung in die Welt der Musik: In einem Opernhaus, ehemals von Cinderellas Vater geführt, herrscht die intrigante Stiefmutter (Anne-Fleur Werner). Cinderella, eine begabte Komponistin, trägt wunderschöne Melodien in sich, für die sie, statt Anerkennung und Förderung, Spott und Missgunst erntet. Die beiden Stiefschwestern (Laura Nicorescu und Olivia Cosío) sind Meisterinnen im Nerven und Mobben, talentfrei, hübsch, aber auf lächerliche Art divenhaft. Weil der gesundheitlich angeschlagene König des Regierens müde ist, soll der Prinz auf Brautschau gehen. Doch der lässige Thronfolger im Holzfällerhemd will nicht unbedingt eine Standesgemäße. Seine große Liebe, „die rechte Braut“ also, soll musisch veranlagt sein – er selbst ist ein begabter Dichter. Nicht am passenden Schuh, sondern an der zu seinem Gedicht passenden Melodie will er sie beim schrill-schrägen Maskenball mit Gesangswettbewerb „erkennen“. Eine gute Fee (Maria Polańska) macht’s möglich, dass auch Cinderella ihre Chance bekommt. So nimmt, wenn auch auf Umwegen, das (Liebes-)Glück seinen Lauf.

Mehr als glücklich auch der „Lauf“ der Operninszenierung: Charakter- und stimmungsvolle musikalische Ideen mit eingängigen Melodien in den Gesangspartien entfalten in Topbesetzung volle Wirkung, das Mozarteumorchester Salzburg überzeugt bei höchster Virtuosität und präzisem Zusammenspiel, das Libretto ist voller Witz, hat aber trotzdem Tiefgang. Ein stylisches, auf der Drehbühne in zwei Räume (Königsgemächer und Opernhaus) geteiltes Bühnenbild (Stefanie Seitz) macht den modernen Märchenplot zum Augenschmaus. Laura Incko gibt eine selbstbewusste Cinderella, überzeugt mühelos in allen Tonlagen und sprühender Präsenz. Der Prinz (Luke Sinclair), locker-lässig und grundsympathisch, aalt sich mit geschmeidigem Tenor in seiner Rolle. Dass er mit dem königlichen Vater (George Humphreys) und dessen Minister (Alexander Hüttner) seine liebe Not hat, wie auch das Gebaren der beiden Stiefschwestern als Möchtegern-Operndiven, die sich in trillernd-schillernden Duetten duellieren, ergänzt das Märchenhafte um weitere komische Momente.

Kirsten Benekam

„Cinderella“ // Märchenoper von Alma Deutscher; Erstaufführung der erweiterten und überarbeiteten Salzburger Fassung

Infos und Termine zur Produktion auf der Website des Theaters