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Rezensionen 2025/04

24. Juni 2025

Das große Krabbeln

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Juni 2025)
Haydns „Schöpfung“ wird kompostiert

Wiesbaden / Staatstheater Wiesbaden (Juni 2025)
Haydns „Schöpfung“ wird kompostiert

Während das Orchester sich noch mit der „Vorstellung des Chaos“ beschäftigt, ist die eigentlich noch bevorstehende Schöpfung auf der Bühne bereits vollendet: Eine Projektion zeigt den Erdglobus in den Weiten des Alls. Eine imaginäre Kamera zoomt sich heran, Landmassen werden sichtbar, Wiesbaden, das Staatstheater und schließlich: ein Komposthaufen vor dem Theatergebäude. Die Kamerafahrt geht weiter in den Haufen hinein, wechselt von der Makro- zur Mikroebene. Nun baut sich das Bühnenbild (Mirjam Stängl) auf als stark vergrößertes Inneres des Komposthaufens mit tiefengestaffelten Pflanzenresten. Darin wuseln stumme Schauspieler in Insektenkostümen herum. Dem Programmheft sind dazu einige dadaistische Sprachspiele eingefallen, wie „Komponieren und Kompostieren“ oder „Humunismus“ statt „Humanismus“.

Die Musik ficht das nicht an, denn ihr Aufführungsort ist von der Bühne in den Saal hinein verlagert worden. Die drei Solisten treten wechselnd in den beiden Proszeniums- und der Kaiserloge auf, der Chor hat sich in den beiden Seiten des zweiten Ranges eingefunden. Die Koordination dieser Gruppen gelingt Leo McFall im Orchestergraben problemlos. Er animiert dazu sein blendend aufgelegtes Orchester zu einem farbigen und kraftvollen Sound mit vibratoarm intonierenden Streichern und blühenden Bläsersoli. Die Tempi nimmt er zügig und setzt die Aufführung dadurch unter Strom. Die aus dem Bachchor Wiesbaden, der Kinder- und Jugendkantorei der Evangelischen Singakademie sowie dem Extrachor des Staatstheaters zusammengesetzte Sängergemeinschaft folgt ihm mit frischem, homogenem Klang und vorbildlicher Artikulation. Haydns Lob- und Preis-Chöre entfalten so eine mitreißende Wucht.

Fabelhaft sind auch die Solisten: Hovhannes Karapetyan besitzt mit seinem volltönenden und gut fokussierten Bassbariton die unerschütterliche Autorität des Erzengels Raphael, Galina Benevich bejubelt als Erzengel Gabriel mit klarem Sopran die Schöpfung, der strahlende lyrische Tenor von Katleho Mokhoabane als Erzengel Uriel ist dazu eine ideale Ergänzung. Den Zusammenhang mit dem Bühnengeschehen stiften die Kostüme von Sabrina Bosshard durch bunte Stoffe, die an die farbigen Strukturen von Schmetterlingsflügeln angelehnt sind.

Zum Schlussbild mit Adam und Eva im Paradies wird die Bühne freigeräumt. Der Chor, nunmehr in Alltagskleidung, wird von unten heraufgefahren. Die Sänger halten Äpfel in der Hand, welche sie schließlich verzehren – eine Anspielung auf den von Haydn nicht vertonten Sündenfall. Nach der Aufführung geht es zum Komposthaufen vor dem Theater, wo die Apfelreste abgelegt werden. Dort erklingt dazu die Auftragskomposition „for you are soil“ von Arne Gieshoff, eine Klangskulptur unter Verwendung des „Chaos-Akkords“ aus der Einleitung zu Haydns Oratorium. So stellt das Produktionsteam um Franziska Angerer immer wieder Zusammenhänge zwischen Musik und dramaturgischem Überbau her und entgeht durch eine leicht ironische Grundierung der Gefahr eines Umkippens in öko-esoterischen Kitsch.

Dr. Michael Demel

„Die Schöpfung“ (1798/99) // Oratorium von Joseph Haydn, mit der anschließenden Neukomposition „for you are soil“ von Arne Gieshoff

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Wiesbaden

23. Juni 2025

Ambition und Illusion

Graz Styriarte (Juni 2025)
Allegorische Wirkmacht, Tanz und Puppen für Draghis „Das verwunschene Glück“

Graz Styriarte (Juni 2025)
Allegorische Wirkmacht, Tanz und Puppen für Draghis „Das verwunschene Glück“

Weltgeschichte trifft auf Doppeljubiläum! Im Jahr 1625 begann Hans Ulrich, der erste Fürst von Eggenberg, mit dem Bau seiner Residenz in der Steiermark und sendete damit auch eine Botschaft an die Welt, die heute von Relevanz ist. Schloss Eggenberg sollte ein Gegenentwurf zum äußeren Chaos des Dreißigjährigen Kriegs sein, architektonisch raffiniert errichtet als Abbild der kosmischen Zahlen-Harmonik: 365 Fenster und 24 Prunkräume sind dort ringförmig um vier Außenflügel angeordnet.

Die 400-jährige Aura dieses Ortes, Draghis „Hochzeits-Oper“ und die sehenswerte, weil überaus kreativ gestaltete Ausstellung „Ambition & Illusion“ fügen sich in Eggenberg zum sinnlichen Gesamtpaket. Bis Anfang November nimmt die Schau in einer inspirierenden Verbindung von kostbaren Kunstwerken und fürstlichen Räumen mit neuen Medien und alter Musik die Besucher für sich ein. Als ambitioniertes Musiktheater-Projekt schmiegt sich die kunterbunte Wiederbelebung von Antonio Draghis „Gl’incantesimi disciolti“ als Auftakt in das bemerkenswert vielseitige Programm der diesjährigen Styriarte, die seit 40 Jahren in und um Graz ansprechende Kulturformate präsentiert.

Mit der Hochzeit von Kaiser Leopold I. mit Claudia Felicitas von Tirol, der man das Schloss Eggenberg als Aufenthaltsort zugefügt hatte, fand in Graz de facto Weltgeschichte statt. Draghi und Librettist Nicolò Minato (ver)packten die zuvor stattgefundenen Intrigen, die sich um die alles – nämlich den Fortbestand des Habsburger Hauses – entscheidende Brautwahl entsponnen hatten, in ihr höfisches Allegorien-Spiel. Auf breite Zustimmung dürften auch heute Verse wie diese treffen: „Monster, verschwindet, verschwindet. Gegen das Gute könnt ihr nicht siegen, wie man verkündet.“

Der mit „Aufgelöste Zaubereyen“ übersetzbare Titel der Barockoper wurde in „Das verwunschene Glück“ umgedichtet. Dazu hat Styriarte-Dramaturg Thomas Höft ein neues und deutsch gesungenes Libretto erstellt. Die musikalisch eher kontrastarme Oper ist lediglich als Particell erhalten. Daher ergänzte man die Partitur geschickt mit Werken von u.a. Biber, Rittler und Giovanni Valentini sowie einem von Michael Hell kenntnisreich komplettierten Orchestersatz. Seine Expertise für historische Aufführungspraxis macht er vom Cembalo aus samt Highlight-Flötensoli als charismatischer Leiter des Ensembles „Ārt House 17“ transparent. Elegant und klanglich differenziert begleitet das Orchester das szenische Geschehen, das sich auf einer eng bemessenen Bühnenfläche entsprechend reduziert bis zum erwartbaren Happy End entfaltet. Endlich kann sich die „Zuneigung“ mit dem „Glück“ vermählen, sind Selbstsucht, Lügen und Neid in die Schranken verwiesen.

Als Mini-Kollektiv überaus präsent und raumeinnehmend agieren die vier Tänzerinnen Mareike Franz (Choreografie), Anca Huma, Klara Beyeler und Anne-Marie Warburton. Sie kommentieren und übersetzen all die in Arien und Rezitativen verbalisierten Emotionen, Intentionen und Motivationen der allegorischen Figuren in eine leicht verständliche Körpersprache, führen schrill ausstaffierte Puppen, interagieren oder „konkurrieren“ mit den sechs Sängerinnen und Sängern um die besten Podestplätze. Angenehm im Ohr bleiben neben Tenor Julian Habermann (Die Zuneigung) insbesondere die Sopranistinnen Sophie Daneman (Die Lüge) und Johanna Rosa Falkinger als „Glück“ sowie Anna Manske mit ihrem wandlungsfähigem Mezzo, der kalten „Neid“ ebenso wie die zur finalen Ordnung rufende „Vernunft“ ausmodelliert.

Anders als bei ihrer Uraufführung im Jahr 1673 findet die Barockoper nicht als Open Air im Park, sondern im sommerlich aufgeheizten, prunkvollen Ambiente des „Planetensaals“ statt. Hier wäre vielleicht das berühmte Weniger doch Mehr gewesen, um eine unnötige visuelle Überfrachtung zu vermeiden.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Gl’incantesimi disciolti“ („Das verwunschene Glück“) (1673) // Oper von Antonio Draghi, ergänzt mit Werken von A. Bertali, H. I. F. Biber, P. J. Rittler, J. H. Schmelzler und G. Valentini; im Orchestersatz komplettiert von Michael Hell; deutsche Fassung von Thomas Höft

9. Juni 2025

Intrigen in Las Vegas

Halle/ Händel-Festspiele und Oper Halle (Juni 2025)
Händels „Agrippina“ in der Gegenwart

Halle/ Händel-Festspiele und Oper Halle (Juni 2025)
Händels „Agrippina“ in der Gegenwart

Die 1709 in Venedig uraufgeführte Oper „Agrippina“ ist nicht Händels erste, aber sein erster gefeierter Erfolg in Italien. Musikalische Virtuosität mit den zeittypischen Arien-Schmankerln umranken eine Intrigenstory vom Feinsten. Wie aus den Hinterzimmern der Macht von heute – oder aus dem Oval Office im Weißen Haus.

Hausherr Walter Sutcliffe hat die Geschichte um die ehrgeizige Agrippina, die unbedingt ihren Sohn Nero auf den Cäsarenthron hieven will, den Römern entrissen und nach Las Vegas verlegt. Da wird das alte Rom zum Spielcasino „Caesar Palace Entertainment“ und der Kampf um den Thron heruntergedimmt auf einen Kampf ums Unternehmen. Aber ein totgeglaubter Kaiser wie Claudius, der plötzlich wieder auftaucht, ist nicht ohne Verlust auf einen Firmenboss reduzierbar. Auch wenn als Referenz an den Zeitgeist aus dem Agrippina-Helfer Narciso eine Narcisa wird, dauernd gekokst und gegrapscht und von Nerone auch mal ein Männerstrip beigesteuert wird: Stringent gelungen ist diese Las-Vegas-Story nicht.

Dabei hat sich Sutcliffe mit Aleksandar Denić diesmal sogar einen Bühnenbild-Star nach Halle geholt. Als Partner von Frank Castorf etablierte er sich als Genie seines Fachs. Für „Agrippina“ stellt er ein – aus seinem Rahmen fallendes – artifizielles Objekt auf die Drehbühne. Mit dem Leuchtschriftzug „Flamingo“, einem Riesensofa und einer Architektur, die an diverse Experimente mit Sichtbeton erinnert, begrenzt durch Silberglamour im Hintergrund. Das dreht und blinkt so vor sich hin und wird vom Chor (Einstudierung: Bartholomew Berzonsky) bevölkert, der mit seiner Secondhand-Las-Vegas-Mode, die vor allem lasziv wirkt, irgendwie klar kommen muss (Kostüme: Frank Schönwald). Ein Clou bleibt die grandiose Revuetreppe, die ihr Wirkungspotenzial entfaltet, wenn Romelia Lichtenstein von hier aus ihre Bosheiten vom Stapel lässt oder sich ausführliche Arien-Sorgen macht.

Da die Oper nach ihr benannt ist, geht es in Ordnung, dass sich die Interpretin der Titelrolle als charismatisches Zentrum behauptet und dem Publikum vokalen Genuss mit Tiefgang liefert. Außerdem ist sie eine perfekte Komödiantin – im Stück die Kanaille, aber eine, mit der man trotzdem sympathisiert, weil man sich über ihr Spiel auch tatsächlich amüsieren kann. Vom übrigen Ensemble kommen Countertenor Leandro Marziotte als Nerone und Vanessa Waldhart als die allseits begehrte Poppea vokalem Festspielniveau am nächsten. Am Pult des am Vortag mit dem Händel-Preis der Stadt Halle ausgezeichneten Festspielorchesters steht mit Laurence Cummings, dem ehemaligen langjährigen Chef der Internationalen Händel-Festspiele in Göttingen, einer der versierten Barock-Spezialisten, dem die Hallenser Musiker willig folgen. Gäste am Pult sind eben eine Festspiel-Tugend – vielleicht wären sie es auch mal wieder bei der Regie.

Dr. Joachim Lange

„Agrippina“ (1709) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

8. Juni 2025

Einchecken im Hotel

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Juni 2025)
... mit Vivaldi und Ovid

Salzburg / Salzburger Festspiele Pfingsten (Juni 2025)
... mit Vivaldi und Ovid

Künstliches Leben als Liebesersatz. Frevel gegen die Götter mit formvollendeter Kunst. Inzestuöses Verlangen nach dem eigenen Vater. Selbstverliebtheit bis in den Abgrund. Ganz schön viel. Und über allem schweben Orpheus und Eurydice mit ihrer reinen, kompromisslosen Liebe zwischen den Welten.

„Hotel Metamorphosis“ heißt das neue Pasticcio, das sich Regisseur Barrie Kosky und Dramaturg Olaf A. Schmitt auf Basis des antiken römischen Dichters Ovid ausgedacht haben. Dass die Salzburger Pfingstfestspiele in diesem Jahr im Zeichen der Lagunenstadt Venedig stehen, dürfte den „Einsatz“ der Musik Antonio Vivaldis erklären. Unter dem Motto „Klotzen statt Kleckern“ werden ganze 45 (!) seiner Kompositionen – Arien, Ensembles, Chöre und Instrumentales – zu einem hintergründigen Klangteppich verwoben. Kann das gutgehen? Ja. Und Nein. Denn das Ergebnis fesselt und langweilt zu gleichen Teilen. Zumal es Kosky mehr um eine „elegische Meditation“ als um einen bühnenwirksamen Spannungsaufbau geht. Kann man machen, wäre da nicht die Überlänge von knapp vier Stunden, in denen dieses einfach nicht zu Ende kommen wollende Projekt viel zu lange dahinplätschert.

Gemeinsam mit seinem Bühnenbildner Michael Levine siedelt Kosky das Geschehen in einem anonymen Hotelzimmer an: Doppelbett, Ledersessel, Stehlampe, Minibar – überall und nirgendwo. Eine Durchgangsstation der inneren Metamorphose, ein Raum der Einsamkeit, belebt von Gemälden, die Szenen aus den jeweiligen Mythen illustrieren. Hier müssen sich Pygmalion, Arachne, Myrrha, Echo, Narcissus, Orpheus und Eurydice ihren inneren Dämonen stellen. Krankt besonders die Pygmalion-Szene noch an Statik und Eintönigkeit, blitzt mit zunehmender Spieldauer durchaus auch Vielversprechendes auf: fein geschnitzte Seelenfenster, behutsam eingesetzte Videokunst (rocafilm) und übersinnliche Unterwelts-Kostümtupfer (Klaus Bruns) mit Schauwerten, sowie choreografische Einsprengsel, in denen Otto Pichler mit kraftvollem Tanztheater seine Lust an der Archaik auslebt.

Nicht minder energetisch präsentiert sich das Ensemble „Il Canto di Orfeo“ in seinen Chornummern (Einstudierung: Jacopo Facchini), nicht minder plastisch „Les Musiciens du Prince – Monaco“ unter ihrem Chefdirigenten Gianluca Capuano. Dieser wird dem Prädikat „Vivaldi-Experte“ mit sattem, lustvoll ausmusiziertem Klangbild in jeder Sekunde gerecht – Capuano weiß, was es heißt, Bühnenmusik zu beschwören, und kitzelt höchste Virtuosität aus seinen Solo-Instrumentalisten heraus.

Ebenfalls auf der Habenseite: ein illustres vierköpfiges Gesangs-Ensemble um Intendantin Cecilia Bartoli. Mit scharfem Timbre kehrt sie die Geltungssucht der Weberin (und späteren Spinne) Arachne nach außen, als Eurydice liefert sie zum Ende hin aber auch voller Trauer eine berührende Bravourarie erster Güte ab. Zur Seite hat sie sich gleich zwei Mezzo-Kolleginnen der nächsten Generation geholt: die extrem wandlungsfähige und dabei immer wieder herrlich aufblühende Lea Desandre und die divenhaft-furios auftrumpfende Nadezhda Karyazina. Abgerundet wird der sängerische Part von Philippe Jarousskys ätherisch lieblicher Counterkunst.

Ein seltsamer Fremdkörper im Geschehen bleibt Schauspielerin Angela Winkler als genderfluid mit Ovid- und Rilke-Zitaten durch die Szenerie geisternder Orpheus. Ihre süßlich-herbstliche Stimme und aufgesetzte Begeisterung irritiert bis zuletzt. Aber vielleicht passt das ja zu dieser nach guter alter Pasticcio-Tradition entstandenen Uraufführung mit all den großen Ambitionen, die am Ende leider doch nicht ganz zünden wollen.

Florian Maier

„Hotel Metamorphosis“ (2025) // Pasticcio mit Musik von Antonio Vivaldi, Fassung von Barrie Kosky und Olaf A. Schmitt

Infos und Termine auf der Website der Salzburger Festspiele

27. Mai 2025

Spiegel der Welt

Erl / Passionsspiele Erl (Mai 2025)
Martin Leutgebs Passionserzählung mit Musik von Christian Kolonovits

Erl / Passionsspiele Erl (Mai 2025)
Martin Leutgebs Passionserzählung mit Musik von Christian Kolonovits

Sie tanzen und feiern, aber die Euphorie der Jesus-Gemeinschaft ist nur von kurzer Dauer. Ein lebhaft glühender Optimismus springt nach Jesus’ brutaler Kreuzigung dessen Hinterbliebenen erst recht aus den Augen, vor allem seiner Mutter Maria. Während des Gangs des „Königs der Juden“ zum Richtplatz – das schwere Kreuz auf seinem gekrümmten Rücken – deklamiert Maria das im „Evangelium nach Lukas“ vor Jesus’ Geburt stehende Magnificat. Das ist eine der spannenden wie dramatisch sinnfälligen Freiheiten.

Für jeden Spielzyklus der alle sechs Jahre stattfindenden und 1613 erstmals erwähnten Passionsspiele Erl entsteht eine neue Fassung, dieses Jahr von Martin Leutgeb und dem Komponisten Christian Kolonovits. Rund 650 Einwohnerinnen und Einwohner der Tiroler Gemeinde agieren auf der Bühne im 1963 eröffneten Passionsspielhaus.

Den riesigen Chor, auch das hinter den von Neonleisten umrandeten, variabel schwebenden Projektionsflächen sitzende Orchester unter der musikalischen Leitung von Anton Pfisterer und die vielen stummen Mitwirkenden versteht Kolonovits ebenso in begeisterten Bann zu schlagen wie das Publikum. Martin Leutgebs maßvolle Aktualisierung erweist sich als gelungen und verständlich auch für weniger bibelfestes Publikum. Die Positionen der dogmatischen Splittergruppen von Leviten, Sadduzäern und Pharisäern arbeitet er deutlich heraus. Unaufdringlich spiegeln sich in den dargestellten Politikern Judäas, dem römischen Statthalter Pilatus, den opponierenden Kindern und der bis zur Gefangennahme Jesus’ mit sonnigem Gemüt auftretenden Jüngerschaft die gegenwärtigen Tendenzen von Polarisierung und gewaltbereiter Erbosung. Dadurch wird die Erler Passion durchaus moralische Anstalt und Spiegel der Welt.

Auch in der ersten Wiederholung und damit zur Premiere des zweiten Besetzungsteams vollziehen sich die letzten Tage Jesus’ im Betonportal des Passionsspielhauses und auf den über 40 Stufen von Hartmut Schörghofers imposanter weißer Treppe mit genderkorrekter Stringenz, Jung’schen Archetypen und Kolonovits’ das Spiel fast pausenlos begleitender Musik. Juliane Herold gestaltet dazu farbklare Stoffwürfe aus intrigantem Gelb für den Hohen Rat, Sandfarben für die Jesus-Anhänger und Taubenblau für die römischen Legionäre.

Maria Magdalena ermöglicht der kurzlebigen Sozialgemeinschaft um Jesus mit dem Ideal von asexueller Polyamorie die wirtschaftliche Unabhängigkeit. Auch in Erl gerät die Massenszene mit Jesus’ Auspeitschung zum Volkszorn von orgiastischer Wildheit. Die Kreuzigung danach ereignet sich dagegen mit einer Diskretion, die drastische Brutalität meidet. Das Orchester schweigt zum schwarzhumorigen Eklat der offenen Ehe von Herodes und Herodias mit aus Abgründen schwelenden Lastern, Lüsten und Wunden. Es ist auch die höchst energetische Kraft von Pathos, Anspruch, Effekt und Zugänglichkeit, welche im Passionsspieljahr 2025 erfreulich gut aufgeht. Die Schnittstelle von Spiritualität, Spannung und philosophischem Totaltheater erweist sich als bild- und sprachmächtiges Ereignis von moralischer Nachhaltigkeit.

Roland H. Dippel

„Der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (2025) // mit Musik von Christian Kolonovits

Infos und Termine auf der Website der Passionsspiele Erl

26. Mai 2025

Auf großer Fahrt zur Erkenntnis

Erfurt / Theater Erfurt (Mai 2025)
„Jim Knopf und die Wilde 13“ fantasievoll in Szene gesetzt

Erfurt / Theater Erfurt (Mai 2025)
„Jim Knopf und die Wilde 13“ fantasievoll in Szene gesetzt

Die Familienoper „Jim Knopf und die Wilde 13“ nach dem bekannten Kinderbuch von Michael Ende ist ein Auftragswerk des Theaters Erfurt. Die Musiktheaterdramaturgin Katharina Tarján verfasste das Libretto zum zweiten Teil der Geschichte, die Musik stammt vom Komponisten Tobias Rokahr. Die Handlung ist märchenhaft. Jim denkt über seine Herkunft nach und erfährt in einigen Abenteuern und Gefahren, dass er in Wahrheit Prinz Myrrhen von Jamballa ist und die Insel Lummerland, auf der er und Lukas der Lokomotivführer unter der Herrschaft von König Alfons dem Viertel-vor-Zwölften leben, nur die Spitze seiner Insel Jamballa bildet.

Während der abenteuerlichen Geschichte auf dem Weg zur Erkenntnis stiften Lukas und Jim Frieden zwischen den Feuer- und Wasserwesen und leisten hilfreiche Dienste. Beeindruckend ist die Friedensmahnung am Schluss des Werkes, die Kinder wie Erwachsene aufzurütteln versucht. Dies alles geschieht in einer packenden und fantasievollen Inszenierung von Stephanie Kuhlmann und mit malerischen, farbenfrohen Kostümen und Spezialeffekten (Ausstattung: Mila van Daag). Die Lokomotive Emma fährt qualmend über die Bühne und leuchtet aus den Augen, die kleine Lok Molly fährt stets hinterher und versucht Schritt zu halten. Später wird Molly durch diverse Umstände zu einem Kristall als Symbol für die Aussöhnung zwischen Feuer- und Wasserwesen, also zum Friedenssymbol. Der Halbdrache Nepomuk versucht immer, die Menschen zu erschrecken, obwohl er ein guter Drache ist. Erst durch Lukas und Jim lernt er, sein Können sinnvoller einzusetzen.

Musikalisch begeistert diese Familienoper durch einprägsame Musikstücke, die zum Mitsingen einladen, gekoppelt mit zeitgenössischen Elementen für Naturphänomene wie Wind, Wasser, Magnetismus, Licht und Dunkelheit, die vom Philharmonischen Orchester Erfurt unter Ingo Martin Stadtmüller schwungvoll dargeboten werden. Die Wilde 13 – bestehend aus zwölf Piraten, die nicht zählen können – singt nur auf einem Ton. Jim Knopf hat ein eigenes musikalisches Motiv, und auch der Klang der Trillerpfeife wird für die Lokomotiven eingebaut.

Hervorzuheben sind Katja Bildt als Jim Knopf und Johannes Schwarz als Lukas in den Hauptrollen, die spielerisch und gesanglich zu fesseln vermögen. Ebenfalls in größeren Rollen begeistern Candela Gotelli als Prinzessin Li Si, Sarah Hayashi als Meerjungfrau Sursulapitschi, Valeria Mudra als Frau Waas und Drache der Weisheit, Tristan Blanchet als König Alfons und Drache Nepomuk, Jörg Rathmann als Herr Ärmel und Rainer Zaun als Scheinriese Tur Tur. Die Kinder lauschen zwei Stunden lang fasziniert, was für ihre Begeisterung spricht. Durch die Verknüpfung mit dem bekannten Kinderbuchstoff, die einfühlsame Darstellung aller Akteure, die spannenden Momente und die Friedensbotschaft ist diese Uraufführung eine gelungene Einführung für Kinder in die Welt des Musiktheaters.

Dr. Claudia Behn

„Jim Knopf und die Wilde 13“ (2025) // Familienoper von Tobias Rokahr

Infos und Termine auf der Website des Theaters Erfurt

19. Mai 2025

Leben und Tod sind Kunst

Augsburg / Staatstheater Augsburg (Mai 2025)
Verdis „Maskenball“ als verklärende Selbstinszenierung

Augsburg / Staatstheater Augsburg (Mai 2025)
Verdis „Maskenball“ als verklärende Selbstinszenierung

Dieser Riccardo ist kein König Gustav III. von Schweden; und dieser Riccardo ist kein Gouverneur von Boston – wie sie alternativ in den zwei Fassungen von Verdis Oper „Un ballo in maschera“ hinterrücks ermordet werden. Dieser Riccardo in Augsburgs Neuinszenierung ist ein Künstler, ein Theatermacher, der selbstverliebt seine Lebensgeschichte auf die Bühne zu bringen trachtet und sich gerne dafür die Schwingen von Pegasus anschnallt. Zur Seite steht ihm Oscar als Regieassistent – und so eilen beide immer wieder hin und her zwischen Augsburgs Interimsbühne im martini-Park und dem mitten im Zuschauerraum belassenen Regiepult. Leben und Tod sind Kunst, sind große Oper. Da inszeniert sich ein Dramatiker und Theater-Protagonist selbst und verklärend: als einen guten, etwas diversen Menschen, als ein Opfer, als einen Märtyrer. Mal etwas divenhaft, mal etwas tuntig, mal etwas larmoyant, mal etwas kindlich. Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist es mitunter nur ein kleiner Schritt … Im Finale, wenn er eigentlich mausetot ist, unser großer Bühnenkünstler, dann schwillt ihm noch einmal die Brust, dann reckt er noch einmal den Arm in die Höh’ – um den Sieger in Pose zu geben.

Das Ganze ist gewiss ein tragfähiger Grundgedanke für die frische szenische Interpretation einer Oper, in der Verkleidung (1. Akt), Verschleierung (2. Akt) und Maske (3. Akt) eine wichtige Rolle spielen. Doch des wirklichen Regisseurs Inszenierung – Roman Hovenbitzer sein Name – ist gefüllt mit noch mehr Ambition, was zumindest die ersten beiden Akte überfrachtet und unruhig, ablenkend ablaufen lässt. Zum Hin- und Herspringen zwischen Bühne und Regiepult kommen immer wieder Video-Einblendungen symbolischer, stimmungserläuternder, schriftlicher Natur (Bühne: Hermann Feuchter). Weniger davon wäre deutlich stringenter gewesen. Die Produktion verfängt sich im Visuellen und kann auch nicht das notwendige Maß an prägnanter Personenführung dagegensetzen. Schade.

Dass sie gleichzeitig – wiederum zumindest die ersten beiden Akten betreffend – orchestral auf halber Flamme köchelt, macht es nicht besser. Ja, doch, die Augsburger Philharmoniker spielen unter Domonkos Héja sauber, präzise, transparent, nahezu feinsinnig. Aber es mangelt gleichzeitig an Leidenschaft, an brio. Erst im dritten Akt kriegt die Wiedergabe szenisch und musikalisch Zug – auch vokal durch Max Jota als nun heldisch in die (Theater-)Geschichte eingehender Riccardo, auch durch Olena Sloia als Oscar mit ihrem schön zwielichtig blitzenden Koloratur-Sopran. Aber Shin Yeo als Renato schwächelt auch noch im dritten Akt in der Höhe unüberhörbar – während die reifste, durchgehend schönste Vokal-Gesamtleistung des Abends aus der immer noch leicht anspringenden Kehle von Sally du Randt (Amelia) ertönt.

Rüdiger Heinze

„Un ballo in maschera“ („Ein Maskenball“) (1859) // Melodramma von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website des Staatstheaters Augsburg

12. Mai 2025

Ende gut, alle tot!

Passau / Landestheater Niederbayern (Mai 2025)
Alban Bergs „Lulu“ als Projektionsfläche

Passau / Landestheater Niederbayern (Mai 2025)
Alban Bergs „Lulu“ als Projektionsfläche

Fragmente üben in der Opernliteratur einen besonderen Reiz aus. Das Geheimnis des Unvollendeten teilt auch Alban Bergs Oper „Lulu“, die schon vor ihrer durchaus nicht unumstrittenen Komplettierung durch Friedrich Cerha ein reges Bühnenleben führte. Dass dies auch an kleineren Bühnen möglich ist, dafür sorgt seit 2012 eine clevere Bearbeitung des Dirigenten und Komponisten Eberhard Kloke, deren Qualitäten sich bei der Neuproduktion am Landestheater Niederbayern zeigen.

Kloke ignoriert das langatmige Paris-Bild und konzentriert sich auf die wenigen überlieferten Skizzen Bergs. Dadurch präsentiert sich der letzte Akt deutlich gestrafft und die Geschichte steuert zielstrebig ihrem blutrünstigen Finale entgegen. Auch die reduzierte Orchesterbesetzung, die als Ausgleich mit Akkordeon und Klavier angereichert wird, lässt manche Details der Partitur deutlicher hervortreten als das üppige Original. Der langjährige Generalmusikdirektor Basil H. E. Coleman hat den Graben stets sicher im Griff und hält das Geschehen gut im Fluss. Für ihn ist die Wedekind-Vertonung ebenso eine Herzensangelegenheit wie für den 2026 scheidenden Intendanten Stefan Tilch, der sein Publikum gern mit Ausgrabungen und Raritäten überrascht. Das „wahre Tier“, das der Conférencier zu Beginn ankündigt, ist in seiner stringent erzählten Inszenierung keineswegs Lulu. Denn animalische Charakterzüge spiegeln sich schon im Prolog eher in den Kostümen ihrer Liebhaberinnen und Liebhaber.

Das Objekt der allgemeinen Begierde, das in jeder Beziehung einen neuen Namen umgehängt bekommt, ist vor allem Projektionsfläche für die Wünsche und Sehnsüchte anderer. Weshalb sie das Ausstattungsduo Charles Cusick Smith und Philip Ronald Daniels immer wieder hinter Pappaufstellern verschwinden lässt, die sie zu einer Art Ankleidepuppe werden lassen. Mit Natasha Sallès als Titelheldin ist dem Haus ein echter Glücksgriff gelungen. Die brasilianische Sopranistin bringt alles mit, was es für diese herausfordernde Rolle braucht. Trotz ihrer zierlichen Erscheinung verfügt sie über eine fesselnde Bühnenpräsenz und die Spitzentöne, die sie selbst in den höchsten Lagen so nonchalant funkeln lässt, dass man vergisst, wie verzwickt dieser Klassiker der Moderne komponiert ist.

Peter Tilch verleiht dem anfangs noch standhaften Dr. Schön mit markigem Bariton die nötige Autorität, ehe er von seinen Gefühlen übermannt wird. Ähnlich wie Edward Leach, der den jugendlichen Überschwang von Schöns Sohn Alwa in geradezu heldentenorale Töne kleidet. Subtiler ans Werk schreitet Reinhild Buchmayer, deren edel timbrierter Mezzo der aufopfernd liebenden Gräfin Geschwitz gut zu Gesicht steht. Sie steuert dem Abend ebenso eine eigene Farbe bei wie Stefan Stoll, der als asthmatisch rasselnder Schigolch für einige sarkastisch schwarzhumorige Momente sorgt, für die bei Tilchs Deutung im Sinne Wedekinds ebenfalls Platz ist. Eine mehr als beachtliche Ensembleleistung, die auch vom Passauer Publikum gebührend honoriert wird. Vor allem aber ein starkes Plädoyer für die Kloke-Fassung der Partitur.

Tobias Hell

„Lulu“ (1937/2010) // Oper von Alban Berg, vollendet und orchestriert von Eberhard Kloke

Infos und Termine auf der Website des Landestheaters Niederbayern

7. Mai 2025

Die Urmutter wacht

London / Royal Opera House (Mai 2025)
Barrie Kosky und Antonio Pappano schmieden ihren „Ring“ weiter

London / Royal Opera House (Mai 2025)
Barrie Kosky und Antonio Pappano schmieden ihren „Ring“ weiter

Erda schläft nicht. Die Urmutter sieht die Weltläufte mit eigenen Augen und ist ihnen in aller Nacktheit und Schutzlosigkeit zumeist hilflos ausgeliefert. Schlimmer noch: Sie wird auf einem Drehteller allen Blicken ausgestellt, grell beleuchtet von einem unbarmherzigen Scheinwerfer von oben. Im „Rheingold“ wurde ihr unter Folter das Edelmetall abgepresst, hier wird sie gedemütigt von Wotans Gattin Fricka, der sie zwischenzeitlich als livrierte Chauffeurin dienen muss – offenbar die Rache der Chefgöttin dafür, dass sie Wotans Lieblingstochter Brünnhilde geboren hat. Und doch: Erda greift ein, ganz sachte. Hilft Siegmund, das Schwert aus der Wand zu ziehen. Tröstet ihre Tochter Brünnhilde. Ist in deren Nähe, als Wotan sie schäumend vor Wut sucht, weil sie ihren Halbbruder Siegmund im Kampf gegen Hunding gegen seinen Befehl geschützt hat.

Eines schält sich nach zwei Teilen bereits heraus als roter Faden bei Barrie Koskys neuer „Ring“-Inszenierung am Royal Opera House in Covent Garden: Diese scheinbar wehrlose Mutter Erde wird dieses und jedes andere Patriarchat überleben. So eine Setzung ist nicht neu, aber sie ist in jede Figur hinein gut durchdacht und ausgearbeitet, für viele der logischen Brüche in der „Walküre“ hat Kosky eine Antwort gefunden. Zusammen mit Bühnenbildner Rufus Didwiszus und Kostümbildnerin Victoria Behr hat er starke und bisweilen typisch plakative Bilder ersonnen. Einiges ist aus dem „Rheingold“ der letzten Spielzeit übernommen, etwa die verkohlte Weltesche und eben Erdas Präsenz. Die Personenführung ist großartig, nicht zufällig wird der halbstündige (und gerne mal sterbenslangweilig anzusehende) Abschied Wotans von Brünnhilde zur intensivsten, gelungensten Szene des Abends.

Das liegt natürlich auch an Christopher Maltman, dessen Wotan seit dem „Rheingold“ an selber Stelle noch mehr Präsenz und auch Zwischentöne gefunden hat, und an Elisabet Strid, die es schafft, ihrer Brünnhilde Leichtigkeit und Verzweiflung, rohe Kraft und große Innigkeit zu verleihen. Natalya Romaniw steigert ihre Sieglinde klug zu heller Dringlichkeit und hat in Solomon Howard einen herrlich bösartigen, stimmlich wie textlich präsenten Hunding zum Partner. Nur Stanislas de Barbeyrac ist sprachlich und musikalisch überfordert, Siegmund ist die falsche Rolle für seinen weichen, gedeckten Tenor.

Das ist sicher auch der Grund, dass Antonio Pappano am Pult im ersten Aufzug ständig sein Orchester herunter dimmt, etliche Wackler inklusive – die Steigerung im Laufe des Abends ist aber gewaltig und die Ovationen am Ende völlig berechtigt. Auch Pappano ist es (neben seinem Buddy Kosky) zu verdanken, dass diese „Walküre“ die hohen Erwartungen nach dem „Rheingold“-Vorabend vor anderthalb Jahren erfüllen kann. Ob Siegfried dann auf dem verkohlten liegenden Baumstamm mit den vielen Astlöchern als seinem Spielplatz herumturnen wird? Wir sind gespannt. Keine gewagte Prophezeiung: Erda wird sicher zusehen.

Stephan Knies

„Die Walküre“ (1870) // Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Royal Opera House

5. Mai 2025

Urgeschichte und Apokalypse

Hof / Theater Hof (Mai 2025)
Auf der Raumbühne erfüllen sich private und kollektive Schicksale

Hof / Theater Hof (Mai 2025)
Auf der Raumbühne erfüllen sich private und kollektive Schicksale

Schroffe Kontrastwirkung: George Antheils Kammeroper „The Brothers“, eine zum Dreieckskonflikt hochgeschaukelte Paraphrase der Genesis-Episode des ersten Brudermords, und Johannes Harneits „Der Jüngste Tag ist jetzt“ als negative Apokalypse und irdisches Dies irae, werden im Theater Hof ein beklemmendes Erinnerungstheater zum 80. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs. Diese Sukzession von innerer menschlicher und äußerer kriegsbedingter Zerstörung wirkt in Aylin Kaips erst fast steriler, dann ergrauter Ausstattung auch deshalb, weil sie den Kontrast zwischen dem noch immer wie neu erscheinenden Theaterbau aus dem Jahr 1994 und den von Menschen in diesem Musiktheater-Doppel angerichteten Verwüstungen planvoll sichtbar werden lässt.

Instrumental- und Stimmklang entfalten sich auf der Raumbühne mit opulenter Klarheit, wenn 13 beziehungsweise 16 Mitglieder der Hofer Symphoniker auf dem hochgefahrenen Graben spielen. Peter Kattermann leistet am Pult eine immense Zähl- und Koordinationsleistung, welche ihm und allen intensiv agierenden Mitwirkenden das Publikum mit riesigem Applaus dankt. Der Chor (topsichere Einstudierung: Ruben Hawer) zischt, skandiert, ächzt, raunt. Stefanie Rhaue als Frau, Markus Gruber als Zivilist, Michal Rudziński als Soldat und Annina Olivia Battaglia als „flüchtende“ Stimme verkörpern zutiefst eindringlich vier Personenmuster von Kriegsopfern. Intendant Lothar Krause setzt ein Antikriegs-Memorandum ohne die direkte Darstellung von Krieg. Über das Libretto von Xavier Zuber glitzert ein wissenschaftlicher Beitrag des Physikers Markus Pössel. Es ist das Verdienst der dramaturgisch bestechenden Werkkombination, dass sie die gespreizte Betroffenheitsgestik von Harneits Musik in sinnliche Leiderfahrung umzumünzen vermag.

Der Höhepunkt der Premiere ist Antheils 55-minütiger Katastrophenreport. Zwei Ex-Soldaten (Markus Gruber und Michal Rudziński) sind signifikant, bleiben allerdings peripher. Die Dreiecksgeschichte um die blinde, in ihren Reden oft Entscheidendes verschweigende Mary, die dem als Soldat in den Krieg gezogenen Ken in einem Abschiedsbrief den Laufpass gibt und dessen von den Eltern begünstigten Bruder Abe heiratet, geht dagegen zutiefst unter die Haut. Die blinde Mary und der grundsympathische Abe stecken tief in einer nur angedeuteten Schuldverstrickung. Der nach dem Krieg bei Abe und Mary unterkommende Ken zeigt erst später Gewaltpotenzial. Inga Lisa Lehr spielt Mary mit lyrisch eindringlicher Sopran-Emphase. Dazu übertüncht Antheil psychische und physische Gewalt mit weichen Klanggebilden und Melodien. Tenor Minseok Kim und Bariton Andrii Chakov reizen den Tennessee-Williams-Groove der Handlung mit psychischer Schärfe aus und dosieren physische Power mit Sensibilität. Bei beiden steckt virile Emotionen- und Rivalitäten-Wildnis hinter prachtvollen und dabei maßhaltenden Stimmen, welche zu Antheils balladesker Musik einen Roman erzählen. Am Ende liegen sie beide blutüberströmt im verwüsteten Eigenheim. Dazu setzt Kattermann einen mit expressiver Stille verklingenden Schlussakkord.

Roland H. Dippel

„The Brothers“ (1954) // Oper von George Antheil

„Der Jüngste Tag ist jetzt“ (2003) // Szenisches Requiem von Johannes Harneit

Infos und Termine auf der Website des Theaters Hof