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29. August 2025

„Ich muss nichts mehr beweisen“

Im Gespräch mit Barbara Hannigan

Im Gespräch mit Barbara Hannigan

Ihr Markenzeichen: die Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin. Das Stück: die Monooper La voix humaine von ­Francis Poulenc, mit der sie seit über zehn Jahren auf der ganzen Welt für Furore sorgt, zuletzt in Erl. Wir sprachen mit der kanadischen Sängerin und Multikünstlerin – über neue Herausforderungen, spontane Entscheidungen und die Kunst, den richtigen Zeitpunkt dafür zu finden

Interview Simon Chlosta

In diesem Jahr sind Sie mit dem Polar Music Prize ausgezeichnet worden, einem der wichtigsten Preise für klassische Musiker. Einerseits sicher eine große Ehre, andererseits klingen solche Preise immer auch ein bisschen nach „Lebenswerk“. An welchem Punkt Ihres Lebens oder ihrer Karriere sehen Sie sich ­aktuell?
Ich hatte zunächst denselben Gedanken, als ich davon erfuhr: Ist das jetzt schon ein Preis für mein Lebenswerk? Ich habe doch noch 30 Jahre vor mir, warum geben sie ihn mir jetzt? Aber dann haben mich die Organisatoren beruhigt und gesagt, auch wenn der Preis oft erst an Menschen am Ende ihrer Karriere vergeben wird, steht er einfach für das, was ich bisher erreicht habe. Und da sind ja so viele Aspekte: das Singen, das Dirigieren, meine Arbeit als Mentorin. Ich habe auf jeden Fall noch viel zu tun und viele Ideen!

Welche zum Beispiel?
Es gibt zum Beispiel eine ganze Reihe von Komponistinnen und Komponisten, mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. Und dann werde ich ja ab der Saison 2026 auch Chefdirigentin beim Island Symphony ­Orchestra. Das ist eine ganz neue Erfahrung für mich, denn obwohl ich jetzt schon zehn Jahre Erste Gastdirigentin in Göteborg und neuerdings auch in Lausanne bin und außerdem eng mit Orchestern in London, ­München und Kopenhagen zusammenarbeite, war ich bislang noch nirgendwo Künstlerische Leiterin. Das ist etwas ganz anderes und eine große Verantwortung für mich, die ich gerne annehme, um zu sehen, wohin sie mich führt.

Haben Sie denn schon konkrete Pläne mit ihrem neuen Orchester?
O Gott, ja, jede Menge Pläne. Viel zu viele! Ich war letztes Jahr schon dreimal dort und habe viel mit ihnen telefoniert, um das künftige Programm zu planen. Die erste Saison ist jetzt im Grunde genommen fertig, wir müssen nur noch die Programme für die Gastdirigenten und -künstler festlegen. Das ist sehr viel Detailarbeit, da muss man einfach immer am Ball bleiben, man kann das nicht einfach delegieren. Aber ich bin da sehr engagiert. Ich arbeite parallel auch schon an meiner zweiten Saison und überlege mir, wie ich unsere Präsenz in Island und auf internationaler Ebene gestalten möchte.

Ist es eigentlich manchmal nervig, so weit im Voraus zu planen? Sie müssen ja heute schon wissen, worauf Sie in zwei oder drei Jahren Lust haben und was Sie singen oder dirigieren wollen? Wäre man da nicht manchmal gern etwas spontaner?
Stimmt schon, wir planen sehr weit im Voraus, was manchmal frustrierend sein kann. Andererseits habe ich es geschafft, auch innerhalb dieser langfristigen Strukturen Raum für Spontaneität zu schaffen. Ich kann also immer noch Programme ändern, Dinge hinzufügen und meine Kollegen anrufen und sagen: „Hey, lasst uns dies oder jenes machen.“ Ich schätze mich daher sehr glücklich.

„La voix humaine“ – Neuproduktion von Claus Guth bei den Tiroler Festspielen Erl 2025 (Foto Monika Rittershaus)

Um noch einmal kurz zurückzublicken: In der vergangenen Saison haben Sie gleich mehrfach „La voix humaine“ von Francis Poulenc aufgeführt, zuletzt bei den Tiroler Festspielen in Erl. Diese Monooper, in der sich eine Frau am Telefon von ihrem Geliebten trennt, begleitet Sie schon sehr lange, auch in der nächsten Saison steht sie wieder in ihrem Kalender. Was ist so besonders an diesem Werk, dass Sie es immer wieder aufführen?
Ja, ich singe diese Partie jetzt schon seit mehr als zehn Jahren. Die Handlung ist schnell erzählt, aber der Kern des Stückes ist natürlich ein anderer. Es geht es um Liebe und Verlust, um Isolation und die Angst, allein zu sein. Der Text von Jean Cocteau, den Poulenc vertont hat, ist einfach unglaublich, weil er einem so viel Dramaturgie bietet, mit der man sich auseinandersetzen kann – und weil die Figur ständig darüber spricht, was wahr ist und was eine Lüge. Neulich hat mir jemand nach einer Aufführung gesagt: „Eine Lüge ist sehr einfach, und die Wahrheit ist unglaublich komplex.“ Und ich dachte: „Oh, das ist ein wirklich guter Satz, denn so ist der Mensch irgendwie.“ Und so darf man auch nicht alles, was die Frau sagt, für wahr halten. Das macht es so interessant.

Sie haben das Stück auch schon selbst dirigiert und dabei gleichzeitig den Part der Frau gesungen, umgeben von Videoleinwänden, auf denen Sie selbst zu sehen sind …
Ja, das ist die Version, die ich am häufigsten aufführe, weil sie sehr gefragt ist. Allein in der nächsten Saison werde ich sie in New York, Prag, Istanbul und in der Scala in Mailand aufführen, immer mit verschiedenen Orchestern. Es ist wirklich eine besondere Version, weil sie das Stück auf eine andere Ebene hebt. Und bisher gab es auch noch nie etwas Vergleichbares, bei dem die Dirigentin die gesamte Oper singt und über drei im Orchester platzierte Videokameras mit den Live-Bildern interagiert. Die Umsetzung war 2021 eine große Herausforderung, aber auch sehr spannend – und sie ist bis heute eine kraftvolle und emotionale Art der Darbietung geblieben.

Klingt nach einem perfekten Barbara-Hannigan-Stück! Haben Sie manchmal das Gefühl, dass ein Werk, auch wenn es schon etwas älter ist, so gut zu Ihnen passt, als wäre es gerade erst für Sie geschrieben worden?
Eigentlich fühlt sich jedes Stück, das ich aufführe, für mich wirklich neu an, auch wenn es von Berlioz oder Beethoven ist. Der Grund dafür ist, dass ich immer von der Partitur ausgehe und mich nicht nach bestimmten Aufführungstraditionen richte, die durch andere Interpreten bekannt geworden sind, ganz gleich, ob es sich um eine Uraufführung oder um ein Barockstück handelt. Ich habe schon mit so vielen Komponisten zusammengearbeitet, und auch sie lenken mich immer wieder zurück zur Partitur und nicht etwa zu der Art und Weise, wie es der letzte Sänger oder Dirigent möglicherweise interpretiert hat. Niemand sagt mir, dass ich es so singen soll, wie es jemand anderes getan hat oder wie es auf dieser oder jener Aufnahme zu hören ist. Die Komponisten halten sich an ihre Partitur, also tue ich das auch.

Kommen wir noch einmal auf Ihre Doppelrolle als Sängerin und Dirigentin zu sprechen. Hat sich da in den vergangenen Jahren etwas geändert in Bezug auf das Verhältnis oder der Balance zwischen diesen beiden Professionen?
Als ich mit dem Dirigieren anfing, hatte ich eine Vollzeitkarriere als Sängerin, da blieb also nicht viel Zeit dafür. Dann wurde es irgendwann 50/50, und schon bald waren es eher 75 Prozent Dirigieren und 25 Prozent Singen. Ich habe mich dann sehr bemüht, nicht auch bei jedem Dirigierprogramm zu singen, teils, um meine Stimme zu schonen, teils weil ich nicht immer nur die singende Dirigentin sein wollte. Im letzten Jahr ging es nun wieder mehr in Richtung Singen, und mir wurde auch klar, dass jetzt alle wissen, dass ich beides kann und ich nichts mehr beweisen muss. Jetzt ist es wieder einigermaßen ausgeglichen und das finde ich großartig. In der kommenden Saison habe ich auch wieder viel Gesang im Programm, darunter eine große Tournee mit meinem Klavierpartner Bertrand Chamayou, aber auch, wenn ich mit Orchestern auftrete. Es gab bestimmte Stücke, die ich unbedingt aufführen wollte, also habe ich die Orchester einfach angerufen und gesagt: „Wir müssen das Programm ändern.“ So viel zum Thema Spontaneität: Es geht also, wenn man will!

Im Concertgebouw Amsterdam, 2017 (Foto Marco Borggreve)

Könnten Sie sich auch vorstellen, irgendwann nur noch zu dirigieren? Immerhin werden Dirigenten ja oft sehr alt, während die Bühnenkarriere einer Sängerin begrenzt ist.
Wenn ich das vor zwei Jahren gefragt worden wäre, hätte ich gesagt: „O ja, auf jeden Fall werde ich irgendwann mit dem Singen aufhören.“ Jetzt habe ich sehr gemischte Gefühle dabei, weil ich denke, dass die Entscheidung, dass eine Stimme nicht mehr hörenswert ist, eine sehr große Entscheidung ist – sowohl für das Publikum als auch für die Person selbst. Und schauen wir uns Sängerinnen wie Joni Mitchell an, die immer noch singt, obwohl sie sogar einen Schlaganfall hatte. Sie hat ihre Stimme durch das Singen zurückgewonnen, wenn auch nicht mehr das ganze Register, aber die Leute wollen sie hören. Natürlich kann ich in zehn Jahren wahrscheinlich keine Lulu mehr singen, aber bestimmt wird es etwas anderes für mich geben. Ich denke also, wenn ich singen will, sollte ich singen.

Neben Ihrer Arbeit als Sängerin und Dirigentin sind Sie auch als Lehrerin und Mentorin sehr aktiv. Sie geben Meisterkurse und haben sogar Ihr eigenes Förder-Programm „Equilibrium“, mit dem Sie junge Musikerinnen und Musiker auf eine Solistenkarriere vorbereiten. Außerdem kehren Sie als „Juilliard Creative Associate“ an die Juilliard School in New York zurück. Was genau werden dort Ihre Aufgaben sein? Gibt es den einen speziellen Tipp, den Sie all Ihren Studenten mitgeben?
Ich denke, das Wichtigste ist wirklich, sich selbst treu zu bleiben. Aber das muss eine bewusste Authentizität sein, es geht nicht um Narzissmus oder um „Ich, ich, ich“. Es geht eher um die innere Wahrheit, und das zeigt sich in der Art und Weise, wie wir mit der Musik umgehen, wie wir unseren Körper als Instrument einsetzen, wie wir eine physische Verbindung zur Musik aufbauen. Ich übe mit den Musikern zum Beispiel immer die Atmung, nicht nur mit Sängern, auch mit den Orchestern rede ich viel darüber. Ja, Atmung ist für jeden Musiker wichtig.

Haben Sie eigentlich schon einmal darüber nachgedacht, zu komponieren? Immerhin haben Sie in diesem Jahr ein Werk für das Verbier Festival mit dem Titel „At the Fair“ arrangiert.
Ja, das war zwar ein Arrangement, es gab aber auch komponierte Teile darin. Vor langer Zeit habe ich sogar mal Kompositionsunterricht gehabt, allerdings nicht mit dem Ziel, Komponistin zu werden. In der Highschool habe ich dann eher aus pragmatischen Gründen gelernt, wie man Arrangements erstellt, weil wir Stücke aufführen wollten, für die wir weder die finanziellen Mittel hatten noch die Rechte an bestehenden Arrangements erwerben konnten. Ich war damals etwa 17 Jahre alt, und jetzt ist es ein bisschen so, als würde ich dorthin zurückkehren. Es macht mir Spaß, also mal sehen, was kommt!

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2025

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30. Juni 2025

„Die Nähe des Todes hat viel mit Oper zu tun“

In Chemnitz wird der DDR-Kultroman „Rummelplatz“ zur Oper

In Chemnitz wird der DDR-Kultroman „Rummelplatz“ zur Oper

Im Gespräch mit der international gefeierten Schriftststellerin und Opern­librettistin Jenny ­Erpenbeck versucht Antje Rößler eine Annäherung an ein ungewöhnliches Regionalprojekt – drei Monate vor der Premiere

Ihr Image als graue Industriestadt im Osten bekommt Chemnitz nicht los, dabei hat der sächsische Ort jede Menge zu bieten. Vor allem in diesem Jahr, wo man als eine der Kulturhauptstädte Europas 2025 angetreten ist, kulturelle Vielfalt und Kreativität zu feiern.

Eines der vielbeachteten Hauptprojekte mit Uraufführung am 20. September: die Vertonung des legendären DDR-Romans „Rummelplatz“, einem drastisch-realistischen Erlebnisbericht des 1934 in Chemnitz geborenen Schriftstellers Werner Bräunig. Ein Roman, der in der DDR nicht erscheinen durfte und erst aus dem Nachlass des Autors 2007 herausgegeben wurde. Schauplatz: die Wismut AG im Erzgebirge, in der von der Sowjetunion Uran für die Atomindustrie abgebaut wurde. Bräunig positioniert sie als Metapher für die Lage in der jungen Republik, wo Alt-Kommunisten und KZ-Überlebende auf Ex-Faschisten treffen und die jüngere Generation vor ­allem materielle Interessen verfolgt, während die Macht der Parteibonzen zunimmt. Schließlich entladen sich die Widersprüche im Aufstand des 17. Juni 1953. Den musikalischen Part übernimmt der Hamburger Komponist Ludger Vollmer, der sich mit Opernadaptionen zeitgenössischer Bücher und Filme einen Namen gemacht hat. Um auch ein jüngeres Publikum anzusprechen, setzt er bei dieser Arbeit auf „melodischen Drive und pulsierende Rhythmen“.

Die Mammut-Aufgabe, aus Bräunigs sprachgewaltigem Nachkriegs-Panorama ein Libretto zu destillieren, übernahm die 1967 in Ost-Berlin geborene Schriftstellerin Jenny Erpenbeck. Als eine der bedeutendsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur wurde sie 2024 als erste Deutsche mit dem renommierten Inter­national Booker Prize ausgezeichnet. Vor ihrer Karriere als Schriftstellerin arbeitete sie als Musiktheater-Regisseurin. Für Erpenbeck, die immer mal Wagners „­Parsifal“ inszenieren wollte und „Peter Grimes“ als absolute Lieblingsoper bezeichnet, eine Erfahrung, die ihr bei der Arbeit am „Rummelplatz“ zugutekommt.


Frau Erpenbeck, ist dies Ihre erste Opern­libretto-­Arbeit?
Nicht ganz. Als mein Mann Generalmusikdirektor in Hannover war, habe ich das Libretto für eine Uraufführung geschrieben, die Giorgio Battistelli komponierte. Meine eigene Erfahrung als Regisseurin hat mir dabei beim Schreiben sehr geholfen. Regie führte damals Frank Hilbrich, der jetzt auch den „Rummelplatz“ machen wird.

Wie kam es überhaupt zu dieser thematisch ungewöhnlichen Opernproduktion?
Der Dramaturg Johannes Frohnsdorf hatte die sehr einleuchtende Idee, im Kulturhauptstadt-Jahr eine Produktion zu machen, die in der Gegend verwurzelt ist. Etwas, das die Menschen dort wirklich erreicht und zugleich Strahlkraft nach außen hat. Er brachte Bräunigs „Rummelplatz“ ins Gespräch.

Welchen Eindruck haben Sie generell vom Theater Chemnitz?
Das Theater hat es, wie mir scheint, nicht leicht. Die Chemnitzer Oper ist kein Staatstheater und muss deshalb mit relativ wenig Subventionen auskommen. Und die Leute sind dort wohl vergleichsweise wenig ausgehfreudig. Ich habe auch bei meinen Lesungen oft erlebt, dass sich im Westen das kulturaffine Bürgertum auch dadurch definiert, dass man sich bei Veranstaltungen öffentlich zeigt und trifft. Im Osten hatte ich dagegen manchmal den Eindruck, dass es so etwas wie einen Rückzug nach innen gibt. Die Zuhörer dort stellen wenig Fragen, sind nichtsdestotrotz aufmerksam und nachdenklich. Zu Ostzeiten wurden sogar Arbeiter und Bauern mit Sonder-Bussen in die Kultureinrichtungen gebracht. Inzwischen hat die Oper ihren Ruf als elitäre Institution leider wiedergewonnen, heutzutage pfeifen Arbeiter und Bauern wohl auf sowas wie Oper. Das ist schade!

Wann und wie sind Sie Bräunigs Roman begegnet?
Als die Anfrage aus Chemnitz kam, kannte ich bereits einige Werke von ihm, aber nicht den „Rummelplatz“. Ich wollte zuerst ablehnen, denn es ist ein Mammut-Unternehmen, aus einem 800-Seiten-Roman ein Libretto zu machen. Dann habe ich den Roman gelesen und war einfach hin und weg. Das ist ein unglaublich lebendiges und gutes Buch – nicht nur inhaltlich, auch sprachlich.

Bühnenbildentwurf von Volker Thiele

Was genau hat Sie an dem Roman fasziniert?
In der Einsamkeit Unter Tage stellen sich bestimmte Fragen viel existenzieller als im normalen Leben. Zugleich beschreibt Bräunig den wildwest-artigen Aufbruch in der Wismut nach Kriegsende, mit den vom Krieg kaputten Menschen, mit der komplexen politischen Lage – die Wismut gehörte ja der Sowjetunion – und dem politischen Wettlauf um die erste Atombombe. Und Werner Bräunig ist auch als Person der Zeitgeschichte interessant. Er hat viel durchgemacht, war aber durchaus für den Neuanfang unter sozialistischem Vorzeichen. Dennoch durfte sein Buch damals nicht erscheinen, was er wohl nicht verkraftet hat. Er ist viel zu früh – mit 42 Jahren – am Alkohol zugrunde gegangen.

Was sind das für Männer, die in der Wismut AG die sog. Pechblende [Anm. d. Red.: bedeutendes Erz zur Uran-Gewinnung] abbauten?
In Bräunigs Roman sieht man deutlich, dass es keine „Stunde Null“ gab. Die Regierung im Osten musste mit den vorhandenen Leuten das neue System begründen: mit Faschisten und Mitläufern, mit Opportunisten und Karrieristen. Und mit der Handvoll Kommunisten, die aus den Lagern oder der Illegalität zurückkamen. Die Wismut bildete eine Art Miniatur-Staat. Und Bräunig schaut sich diesen Mikrokosmos an: Wie soll das gehen, dass all diese Leuten zusammen etwas aufbauen?

Der Roman läuft auf den Aufstand vom 17. Juni 1953 zu. Endet hier auch die Oper?
1953 kam es zum ersten Bruch in der DDR-Geschichte, ausgelöst durch die Empörung der Arbeiter über die neuen Normen, die in den Betrieben eingeführt werden sollten. Im Epilog schlage ich einen Bogen bis ins Jahr 1992, als die Wismut aufgelöst wurde. Da muss eine der Hauptfiguren „abwickeln“, was sie als junge Frau mit viel Überzeugung aufgebaut hat. Eine tragische Figur. Chemnitz ist bis heute geprägt von diesen Verwerfungen, weil der Bergbau die Gegend zusammenhielt. Durch die Schließung vieler Zechen in den Neunzigern gibt es eine gemeinsame Verlusterfahrung in Bezug auf Arbeit, Familie und Zukunft. Dieser Schnitt in den Biografien vieler Menschen dort schlägt durch bis heute.

Ist das ein Stoff, der ausgerechnet nach ­einer Oper ruft? Man hätte ja auch ein Theaterstück daraus machen können …
Oper ist immer schön. (lacht) Aber nicht nur deshalb. Ein wichtiger Aspekt des Romans ist es, sich durch Vergnügen und vor allem mit Schnaps zu betäuben, damit man die schwere Arbeit überhaupt machen kann. Das ruft förmlich nach Musik. Und dann die vielen verschiedenen Stimmen, die kann man nur durch Musik zusammenbringen – und auch wieder auseinanderfliegen lassen. Bei Bräunig steht der Rummelplatz übrigens auf einem ehemaligen Friedhof. Die Nähe des Todes hat immer viel mit Oper zu tun.

Der Roman wirkt auch sehr akustisch und beschreibt eine unglaubliche Lärmkulisse.
Die Maschinen in den Stollen sind natürlich per se sehr laut. Aber das Ausgesetztsein unter diesen ungeheuren Mengen von Stein bringt auch jede einzelne Stimme mit ihrer Angst und Einsamkeit zum Vorschein. Oper bietet ja auch immer eine Innenansicht der Seelen. Und ­Ludger Vollmer hat ein Gefühl für den „Appeal“ des Genres, für den Pop-Aspekt. Das finde ich gut. Auch, weil ihm sehr wichtig ist, wieder junges Publikum für die Oper zu interessieren.

Jenny Erpenbeck mit Komponist Ludger Vollmer (Foto Nasser Hashemi)

Es wird also eher nicht avantgardistisch klingen?
Neue Musik sollte nicht nur für Experten da sein. Musik hat ursprünglich mit Körper, mit Rhythmus und Tanz zu tun. Man muss sie auch auf einer sinnlichen und lebendigen Ebene verstehen können. Ich selbst war schon das eine oder andere Mal bei Aufführungen sogenannter Neuer Musik, wo die Besucher sich hinterher benahmen wie bei „Des Kaisers neue Kleider“: Keiner traute sich zu sagen, dass er nichts verstanden hat. Und Avantgarde in der Musik nützt nichts, wenn man nicht auch emotional versteht, was das Neue ist.

Sie haben zwei Jahre Theaterwissenschaft an der ­Berliner Humboldt-Universität und dann Musik­theater-Regie an der Musikhochschule „Hanns Eisler“ studiert.
Ja, und ich erinnere mich gern an Gerd Rienäcker, meinen legendären Professor für Musikgeschichte, von dem ich viel gelernt habe. Er kommt übrigens auch in meinem Buch „Kairos“ vor. Ich zitiere da einen sehr berührenden Brief, den er mir nach dem Mauerfall geschrieben hat: Er ist froh, dass wir die Sklavensprache nun endlich abwerfen dürfen. Gleichzeitig verzweifelt er, weil er sieht, wie das Volk in den Abgrund läuft und er es nicht zurückhalten kann.

Sie haben als Kind ein Jahr in Italien gelebt, weil Ihre Mutter kurzzeitig mit einem Diplomaten dort ver­heiratet war. Hat das etwas mit Ihrer Liebe zur Oper zu tun?
Nein, die kam später, als ich schon fast erwachsen war. Allerdings habe ich immer gern selbst gesungen, als junges Mädchen einige Jahre in einem Kirchenchor. Die Eignungsprüfung für Musiktheater-Regie habe ich recht spontan gemacht und dann überraschend bestanden.

Andere Musiktheater-Regisseurinnen berichten von einer gewissen Frauenfeindlichkeit in diesem Metier. War das auch Ihre Erfahrung?
Wenn überhaupt, hatte ich Probleme mit den Sängerinnen, mit den Männern eigentlich nie. Frauen mögen es manchmal nicht, sich von einer anderen Frau etwas sagen lassen zu müssen. Es ist einfach ein sehr anstrengender Beruf mit viel Stress und unchristlichen Arbeitszeiten. Wenn man Kinder haben möchte, sollte man sich einen anderen Job suchen. Deshalb habe ich übrigens mit dem Beruf aufgehört. Als mein Sohn drei Jahre alt war, musste ich elf Kindergärten kontaktieren, bis ich ihn schließlich als Gastkind anmelden konnte. Von der Betreuung während der Abendproben ganz zu ­schweigen.

Ihren Mann, den Dirigenten Wolfgang Bozic, treffen Sie wohl auch nicht jeden Tag am Abendbrottisch?
Inzwischen häufiger als früher. Er begleitet mich oft auf meinen Lesereisen. Im März waren wir vier Wochen auf Literaturfestivals in Indien und Sri Lanka und jetzt gerade zwei Wochen in Ägypten.

Mischen Sie sich eigentlich in politische und gesellschaftliche Debatten ein?
Hin und wieder, aber die Auseinandersetzung in den Medien wird oft sehr hart geführt. Wenn man eine Meinung äußern will, die vom gängigen Kanon abweicht, kostet das viel Energie. Manchmal will ich diesen Gegenwind nicht aushalten, weil solche Auseinandersetzungen einen mit Haut und Haaren auffressen und meistens fruchtlos sind. Da verwende ich meine Energie lieber für ein neues Buch. Das Schwarz-Weiß öffentlicher Diskussionen reicht oft nicht, um etwas wirklich in der Tiefe zu verstehen.

Chemnitz ist in diesem Jahr Kulturhauptstadt. Deshalb greifen wir trotzdem eine Debatte auf: Warum hat die AfD in Ostdeutschland solche Erfolge?
Hätte man den Ostdeutschen schon viel früher Verantwortung zumindest für ihre eigenen Lebensbereiche zugestanden, wäre es wohl nicht so weit gekommen. Auch in den Medien waren und sind Ostdeutsche leider noch immer nicht angemessen repräsentiert. Ost und West haben 40 Jahre lang unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Aber Erfahrungen sind per se nicht richtig oder falsch, und keine ist mehr wert als die andere. Diesen Spagat auszuhalten, scheint eine schwere Übung.

„RUMMELPLATZ“

Ein Projekt für Chemnitz 2025
Nach einem Roman von Werner Bräunig
Musik von Ludger Vollmer, Libretto von Jenny Erpenbeck
Uraufführung: 20. September 2025 – weitere Termine bis November 2025
www.theater-chemnitz.de

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2025

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29. April 2025

Zum Beispiel: Chicago

Missy Mazzolis „The Listeners“ an der Lyric Opera zeigt, wie „Oper der Zukunft“ aussehen könnte. Und wie man sein Publikum für moderne Kompositionen begeistert

Missy Mazzolis „The Listeners“ an der Lyric Opera zeigt, wie „Oper der Zukunft“ aussehen könnte. Und wie man sein Publikum für moderne Kompositionen begeistert

von Iris Steiner

Zugegeben, es war nicht einmal US-Premiere, was da am 30. März an der Lyric Opera unter großer öffent­licher Aufmerksamkeit erstmals auf die Bühne kam. Nach der Uraufführung in Oslo 2022 mit Übernahme nach ­Philadelphia 2024 handelte es sich genau genommen schon um die letzte Station der Gemeinschaftsproduktion zwischen den drei Opernhäusern. Von Beginn an erfuhr das Werk der amerikanischen Shootingstar-Komponistin Missy Mazzoli und des kanadischen Librettisten und Filmemachers Royce Vavrek internationale Anerkennung von Kritikern und Publikum. Im Januar gab es am Aalto-Musiktheater Essen eine ebenfalls vielbeachtete deutsche Erstaufführung in der Inszenierung von Anna-Sophie Mahler. Und auch Opernhäuser in Australien und Kanada bekunden Interesse. Gelingt hier einer neuen Oper der Sprung ins breite Publikum?

Emotionale Charakterstudien zwischen Tonalität und Atonalität

Bereits die literarische Grundlage, der Roman „Das Summen“ von Bestsellerautor Jordan Tannahill, war ein internationaler Publikumserfolg. Librettist Vavrek weiß die emotionale und düstere Geschichte rund um menschliche Erfahrungen und aktuelle gesellschaftliche Themen für Libretto und Konzept zu nutzen. Nicht zum ersten Mal bewährt sich auch das Team Mazzoli/Vavrek: Nach „Breaking the ­Waves“ (2016) und „Proving Up“ (2018) ist „The Listeners“ bereits ihre dritte gemeinsame Oper. Mazzoli erklärte öffentlich, dass sie „etwas über Macht-Ungleichgewichte und eine Frau mittleren Alters, die sich in einer Extremsituation wiederfindet“ schaffen wollte. Sie sei „interessiert daran gewesen, wie manche Menschen, häufig Männer, zu Anführern von Gruppen werden, wie sie ihren Weg zur Macht manipulieren und vulnerable Menschen ausbeuten“. Auch das Phänomen des „globalen Summens“, von dem Studien zufolge bis zu vier Prozent der Weltbevölkerung betroffen seien, eigne sich „perfekt für das Musiktheater, da es sich um eine akustische Erscheinung handelt“. Im Ergebnis liefert „The Listeners“ eindringliche Charakterstudien mit emotionaler Tiefe und dreht sich inhaltlich um Isolation sowie die Suche nach menschlichen Verbindungen.

Die Koproduktion der Opernhäuser Oslo/Philadelphia/Chicago in der Regie von Lileana Blain­-Cruz setzt auf ­realitätsnahe Bilder des modernen Amerika (Foto Cory Weaver)

Mazzolis Musiksprache, bekannt für ihre Vielschichtigkeit und den experimentellen Ansatz, kombiniert einmal mehr traditionelle klassische Elemente mit elektronischen Klängen und unkonventioneller Instrumentierung. Eine Klangwelt zwischen „vertraut“ und „neuartig“ sowie häufige repetitive musikalische Muster erzeugen dazu intensive emotionale Wirkung. Die Komponistin beherrscht das Spiel mit kraftvollen wie subtilen Mitteln – manchmal hat ihre Musik geradezu hypnotische Wirkung. Ein wenig wie bei Filmmusik übrigens, obwohl die Komposition keineswegs als „Begleitfunktion“ zur Handlung abgetan werden kann. Ganz im Gegenteil: Sie prägt die Gesamtstimmung und verschmilzt mit der Energie der einzelnen Szenen. Die 44-jährige US-Amerikanerin jongliert mit Melodien à la Puccini ebenso gekonnt wie mit komplexen Harmonien und kontrastierender Rhythmik. Durch etwa den Einsatz von Glissandos wird aus einer Dissonanz schnell mal eine Konsonanz. „Slippery“ nennt Dirigent Enrique Mazzola diese Tonalität und den Werksstil insgesamt „melodical-dramatical“: „Missy weiß, wie man für Stimmen schreibt und für Orchester.“

Für Chicagos Music Director, dessen Vertrag gerade bis 2031 verlängert wurde, war die Produktion auch in anderer Hinsicht eine Besondere. „Wenn die Komponistin in unsere Arbeit selbst involviert ist und unmittelbar hinter einem sitzt, ist das nicht nur ungewohnt, sondern macht auch ungleich nervöser. Zumal die Orchestrierung alles andere als leicht ist und die Partitur riesig.“ Zweimal eine Stunde dauert die Oper. „Man ist die ganze Zeit irgendwie in Trance“, beschreibt ­Mazzola die künstlerische Spannung. „Die Komposition folgt meisterhaft einem großen musikalischen Bogen und zugleich vielen ­Einzelaspekten.“

Neue Oper – In Chicago ­bereits Tradition

John Mangum, seit einem halben Jahr General Director, sieht die Erfolgsaussichten des Werkes noch von einer anderen Seite: „Ich habe ,The Listeners‘ von meinem Vorgänger geerbt, da die Verträge natürlich schon vor Jahren geschlossen wurden. Aber ich bin sehr glücklich mit dieser Produktion, Missy Mazzoli und Royce Vavrek haben einen hohen Bekanntheitsgrad in Chicago – beim Publikum und unseren Sponsoren.“ Nicht zuletzt folgt man auch der bestehenden Tradition, moderne amerikanische Oper im Programm zu etablieren. „Wir haben mittlerweile ein Publikum entwickelt, das bereits darauf wartet.“ Immerhin fünf Mal steht „The Listeners“ auf dem Spielplan – bei der Größe des Hauses für potenzielle 16.000 Besucherinnen und Besucher. „Wir haben ziemlich große Erfahrung darin, wie die Produktion neuer Stücke auch wirtschaftlich funktionieren kann“, meint Mangum. „Fünf Vorstellungen sind demnach schon eine Aussage – selbst Beethovens ,Fidelio‘ hatten wir nur sechsmal im Programm.“ Man arbeitet im Stagione-Betrieb und sollte im fast komplett privat finanzierten US-Kultursystem eines immer im Auge behalten: Auch die zahlreichen Sponsoren und „Boards“ müssen mit im Boot sein.

Ob die realitätsnahe Inszenierung mit dem sehr amerikanischen „Schulklasse- und Wohnhaus-Setting“ (Bühne: Adam Rigg) zur Akzeptanz beim Chicagoer Publikum beiträgt, kann man nur vermuten. Zumindest rief der Charakter der Nachrichtensprecherin im zweiten Teil – offensichtlich eine perfekte Imitation des Archetypen lokaler amerikanischer News-Stationen – zahlreiche spontane Lacher im Publikum hervor. Und auch die englische Sprache der Oper sei in dieser Hinsicht ein deutlicher Pluspunkt, erklärt Mangum. „Gerade, weil unsere Thematik – Isolation und Einsamkeit – sehr aktuell und unsere Inszenierung nah am Leben ist, möchten wir, dass die Menschen sich auch durch ,ihre‘ Sprache ein Stück weit abgeholt fühlen.“

Das 1929 erbaute, aufwendig gestaltete „Civic Opera House“ in Art-déco-Architektur beherbergt heute die „Lyric Opera“. Im Innenraum: prunkvolle, elegante Ausstattung und beeindruckende Akustik (Fotos Lyric Opera of Chicago, Darris Lee Harris Photography)

„Networking“ – der Schlüssel zum Erfolg

Seit ihrer Gründung 1954 ist die Lyric Opera of Chicago fester Bestandteil des kulturellen Lebens der Stadt. Verortet im „Civic Opera House“, einem architektonisch beeindruckenden Art-déco-Gebäude aus dem Jahr 1929, spielt man neben dem breiten klassischen Repertoire traditionell auch moderne, amerikanische Opern und legt großen Wert auf Bildungs- und Outreach-Programme. In einem System, das ein Jahresbudget von gut 75 Millionen Dollar am zweitgrößten Opernhaus der USA großteils durch privatwirtschaftliche Finanzierung stemmen muss, ist die Einbindung in die Stadtgesellschaft ohnehin überlebenswichtig. „Den Hauptanteil erwirtschaften wir aus Ticketeinnahmen und durch Fundraising, was meine allererste Aufgabe als General Director ist und sicher 50 Prozent meiner Arbeitszeit ausmacht“, erklärt Mangum. „Ein signifikanter Unterschied zu Kollegen in Deutschland und Europa.“

Wie viele Kulturinstitutionen in den USA besitzt auch die Lyric Opera ein sogenanntes „Board of Directors“, eine gewachsene Gemeinschaft aus Spendern, Unterstützern und Opernliebhabern, die dem Betrieb nicht selten auch mit ihrer Wirtschafts- und Politikexper­tise unter die Arme greifen. Und erst vor wenigen Wochen freute man sich über die sagenhafte 25-Millionen-Dollar-­Einzelspende der Kunstliebhaberin Penelope Steiner. Als langjähriges aktives Mitglied im Unterstützer-­Board sorgt sie damit nun für neue künstlerische Perspektiven und wünscht sich nicht zuletzt „künstlerisches Top-­Level“ auf der Bühne. Mit Generalmusikdirektor Mazzola pflegt sie auch eine persönliche Freundschaft. „Sie weiß, dass ich nicht nur dirigieren möchte, sondern dass es mir um mehr geht und ich dieses Haus entwickeln möchte“, meint der Italiener mit Geburtsort ­Barcelona. Und gibt auch gleich zu, dass für ihn ein privat finanziertes System zunächst ungewohnt war. „Ich habe immer gedacht, staatliche Zuschüsse seien im Kulturbetrieb ,normal‘. Das ist aber eigentlich eine anonyme Sache, der Staat hat ja kein Gesicht. Hier kennt man im Gegensatz dazu jeden Einzelnen, der unsere Kunst unterstützt. Diese Leute sitzen hinter Dir im Publikum – und man kann sich auch mal bei ihnen bedanken.“

Ein gutes Team: Musikdirektor Enrique ­Mazzola, die stellvertretende Vorsitzende des Verwaltungsrats und Großspenderin Penelope Steiner, Verwaltungsratsvorsitzende Sylvia Neil und Generaldirektor und CEO John Mangum (v. l. n.r.) (Foto Jaclyn Simpson)

So ist die Großspende dann auch gut eingebettet – in eine Vision, die man hier „Oper der Zukunft“ nennt: Gemeint sind (auch) Koproduktionen und Partnerschaften mit amerikanischen und europäischen Häusern. Mangum denkt pragmatisch: „Da die meisten Menschen hauptsächlich ihr lokales Opernhaus besuchen, kann man diesen Kompromiss gut vertreten.“ Und auch im internen Arbeitsalltag eines Generalmusikdirektors lassen sich unmittelbare Auswirkungen feststellen, die Mazzola erst in Chicago gelernt hat. „Musical Director ist hier auch eine soziale Position, die stark netzwerkt und Kontakte pflegt. Alles ist sehr persönlich und viel mehr als ein Geschäft. Eine Art, die meinem Wesen sehr entgegenkommt. Ich glaube übrigens, dass wir in Europa zukünftig ebenfalls viel mehr Wert auf solche Dinge legen müssen in Zeiten, in denen staatliche Zuschüsse zurückgehen.“

Und selbst drohender „Cancel Culture“ eines Donald Trump sieht das Team Mangum/Mazzola gelassen entgegen. Sie wissen ihr Publikum hinter sich. „Wir haben eine Vereinbarung mit der Stadt Chicago, abgesehen davon sind wir unabhängig und leben hier in einer der diversesten Gesellschaften der Welt. Es ist uns vor allem wichtig, für unser Publikum zu spielen. Und zusammen mit der Met die neue amerikanische Oper zu formen.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2025

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28. Februar 2025

Gestern. Heute. Morgen?

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Nora Schmids Dresdner Programmatik

Interview Florian Maier

2010 kam Nora Schmid als Chefdramaturgin das erste Mal nach Dresden, nach dem überraschenden Tod ihrer Chefin Ulrike Hessler 2012 trug sie als Teil der Interims-Intendanz schon einmal die Verantwortung. Heute – zehn Jahre später – setzt die 46-Jährige mit mittlerweile achtjähriger Grazer Intendanz-­Erfahrung ganz allein „die Segel“ für die Semperoper auf dem Weg in eine erfolgreiche ­Zukunft. Unter zugegebenermaßen nicht einfachen Bedingungen.

Hatten Sie schon in der Ära Hessler und der darauffolgenden Interims-Intendanz Visionen, die sich erst jetzt als „offizielle“ Nachfolgerin verwirklichen ­lassen?
Ich bin damals gemeinsam mit Ulrike Hessler nach ­Dresden gekommen – durch ihren viel zu frühen, tragischen Tod ist quasi über Nacht eine große Lücke entstanden. Da ging es dann mit unglaublichem Zusammenhalt zuallererst ums Reagieren: Wie machen wir jetzt weiter? Ich habe gemerkt, dass ich vor diesem Hintergrund mittelfristig erst einmal einen anderen Weg für mich selbst einschlagen wollte. Es war in der Vorbereitung meiner eigenen Intendanz von Vorteil, die Semperoper schon so gut zu kennen. Aber in den zehn Jahren seit meinem damaligen Abschied hat sich hier auch viel weiterentwickelt – und mir war es wichtig, jetzt „frisch“ in ein neues Kapitel zu starten.

Sie kehren an ein sehr traditionsreiches Haus zurück. Schlagen Sie programmatische Brücken zur Historie – oder gerade bewusst nicht?
Ich glaube, es braucht beides. ­Jedes Theater hat seine Wurzeln, seine ­Seele. Die gilt es zu pflegen, aber auch weiterzuführen. Die Semperoper hätte keine Tradition, wenn man sie nicht immer wieder ins Hier und Jetzt geholt hätte. Wenn Sie sich unseren ersten Spielplan ansehen, entdecken Sie Richard Strauss’ „Intermezzo“, dessen Uraufführung im vergangenen November vor exakt 100 Jahren in ­Dresden stattfand. Aber mit ­Kaija ­Saariahos „­Innocence“ von 2021 auch eine der packendsten zeitgenössischen Opern der letzten Jahre. Diese Spann­weite macht ein ausgewogenes Programm aus.

Von einer ­Zukunftsperspektive „Semper 2030“ war die Rede, als Sachsens Kulturministerin ­Barbara Klepsch 2021 Ihre Berufung bekanntgab: „Wir sehen dabei das, was heute gut ist, und denken trotzdem an das Übermorgen der Oper.“ Wie sieht denn dieses „Über­morgen“ konkret aus, das Sie ansteuern möchten?
Ich halte es für falsch zu kategorisieren: „Das ist das Gestern/das Heute/das Morgen.“ Gerade bei einem großen Repertoirebetrieb wie dem unseren läuft alles ineinander. Wir haben eine ­breite Palette an Aufführungen, die in ganz unterschiedlichen Zeiten entstanden sind – manche sind 40 Jahre alt, andere noch ganz neu. Mich erinnert das manchmal an ein Museum: Wenn man eine neue Hängung plant und eine bestimmte Produktion in Kontrast zu einer anderen setzt, erlebt man womöglich auch das Altbekannte plötzlich wieder ganz „neu“. „Übermorgen der Oper“ bedeutet für mich, mit unserem Gesamtprogramm zu spielen und dabei das Publikum mitzunehmen – das ist immer ein laufender Entwicklungsprozess.

Sie haben das Ensemble der Semperoper vergrößert. Ein Bekenntnis zum genannten Repertoiretheater?
Auf jeden Fall. Instrument des Jahres 2025 ist die menschliche Stimme und wenn wir uns fragen, wovon das Musiktheater lebt, ist für mich die eindeutige Antwort der singende Mensch. Er berührt uns und steht Abend für Abend auf dieser Bühne. Natürlich ist es zentral, welche Geschichten wir erzählen – aber eben auch, mit welchen Menschen. Das Publikum baut eine Beziehung mit „seinen“ Künstlerinnen und Künstlern auf. Mir ist es dabei immer wichtig, dass verschiedene Generationen und Erfahrungslevel aufeinandertreffen. Nur so können die Mitglieder eines Ensembles voneinander lernen und sich gegenseitig inspirieren.

Oper „ganz nah an unserer Zeit“: Szene aus Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“, 2024 (Foto Semperoper Dresden/David Baltzer)

„Mich interessiert nur gesellschaftlich relevantes Theater“, bekannte Ihr Vorgänger Peter Theiler. Was bedeutet das für Sie?
Es gibt viele Dinge, die gesellschaftlich relevant sind. Oft werde ich aber auch gefragt, was ich unter „­modern“ verstehe. Ob beides letztlich ein und dasselbe ist? Ich weiß es nicht. Mich beschäftigt auf jeden Fall das, was uns berührt und bewegt, unabhängig von einer zwanghaft „modernen“ Ästhetik. Wenn wir noch einmal auf „­Innocence“ schauen, geht es dort um Themen wie Waffengewalt, Mobbing und Zivilcourage. Auch ­Prokofjews „Die Liebe zu den drei Orangen“ ist bei aller überbordenden Fantasie ganz nah an unserer Zeit: Ein Prinz hat das Lachen verlernt, findet keine Freude am Leben, ist depressiv – in der Welt nach Corona ein riesiges Thema. Letztlich verstecken sich die Motive, die uns in unserem Menschsein umtreiben, in allen Werken der Theatergeschichte – sonst wären diese ja nie entstanden. Gutes Theater erhebt nicht den moralischen Zeigefinger, sondern ist immer eine Einladung zum Öffnen von Gedankenräumen.

Das führt uns zum Motto Ihrer ersten Spielzeit: „Stell dir vor“.
„Stell dir vor“ ist weniger Spielzeitmotto als vielmehr ein Appell an die eigene Vorstellungskraft: Lass Dich auf die Oper ein – und entdecke, was sie womöglich mit Dir selbst zu tun hat.

Ist die persönliche Ansprache per „Du“ auch ein Versuch, die Oper unverkrampfter an neue Besucherschichten heranzutragen? Und ist das eine Genera­tionenfrage?
Lustigerweise haben wir tatsächlich intern darüber diskutiert, ob wir „einfach so“ alle duzen können. (lacht) Aber es handelt sich ja eher um eine indirekte Kontaktaufnahme, auf die erfreulicherweise alle Generationen anspringen. Wir bekommen Feedback, dass unsere Besucherinnen und Besucher mittlerweile schon neugierig sind, welcher Spruch als nächstes kommt. Ravels „Das Kind und der Zauberspuk“ etwa bewerben wir mit „Stell dir vor, deine Fantasie wird Wirklichkeit“, ­Gounods „Roméo et Juliette“ mit „Stell dir vor, du darfst nicht lieben, wen du liebst“. Das sind Gedanken, die uns alle etwas angehen.

In den fast zehn Jahren Ihrer Abwesenheit hat sich das gesellschaftspolitische Klima extrem erhitzt – gerade auch in Dresden. Macht sich das für Ihr Ensemble und Sie bemerkbar – im Alltag und auf der Bühne?
Wir sind ein enorm internationales Haus mit Menschen aus fünf Kontinenten – ein richtig gutes Beispiel für ein harmonisches Miteinander, finde ich. Aber natürlich werden auch wir mit der zunehmenden Entwicklung zu einer Empörungs- und Befindlichkeitsgesellschaft konfrontiert … Das würde ich aber nicht speziell auf Sachsen beziehen, das lässt sich ja mittlerweile leider ­europa- und weltweit beobachten.

Wie reagiert man darauf – mit politischem Theater und klarer Haltung?
Wir sind Kulturschaffende und keine Parteipolitiker, aber selbstverständlich vertreten wir die Grundpfeiler der Demokratie und des Humanismus. Das sind unsere Wurzeln und für die stehen wir auch mit ganz klaren Haltungen ein.

40 Jahre „dritte“ Semperoper: Oben die Videoinstallation „SILENTIUM“ des Kollektivs OchoReSotto als „Ausrufezeichen des Erinnerns und Wachhaltens“. Unten Schlüsselübergabe auf dem Theaterplatz, 13. Februar 1985 (Fotos Semperoper Dresden/Sebastian Hoppe & Matthias Rank)

40 Jahre sind seit dem Wiederaufbau der Semperoper vergangen – das Ereignis galt damals als Symbol gegen Krieg und Zerstörung. Ist dieser Symbolcharakter in der Stadtgesellschaft heute noch präsent?
Der Wiederaufbau der Semperoper zu DDR-Zeiten ist ein unglaublich faszinierendes Thema. Genauso wie übrigens die Weihe der Frauenkirche 20 Jahre später: Das war ein Zeichen der Völkerverständigung, ein Brückenschlag zwischen Ost und West, vielleicht sogar so etwas wie ein europäischer Versöhnungsgedanke. Beides sind Jahrhundertprojekte, die als Wahrzeichen weit über Dresden hinausstrahlen. Jetzt sind die politischen Tendenzen überall gerade völlig andere … Aber ich denke, man wird sich irgendwann wieder darauf besinnen. Denn die Kraft, die von diesen Institutionen ausgeht, ist eine sehr besondere. Manchmal frage ich mich, wenn ich allein im Zuschauerraum sitze: Was würde mir dieser Raum alles erzählen, wenn er sprechen könnte?

In Zeiten mauer Kassen gerät die Kultur wieder einmal mit als erstes in den Sparfokus. Große Dresdner Kulturinstitutionen wie die Staatsoperette stehen auf der „roten Liste“ – die Semperoper auch?
Zunächst sprechen wir da von zwei verschiedenen Töpfen: Die Staatsoperette ist städtisch, wir werden vom Freistaat Sachsen finanziert. Allerdings beschränken sich die mauen Kassen nicht nur auf die Stadt. Umso wichtiger ist es, immer wieder zu zeigen, warum es uns braucht. Wir sind ein sächsischer Leuchtturm für die Welt: Die Semperoper kennt man. Als Kulturbotschafterin appelliere ich an alle Verantwortlichen, sich bewusst zu machen, dass so etwas nicht aufs Spiel ­gesetzt werden darf! Vom kulturgeschichtlichen und künstlerischen Stellenwert einmal abgesehen lässt sich das auch wirtschaftlich bekräftigen: Wir generieren enorm viele Besucherinnen und Besucher, die wegen der Semper­oper überhaupt erst nach ­Dresden kommen – und dann hier einkaufen, Cafés, Bars und Restaurants besuchen. Wir sind auch ein unglaublicher Wirtschaftsfaktor für die Stadt und die Region.

Die Semperoper hat dabei einen Spagat zu meistern: hier die Befriedigung des Touristenanspruchs, da der Wunsch, künstlerisch zukunftsfähig zu bleiben.
Naja, was heißt „Touristenanspruch“? 50 Prozent unseres Publikums ist ein überregionales, das von außerhalb Sachsens zu uns kommt. Mehrheitlich sind das wirk­liche Kulturfans. Oft klingt es aber trotzdem nach: „Die Semperoper ist wegen der Touristen eh voll.“ Es kauft sich aber jemand nur dann eine Karte, wenn das, was wir bieten, attraktiv und von hoher Qualität ist.

In den letzten Jahren steht das Berufsbild Intendanz wegen Machtmissbrauch, toxischem Arbeitsklima etc. vielerorts in der Kritik. Sie dagegen gelten als Teamplayerin. Wie schafft man es, eine solche „Worthülse“ im Alltag wirklich mit gutem Beispiel zu beglaubigen?
Indem man es jeden Tag immer wieder aufs Neue versucht. Bei der Anzahl der Prozesse, die es in so einem großen Haus zu moderieren gilt, ist das eine Herausforderung. Ich halte nichts von einer Fehlerkultur, in der man auf den Schuldigen zeigt. Es ist doch viel zielführender, darüber nachzudenken, was man beim nächsten Mal besser machen kann. Ganz abgesehen davon, dass ich viele Berufsjahre ja selbst nicht „die Chefin“ war. Wo viel gearbeitet wird, passiert immer mal wieder irgendetwas, aber die Grundfrage für uns alle ist doch: Wie möchte ich, dass man mit mir umgeht?

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2025

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20. Dezember 2024

Ich brauche Freiheit!

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Der israelische Dirigent Omer Meir Wellber lebt seinen Künstlertraum – zwischen Wien und Hamburg, zwischen Familie, Berufung, Herkunft und Identität

Interview Georg Rudiger

Bis 2023 war Omer Meir Wellber Musikdirektor an der Volksoper Wien, bis 2024 auch Chefdirigent am Teatro Massimo in Palermo – in Kürze beginnt sein Engagement als Generalmusikdirektor an der Staatsoper Hamburg. Wir haben nach der Wiener Uraufführung von „Alma“ mit dem 43-Jährigen ­gesprochen: über sein Aufwachsen am Rande der Wüste, sein eigenes Komponieren, über Antisemitismus und die Ignoranz der Linken. Und darüber, was er gemeinsam mit dem neuen Intendanten Tobias Kratzer in Hamburg vorhat.

An der Wiener Volksoper haben Sie Ende ­Oktober die Uraufführung von „Alma“, einer fünfaktigen Oper der israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff, dirigiert. Sie komponieren selbst. Hilft das in der Zusammenarbeit mit einer Komponistin?
Auf jeden Fall. Wir haben für diese Oper drei Jahre zusammengearbeitet und uns alle sechs Monate getroffen, um Veränderungen vorzunehmen, zu kürzen, zu ergänzen und die Instrumentation zu überarbeiten. Die Entscheidungen hat natürlich Ella getroffen – aber für sie war es wichtig, mit mir im Dialog zu sein. Große Komponisten wie ­Giacomo Puccini, ­Richard Strauss oder Johannes Brahms waren immer im Dialog. Seien wir ehrlich: Bei zeitgenössischen Opern könnte man häufig einige Passagen streichen. „Alma“ dagegen hat eine Kompaktheit, die sicherlich auch ein Ergebnis unseres Austauschs ist.

Was hat Ihnen musikalisch besonders gefallen an der Oper?
Vieles! Ich kenne die musikalische Sprache von Ella sehr gut, ich habe schon viele ihrer Werke dirigiert. Ihre Musik hat eine sehr starke Verbindung mit dem Text, es gibt theatralische Ideen in ihrer Partitur. Außerdem finde ich es sehr interessant, wie virtuos sie mit verschiedenen Stilen spielt, ohne dabei eklektisch zu werden.

Das Leben von Alma Mahler-Gropius-Werfel wird in der Oper von hinten nach vorne erzählt – es beginnt mit der 56-jährigen Alma Gropius im Jahr 1935 und endet mit der 22-jährigen Alma Schindler 1901. Die Oper ­läuft im letzten Akt auf die zentrale Szene zu, wenn Alma ihre Noten verbrennt. Kurz zuvor hatte ihr Gustav Mahler das Komponieren verboten. Sie haben schon als Kind eigene Musik zu Papier gebracht. Was hätten Sie gemacht, wenn Ihnen Ihre Eltern das Komponieren verboten hätten?
(lacht) Das ist eine gute Frage. Man kann sich das schwer vorstellen, weil heutzutage die meisten Kinder grundsätzlich alles machen dürfen. Aber es gibt schon viele Länder wie ­Afghanistan oder der Iran, in denen Frauen wenige oder gar keine Rechte haben. Diese Entscheidung gegen die Musik war für Alma eine Entscheidung gegen sich selbst, gegen ihre Persönlichkeit. Das ist sehr tragisch. Bei uns zuhause war das völlig anders. Meine Eltern haben nichts forciert, aber auch nichts behindert. Ich war da ganz frei in meiner Entwicklung, wofür ich dankbar bin. Aber natürlich habe ich durch die Entscheidung für die Musik auf vieles verzichten müssen. Ich spielte sehr wenig mit anderen Kindern auf der Straße, habe nie an Schulausflügen teilgenommen. Als Künstler muss man immer einen Preis zahlen, dieser Verzicht gehört einfach dazu. Wir sind jetzt in Wien – und meine Tochter in Mailand.

Bei der Probe von „Alma“ mit Komponistin Ella Milch-Sheriff (Foto Barbara Pálffy)

Wie sind Sie denn überhaupt zum Komponieren gekommen? Das ist ja eher ungewöhnlich für ein Kind. Wie alt waren Sie denn?
Elf Jahre.

Kam das zeitgleich mit dem Erlernen von Klavier und Akkordeon?
Ja. Das hatte auch mit meinen Lehrern zu tun, die echte Künstler waren und meine ­Kreativität gefördert haben. Einer war Emigrant aus Russland, der andere Holocaust-Überlebender. Sie haben viel erlebt. Auch meine Heimatstadt spielte eine Rolle.

Be’er Sheva am Rand der Negev-Wüste: eine Großstadt mit über 200.000 Einwohnern.
In meiner Kindheit war die Stadt allerdings mit rund 80.000 Einwohnern noch viel kleiner. Der Aufschwung kam erst in den 90er Jahren mit der Gründung von zwei Universitäten. Be’er Sheva war in meiner Kindheit eine arme, multikulturelle Stadt, in der wenig geboten war. In meiner Schulklasse hörte ich acht verschiedene Sprachen. Ich habe aus rumänischen Büchern gelernt, weil meine Lehrerin aus Rumänien kam. Wir mussten uns alles hart erarbeiten – das hat mich geprägt.

Für wen haben Sie komponiert?
Für meine Freunde. Einer spielte Mandoline, der andere Violine, ich Klavier und Akkordeon. Ich habe viele Stücke für diese Besetzung geschrieben. Wir waren wie eine kleine musikalische Gesellschaft und haben unsere eigene Musik gespielt. So ein bisschen wie bei Joseph Haydn und Antonio Vivaldi.

Welchen Stellenwert hat das Komponieren heute für Sie?
Seit zehn Jahren komponiere ich gar nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hatte ich das Bedürfnis, Bücher zu schreiben und keine Musik mehr. Ich wollte konkreter werden – meine künstlerischen Ideen konnte ich ab diesem Zeitpunkt besser durch Sprache ausdrücken. Dann habe ich meinen ersten Roman „Die vier Ohnmachten des Chaim Birkner“ geschrieben. Inzwischen ist mein zweiter fertig, aber noch nicht veröffentlicht. Das ist im Augenblick meine kreative Welt. Durch meine Tätigkeit als Dirigent habe ich so viel Musik von anderen im Kopf, dass es mir schwerer fällt als früher, meine eigene Musik zu hören. Richard Strauss und Gustav Mahler ging es ähnlich – sie haben sich dann in die Stille der Natur zurückgezogen, um wieder komponieren zu können.

Beeinflussen Ihre Erfahrungen mit dem Komponieren auch Ihre Interpretationen als Dirigent? Möchten Sie lieber etwas Neues schaffen, als das Alte zum Leben zu erwecken?
Absolut ja. Als Komponist sehe ich andere Dinge in der Partitur: Was steht hinter den Noten? Ich sehe meine Arbeit als Dirigent viel weitgefasster. Und habe auch kein Problem damit, eine Partitur zu kürzen oder Dinge herauszuarbeiten, die nicht notiert sind. Es interessiert mich überhaupt nicht, wie Mozarts Musik in der Zeit ihrer Entstehung geklungen hat. Der Notentext braucht immer eine Interpretation.

„Wenn ich ein Werk ­dirigiere, mache ich das niemals gleich“ (Foto Oliver Killig)

In der Oper „Alma“ gibt es im ersten Akt wüste antisemitische Äußerungen von Alma Mahler. Gustav Mahler wurde 1907 Opfer einer antisemitischen Kampagne in Wien, vor der er mit Alma nach New York an die Met flüchtete. Sie arbeiten als israelischer Dirigent schon lange in Europa. Haben Sie selbst Antisemitismus erlebt?
Nein, persönlich nicht. Aber meine Definition von Antisemitismus ist auch etwas anders. Alma Mahler ist hierfür ein gutes Beispiel. Diese Frau war zwar Antisemitin, aber trotzdem verheiratet mit Gustav Mahler und Franz Werfel, zwei sehr bekannten Juden. Das Leben ist kompliziert und voller Widersprüche. Heute muss man in einer Diskussion für oder gegen Israel sein. In der polarisierten öffentlichen Debatte wird eine Stellungnahme gegen ­Israel mit Antisemitismus gleichgesetzt. Das ist falsch. Die politische Korrektheit spiegelt die Ambivalenz der Wirklichkeit nicht wider. Man kann gegen Netanjahu sein, aber für Israel. Für Palästina, aber gegen die Hamas. Diese Möglichkeiten, diese Grautöne werden aber im Schwarz-Weiß-­Denken und der damit verbundenen Empörungskultur nicht abgebildet. Die Erstarkung der Rechten in Europa hängt damit zusammen. Das ist der Protest gegen Denkverbote. Alma Mahler könnte ein gutes Beispiel dafür sein, wie komplex das Leben ist. Einfache Lösungen sind immer falsch.

Wie schauen Sie selbst aktuell auf den Krieg in Israel und dem Libanon?
Ich bin ein großer Kritiker von Benjamin ­Netanjahu und seiner faschistischen Clique. Das Vorgehen ­Israels im Gazastreifen ist für mich nicht akzeptabel. Da wurden viele Fehler gemacht. Im Libanon ist die Sache etwas anders. Vom Libanon aus wurde Israel die letzten zehn Jahre von der Hisbollah mit Raketen angegriffen. Mehr als 150.000 Bewohner aus dem Norden Israels mussten ihre Häuser verlassen und leben seit einem Jahr im Hotel. Diese Situation muss gelöst werden. Von hundert falschen Sachen macht Netanjahu eine Sache richtig. Und im palästinensischen Widerstand gibt es auch berechtigte Anliegen. Ich war ein überzeugter Linker, aber die Linke hat im palästinensisch-israelischen Konflikt große Fehler gemacht.

Wie meinen Sie das?
Wir waren zu zufrieden in unserer Denkblase und haben die Realität nicht angeschaut. Nach dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023, nach den brutalen Vergewaltigungen, Geiselnahmen, Folterungen und Tötungen hat keine feministische Organisation etwas gegen die Hamas gesagt. Die Linke hat die Realität nicht gesehen. Freunde meiner Mutter sind in diesem von der Hamas überfallenen Kibbuz geköpft worden. Ihre Köpfe hat man nicht mehr gefunden. Diese Realitätsverkennung der Linken ist gefährlich. Eine Transgender-Person aus Berlin würde im Iran oder in Palästina sofort getötet. Diese Ignoranz der Linken und der Rechten ist das Problem, das uns auch in Zukunft noch beschäftigen wird. Alma Mahler, um auf sie zurückzukommen, vereint Widersprüche in sich und wird damit der Realität viel mehr gerecht. Wir brauchen mehr Alma ­Mahlers.

Sie hatten an der Wiener Volksoper einen Vertrag bis 2027 als Musikdirektor, sind dann aber Ende 2023 von diesem Amt zurückgetreten, weil sie im September 2025 als Generalmusikdirektor in Hamburg beginnen.
Wichtig war Intendantin Lotte de Beer und mir, dass unsere musikalische Zusammenarbeit wie jetzt in „Alma“ weitergeht. Ende Januar werde ich an der Volksoper mit dem „KaiserRequiem“, einer Verbindung von Viktor Ullmanns Oper „Der Kaiser von Atlantis“ mit Wolfgang Amadeus Mozarts Requiem, die nächste Produktion dirigieren. Mein früherer Assistent Ben Glassberg hat die Stelle des Musikdirektors übernommen – so ist das für alle eine gute Lösung.

Und was haben Sie in Hamburg vor?
Ich kann noch nicht viel sagen, weil erst im März unsere Pressekonferenz stattfindet. Aber so viel: An der Staatsoper Hamburg beginnt eine neue Ära. Das wird zu spüren sein. Wir haben neue Ideen für die Konzerte, aber auch für das Musiktheater. Ich leite dort in der kommenden Spielzeit zwei Produktionen – und beide sind keine klassischen Opern. Das Haus soll innerhalb Deutschlands ein besonderes Profil erhalten, wie es auch in der Vergangenheit mit Peter Konwitschny, Rolf Liebermann oder auch schon Gustav Mahler der Fall war.

Also mehr Experiment?
Ja. Es gibt hier ein sehr neugieriges, offenes Publikum. Wir haben den Hafen als Tor zur Welt, wir haben viele Touristen. Wir möchten noch mehr in Dialog treten mit der Stadt, mit den unterschiedlichen Kulturen, aber auch mit der Wirtschaft und Politik.

Sie haben sich Ihr Studium als Zauberer finanziert. Welche Probleme im Musikbetrieb würden Sie gerne verschwinden lassen?
(lacht) Als Zauberer gibt es zwei entscheidende Dinge. Erstens: Timing. Zweitens: Man kann denselben Trick nicht zweimal machen. Das ist für einen Zauberer wichtig, aber auch für einen Generalmusikdirektor. Wenn ich ein Werk dirigiere, mache ich das niemals gleich. Auch in den Proben lasse ich viele Entscheidungen offen, was für die Orchester­musikerinnen und -musiker vielleicht auch anstrengend sein kann. Ich brauche diese Freiheit. Die eigentliche Interpretation entsteht dann im Augenblick der Aufführung – das ist der Zauber.

Lesetipp

Omer Meir Wellber:
„Die vier Ohnmachten
des Chaim Birkner“
208 Seiten, Berlin Verlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Januar/Februar 2025

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29. Oktober 2024

Manchmal hatte ich gar kein Zuhause mehr

Sie ist ein Energiebündel. Sie ist rastlos. Sie ist ungeduldig: Katharina Konradi

Sie ist ein Energiebündel. Sie ist rastlos. Sie ist ungeduldig: Katharina Konradi

Aufgewachsen zwischen Feldern und Steppe in Kirgistan, lernte sie erst in Deutschland die Sprache ihrer Vorfahren – und erfuhr von der Existenz klassischer Musik. Mittlerweile klopfen große Opernhäuser bei ihr an sowie Kirill Petrenko. Ein Gespräch mit der Sopranistin über gestern, heute, morgen …

Interview Rüdiger Heinze

Wissen Sie eigentlich, dass Sie laut deutscher Wiki­pedia zu den großen Töchtern ihrer Heimatstadt Bischkek zählen?
Ja, das weiß ich, das hat mir mein Mann neulich gesagt. Ich bin schon stolz, dass ich aus Kirgistan komme und es so weit geschafft habe. Das hätte ich nie gedacht. Aber dass man mich so betitelt! Ich weiß nicht, wer darauf kam. Aber es schmeichelt mir.

Aus Ihrer Familie war es niemand?
(lacht) Nicht, dass ich wüsste! Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand aus meiner Familie an dem Text dort rumdoktert. Auch nicht mein Mann oder irgendwelche Freunde.

Wie kamen Sie zu einem so urdeutschen Namen wie Katharina Konradi?
Meine Vorfahren stammen aus Sibirien, sind aber Wolga­deutsche, die 1993 bis 1995 auf Einladung in ihre Heimat Deutschland zurückgingen. Und ich hatte das Glück, dass ich ein Teil der Familie bin, die dieses Privileg hatte. Meine ganze Familie väterlicherseits trägt den Namen Konradi; meine Urgroßmutter sprach nur Deutsch, obwohl sie ihr Leben lang in Sibirien verbracht hat. Meine Mutter ist Russin, mein Vater hat einen deutschen Elternteil. Als ich dann 2003, mit 15 Jahren, nach Deutschland kam, hatte ich das erste Mal sehr intensive Begegnungen mit der deutschen Sprache. Es war ziemlich schwer, aber ich habe es geschafft.

Das hört man, Gratulation! Erzählen Sie uns etwas über Bischkek und das zentralasiatische Kirgistan kurz vor der Grenze zu China?
Eigentlich komme ich aus einem kleinen Dorf abseits von Bischkek, mitten im Nirgendwo, drumherum nur Felder und Steppe. Bischkek war für mich eine große, schöne Welt, wohin wir mit meinen Eltern Ausflüge gemacht haben. Ich bin dort auch zur Musikschule gegangen, weil in unserem Dorf fast niemand Musik gemacht hat. Es gab nur eine Klavierlehrerin, bei der ich Unterricht hatte, ansonsten war dort die Beschäftigung mit Musik eher ungewöhnlich. Es gab Viehzucht, Feldarbeit, alles, was man eben auf dem Dorf macht. Bis ich 15 Jahre alt war, habe ich die „Stadt“ nur stundenweise erlebt.

Wie wurde in Bischkek Ihr Interesse an Musik geweckt?
Mit vier Jahren hatte ich zur Jahreswende meinen ersten Auftritt bei einem Dorffest. Mein Großvater spielte Akkordeon und ich sang dazu mit großer Freude am Tannenbaum. Das war der Moment, in dem mein Vater mein Talent erkannte und mich weiter fördern wollte. Das hatte zunächst nichts mit Klassik zu tun, sondern mit Volksliedern auf Russisch und Kirgisisch, später mit populärer Musik. Ich trat sogar auch einmal im regionalen Fernsehen auf. Als ich dann nach Deutschland kam, gab es für mich erstmal gar keine musikalische Perspektive, weil ich klassische Musik einerseits nicht kannte und andererseits nicht wusste, wie ich mit Popmusik den Anschluss finden könnte.

Gerade als Teenager braucht man einen Halt, einen Rückhalt. Dieser Rückhalt wäre für Sie Kirgistan gewesen, aber dann reiste Ihre Familie mit Ihnen als 15-Jährige aus, nach Hamburg. Waren Sie in diesem Alter begeistert, Ihre Freunde zu verlassen?
Ich war schon vor 2003 immer mal wieder zu Besuch bei meinen Großeltern, die bereits 1995 nach Deutschland gekommen waren. Wir haben bei Hamburg die Sommer verbracht, und dort habe ich gespürt, dass Deutschland ein besonderes Land ist – wie ein Traum. Seitdem hatte ich den großen Wunsch, in Deutschland zu leben. Aber es war halt schwierig. Wir hatten Probleme mit den Dokumenten und erhielten zunächst zweimal eine Absage. Mein Vater besaß als junger Mann zwar einen deutschen Pass, aber den tauschte er später gegen einen russischen ein, und es war schwierig, diese Änderung später nachzuweisen. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir eigentlich schon aufgegeben.

Was war für Ihre Eltern der Grund, Kirgistan zu verlassen?
Ich glaube, sie wollten das für uns tun, für meine Schwester und mich. Sie haben an unsere Zukunft gedacht, an unsere Ausbildung. Meine Eltern waren Unternehmer und hatten in Kirgistan eine Nudelfabrik. Ich glaube, meinem Vater fiel es sehr schwer, das Geschäft in Kirgistan aufzugeben, aber er hat es dann trotzdem getan, auch weil er näher bei seinen Eltern sein wollte. Die Einladung aus Deutschland wurde zum Geschenk des Himmels für mich.

Waren Sie seit 2003 wieder einmal in Bischkek?
Nein. Ich hatte es mir zwar vorgenommen und auch 2003 meinen Mitschülern versprochen, dass ich nach zwei Jahren zu Besuch wiederkomme. Aber dann ging ich aufs Gymnasium, hatte neue Freunde, auch meinen ersten Freund, sodass gar nicht mehr das Gefühl auftauchte, ich muss zurück. Ich wollte hier sein und bleiben, um wirklich anzukommen.

In Hamburg wendeten Sie sich dann verstärkt der Musik zu. Wie kam das?
Mit 18 Jahren war ich zum ersten Mal in der Oper in Hamburg und hatte zum ersten Mal so etwas wie eine musikalische Erweckung. Es wurde die „Traviata“ gegeben. Ich war sehr beeindruckt! Und dann habe ich gedacht, das will ich auch machen – ich will irgendwann auch in dieser Oper singen, ich will zur Bühne. Ich dachte, wenn es mit der Popmusik nicht geht, dann ist die Oper der richtige Weg, um auf der Bühne zu stehen.

Adele in der aktuellen „Fledermaus“-Produktion der Bayerischen Staatsoper, 2023 (Foto Wilfried Hösl/Bayerische Staatsoper)

Bis zum Hirten im Bayreuther „Tannhäuser“ 2019, bis zur Sophie in Münchens „Rosenkavalier“ 2021 dauerte es aber noch etwas. Was geschah?
Als ich 21 war, machte ich mein Abitur und ging sofort in die Aufnahmeprüfungen an den Musikhochschulen in Berlin und Köln. Ich entschied mich für Berlin, um für vier Jahre bei Julie Kaufmann zu studieren. Aber danach war ich noch nicht wirklich zufrieden und beschloss, ein Jahr Pause zu machen. Ich arbeitete beim Münchner TÜV, überprüfte unter anderem technische Unterlagen von Schaustellern, nahm weiter Gesangsunterricht, studierte jedoch nicht offiziell – bis ich schließlich nochmal eine Aufnahmeprüfung absolvierte: für Lied und Konzertgesang in München. Zum Studium sang ich später parallel in Wiesbaden an der Oper – mein erstes Engagement. Ich sang Operette, aber auch meine erste Woglinde, Pamina, Susanna, bestes Repertoire zum Einsteigen. Und dann kam Bayreuth mit dem Hirten, obwohl ich dort für die Woglinde vorgesungen hatte. Sie sagten, meine Stimme sei für die Woglinde zu klein, aber ich könne doch den Hirten im „Tannhäuser“ singen. Damit war ich auch sehr glücklich, der Hirte steht doch mehr im Fokus.

Mittlerweile haben Sie etliche CDs aufgenommen – und dabei fällt ein Faible für Konzept-Programme einerseits, für außergewöhnliche Besetzungen andererseits auf, nicht zuletzt auf „Solitude“ mit romantischen Liedern in Fassungen Aribert Reimanns für Streichquartett. Wie kam es dazu?
Die sechs Schumann-Lieder op. 107 hörte ich bereits vor meiner Entscheidung, Gesang zu studieren. Ich hatte mir eine CD mit Christine Schäfer gekauft – für mich die Göttin im Liedgesang – und hörte die Lieder rauf und runter. Worauf sich der Wunsch entwickelte, sie auch selbst zu singen, was dann tatsächlich während meines Studiums geschah. Und später fand ich die Fragmente op. 20 von György Kurtág, die meiner Meinung nach in der Kombination unfassbar gut zu Schumann passen – was auch immer gut beim Publikum ankam. Über die Jahre hinweg reifte die Vorstellung, Schumann in der Reimann-Bearbeitung zu singen und weitere Stücke rund um Einsamkeit einzubinden.

Es gehen Ihnen sicherlich weitere ähnliche ­Projekte durch den Kopf. Was würden Sie gerne als erstes, liebstes machen?
Es gibt eine Idee: die einer Orchester-CD, und dafür wird es auch Zeit. Das ist mein großer Wunsch. Das Konzept bleibt ähnlich, dass – im Kontrast – mal das Orchester spielt, mal ich alleine singe oder zumindest nur von wenigen Instrumenten begleitet. Über die Komponisten kann ich natürlich noch nichts verraten. Es sind zwei Jahre Arbeit, die ich für solch ein Projekt brauche. Das ist wie ein Kind, das ich austrage. Ich liebe solche Projekte, auch um mein künstlerisches Ego zu befriedigen.

Ihre Konzept-Alben haben Ecken und Kanten – Sie selbst auch?
Ja, viele. Wenn man Ungeduld als Ecke und Kante bezeichnen kann: Ich bin sehr ungeduldig und kann sehr schnell an die Decke gehen, wenn etwas nicht so läuft, wie ich das will. Das kriegt mein Mann oft zu spüren. Zum Glück ist er das Gegenteil von mir; er ist so schwer aus der Ruhe zu bringen. Meine Ungeduld kriegt nicht nur er zu spüren. Auch meine Agenten erfahren das, weil ich sehr viel und gleichzeitig machen möchte, tausend Projekte in einer Woche. Noch eine Ecke und Kante: Ich kann an einem Ort nicht lange sein. Innerhalb von zwei Jahren bin ich schon achtmal umgezogen. Letztes Jahr hatte ich gar kein Zuhause mehr, wir sind nur gereist. Ich bekam solch eine Panik, mich irgendwo festzusetzen, weil ich das Gefühl hatte, wenn ich eine feste Wohnung habe, dann ist das für mich: Schluss, Aus.

In der Rolle der Valencienne in Lehárs „Lustiger Witwe“, Opernhaus Zürich 2024 (Foto Monika Rittershaus)

Sie hatten erklärtermaßen mal ein Burn-out. Nun aber ist Ihr Auftrittskalender wieder ausgesprochen voll. Ein Widerspruch? Könnte sich da etwas wiederholen?
Mein Burn-out im Januar 2020 war ziemlich heftig; dabei wusste ich zuvor gar nichts von der Möglichkeit eines Burn-outs. Ich hatte zwei Jahre lang keinen Urlaub, nur durchgesungen, durchstudiert. Drei Monate zuvor hatte es sich schon angekündigt: Ich konnte nicht mehr schlafen, nur noch eine Stunde pro Nacht. Für mich war Schlafen damals verlorene Zeit. Gleichzeitig entwickelte ich eine Angst vor dem nächsten Auftritt. Ich bin zwar auf die Bühne und habe meine Sachen alle noch ganz gut gemacht, aber der Widerstand in mir war plötzlich so groß. Bei einer Hamburger „Bohème“ dann passierte es, dass ich zwar ein-, aber nicht mehr ausatmen konnte. Es war nur noch schrecklich und ich bekam einen Nervenzusammenbruch. Dann suchte ich mir schnell psychologische Hilfe in der Musiker-Ambulanz in ­Hamburg. Ich musste auch wieder lernen zu schlafen. Es klingt bescheuert jetzt, aber Corona war für mich die Rettung. Die Veranstalter sagten ab. Nun hatte ich Zeit zu schlafen. Heute jedenfalls habe ich gute Berater: meinen Mann, meine Psychologin, meine Agenten. Ich weiß nicht, was ich mit meiner Ungeduld machen soll, mit diesem Gefühl, ich möchte noch so vieles schaffen an Orten, wo ich noch nicht gewesen bin …

Sie sagten einmal, es gebe noch andere wichtige Aufgaben im Leben – neben dem Singen. Was wären die für Sie?
Eine wichtige Aufgabe ist ein guter Freundeskreis. Ein großes Fest, zu dem wir viele Freunde einladen, nährt mich noch wochenlang. Auch Malen gehört dazu, ich male so gerne. Doch ich komme einfach nicht dazu. Die größte Aufgabe ist aber natürlich unsere kleine Tochter. Ich möchte auch viel mehr Zeit mit ihr verbringen.

Zurzeit singen Sie viel geistliche Musik. Wie halten Sie es mit der Religion?
Ich bin aufgewachsen, ohne jemals eine Kirche von innen gesehen zu haben – bis ich nach Deutschland kam. Hier wurden wir bei der Anmeldung der evangelischen Kirche zugeordnet, da unsere Vorfahren evangelisch waren. Aber mittlerweile bin ich aus der Kirche ausgetreten, auch weil ich ihr nie freiwillig beigetreten bin. Aber: Ich singe wahnsinnig gerne geistliche Musik. Davon kann ich nicht genug kriegen. Die Musik beseelt mich; sie erweitert meinen Geist. Ich möchte nicht darauf verzichten.

Es steht ja wohl demnächst ein Konzert mit einem Weltklasse-Orchester unter einem Weltklasse-Dirigenten an. Darf darüber Genaues schon vermeldet werden? Wie kam es dazu?
Ja, das darf man jetzt schon schreiben, dass ich in Baden-­Baden bei Beethovens Neunter mit den Berliner Philharmonikern unter Kirill Petrenko singe; das findet doch in der laufenden Spielzeit statt. Es stand zur Auswahl, ob ich in der „Missa solemnis“ oder in der Neunten singe. Ich sollte dann eine Aufnahme schicken, weil Herr Petrenko gerne hören wollte, wie meine Stimme piano in der Höhe klingt. Er erhielt meine Münchner ­Sophie. Dann kam die Antwort, er habe mich gerne.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe November/Dezember 2024

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28. August 2024

Zur rechten Zeit am rechten Ort

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Daniel ­Johannsen singt lieber Evangelisten als Wagner-Heroen und setzt dabei auf das Glück von Talent, Fleiß und menschlicher Verbindung

Interview Rüdiger Heinze

München, Theatinerstraße, Sommer 2024. Tenor Daniel Johannsen steht Rede und Antwort, eloquent und ­reflektiert. Dass er am Abend noch einen Auftritt in Bachs h-Moll-Messe haben wird, ficht ihn nicht an – eher die Gleichzeitigkeit von Wohlstand und Gewalt in den unterschiedlichen Teilen der Erde. Sie aber haben von dem Sänger, 1978 in Wien geboren und in einem Pfarrhaus des Burgenlands aufgewachsen, noch nichts ­gehört? Dann wird es höchste Zeit. Großartiges entgeht dem, der es nicht tut.

Der ersten Frage sei eine Behauptung vorangestellt: Unter Kennern sind Sie ein hochverehrter Oratorien- und Liedsänger, eigentlich aber müssten Sie aufgrund der Schönheit Ihrer Stimme und Ihrer künstlerischen Ernsthaftigkeit weitaus bekannter, ja geradezu populär sein. Tragen Sie für diesen Umstand auch selbst eine Verantwortung – zum Beispiel, weil Sie restriktiv auswählen, welche Engagements Sie annehmen?
Ich glaube, ich werde mit 50 noch ein Geheimtipp sein, weil ich mich für ein Feld entschieden habe, dem die Welt nicht so hinterherrennt. Wir sind hier in ­München nur einen Steinwurf von einer der größten Bühnen Deutschlands, der Bayerischen Staatsoper, entfernt, die ich vielleicht niemals betrete. Ich werde vielleicht auch deswegen kein österreichischer Kammersänger, weil ich mich bisher mit der Wiener Staatsoper nicht im Entferntesten versucht habe zu assoziieren. Ich bin stolz genug zu sagen: Wenn man mich nicht fragt, gehe ich da nicht hin. Es gibt einen Dirigenten auf der Welt, für den würde ich noch ein Vorsingen im Sinne einer Arbeitsprobe machen, das ist Christian Thielemann. Alle anderen müssen sich schon um mich bemühen, wenn Sie mich haben wollen. Natürlich, es ist auch das Repertoire: Jemand, der Bach liebt, wird relativ schnell im Internet auf meine Spur kommen. Ich kann gar nicht sagen, was das für Sieben-Lichtjahr-Stiefel sind, dass man mich auf allen fünf Kontinenten, wo man Bach hört, kennt. Ich komme gerade vom Bachfest in Leipzig, und da hat man mich alle 200 Meter auf der Straße angesprochen und in der Kirche gar nicht gehen lassen nach den Motetten und Kantaten. Wenn mein Singen für die Hörer so eine Offenbarung ist und so etwas Schönes, dann bin ich doch dort angekommen, wo ich hin möchte. Ich glaube, das beantwortet, warum ich mich in der zweiten Reihe, in der ich stehe, so wohl fühle.

Betrachten wir Ihre künstlerische Ernsthaftigkeit näher, zumal diese im Verbund mit weiteren Einordnungen Ihres Musizierens steht – als da wären: Sorgfalt, Akribie, Reifung, Respekt, Uneitelkeit, Verinnerlichung. Zusammen genommen umreißen diese Begriffe ein hohes Arbeitsethos, das vor allem Bach und Schubert zugutekommt. Woher kommt’s?
Ich bin ein Lutheraner und uns Lutheranern sagt man immer den Fleiß nach. Ich glaube, heutzutage würden zwei solcher Pfarrstellen wegen Burn-out-Syndrom ausfallen, wie sie mein Vater in den 32 Jahren seiner Arbeitszeit alleine ausgefüllt hat. Das ist die Vorlage von zu Hause, ob ich will oder nicht. Mir hat auch meine hochverehrte Lehrerin Margit Klaushofer immer gesagt: „Daniel, Ihnen hat der liebe Gott in den Hals gespuckt, aber das wird leider nicht reichen.“ Und da hat sie recht gehabt. Ich sehe andere Kollegen um mich herum, die ein herrliches Timbre haben, bei denen ich aber denke, wenn Deine Bach-Arien immer so sind, dass Du einen halben Schmiss in der Probe und einen Viertel-Schmiss im Konzert hast, dann wird das nicht für ganz oben reichen. Man muss an seinen Stücken einfach dran sein. Ich bin ein Mittvierziger, die nächste Generation glüht schon empor. Man muss was tun. Ich glaube, ich komme jetzt in die Jahre, wo ich so viel, wie ich investiert habe, um das zu sein, was ich bin, noch einmal investieren muss, um es auch zu bleiben.

Beim George Enescu Festival Bukarest 2021 (umgeben von Mitgliedern des Münchener Bach-Orchesters) (Foto Catalina Filip)

Schätzen Sie bitte mal: Wie viel Prozent bei Ihrer Stimme sind Gottesgabe, wie viel Prozent an Können sind durch Lehrer vermittelt worden und wie viel ist Fleiß?
Da muss ich noch eine vierte Komponente nennen. Und zwar: zur rechten Zeit am rechten Ort sein. Das ist in meinem Leben ganz oft so. Wenn ich alles zusammen rechne, werden es dann fast 100 Prozent. 30 Prozent ­Naturtalent und jeweils 23 Prozent an Vermittlung, Fleiß und eben der Punkt, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.

Noch eine Behauptung, die einer Frage voraus geht: So verinnerlicht wie Sie als Oratoriensänger auftreten, dürften Sie überzeugter Christ sein – zumal Sie durch Ihr Elternhaus vorbelastet sind. Ist dem tatsächlich so?
Also ich möchte jetzt hier nicht wie der amerikanische Fernsehprediger klingen, aber: You get what you see, you get what you hear. Das gilt für mich, für mein Singen über Jesus Christus und fast alle Glaubensinhalte. Der Glaube ist aber ein tägliches Ringen und ein tägliches Fassungsloswerden über das, was man sieht. Jetzt sitzen wir hier in der westlichen Welt am Kaffeetisch, fast immer noch 1.000 Kilometer entfernt von Kiew, viele tausend Kilometer von Gaza und Israel entfernt und vom täglichen Wahnsinn in Afrika und in Teilen Asiens. Und angesichts der Bilder, die kommen, stoßen wir immer wieder auf die Frage: Wie passt das denn der liebende Gott zusammen? Wie passt zusammen, dass Bach zehn seiner 20 Kinder begraben musste und dennoch in seine Werke unverbrüchliche Zuversicht hinein komponierte? Ja, der Glaube ist eine Zumutung. Er ist die erste und größte Zumutung, die der Mensch vielleicht haben muss. Ich glaube, was ich singe.

Sie bekennen öffentlich, dass Sie vor Jahren einmal in eine existenzielle Verzweiflung, in ein schwarzes Loch gefallen waren, erklären sich aber nicht näher. Können, möchten Sie heute, da womöglich alles verarbeitet ist, nüchtern, sachlich darlegen, worum es ging – und wie Sie herausfanden?
Mein musikalisches Leben ist munter und fröhlich losgegangen, und es ist instinktgetrieben gewesen. Wenn man bedenkt, dass meine Gesangslehrerin mir gleich „Die schöne Müllerin“ und das Weihnachtsoratorium zu singen gegeben hat, können manch andere Stimmpäda­gogen sagen: Na ja, da wird es dann halt irgendwann an etwas mangeln, an irgendeiner technischen Kenntnis – wenn man eben gleich so ganz auf Musik und Interpretation geht, was ich ja getan habe. Man konnte damals nur hoffen, dass die technischen Lücken anderweitig schließen. Diese Lücken haben sich – nachdem ich doch schon einige Jahre gesungen hatte, auch Solist war bei Harnoncourt – nicht nur nicht geschlossen, sondern so weit aufgetan, dass sich mein sonniger Sängertraum von heute auf morgen ins Gegenteil verkehrte. Ich hatte im Spätherbst 2012 den Zugriff auf meine Stimme und auf meine Aussage komplett verloren. Ich bin zu meiner Lehrerin und musste fragen: „Wie geht ­singen?“ Jetzt kürze ich ein bisschen ab: Ich habe versucht, mir Hilfe zu holen bei allen möglichen technischen, menschlichen Ansätzen. Ein großer Teil meiner Ratgeber sagte mir: „Ich fürchte, Du musst noch einmal von vorne anfangen.“ Das hört man nicht gerne mit 35 Jahren, nachdem man schon erfolgreich etwas gesungen hat. Aber mir war klar, cum grano salis ist da was dran. Ich habe Zeit gebraucht, um mich und meinen Körper zu finden, um – nur ein Detail – eine vollkommen entspannte tiefe Kehle zu gewinnen. Der liebe Alois Aichhorn hat mir Übungen und Vertrauen gegeben, hat mein Ohr auf einen anderen Klang der Stimme hingeführt – von der reinen hellen Lieblichkeit hin zur tiefen Erdung.

Als Graf Almaviva in Rossinis „Il ­barbiere di Siviglia“ bei der Grazer Styriarte 2015 (mit Bibiana Nwobilo als Berta und ­Miljenko Turk als Figaro) (Foto Werner Kmetitsch)

Heute sagen Sie: „Ich darf ein sehr glückliches Leben führen!“ Was ist die Ursache für dieses Empfinden? Die Musik wird eine Rolle spielen, natürlich, aber dann …?
Es ist die menschliche Verbindung. Und ich glaube, es gibt keine andere Art, sein Geld zu verdienen, die mit so viel Altruismus verbunden ist, so viel Austausch von Emotionen, so viel Dankbarkeit, wie das in der Musik der Fall ist. Am Ende jeden Jahres sind 40 bis 50 Menschen in mein Leben getreten, die ich vielleicht gar nicht mehr wiedersehe, mit denen ich aber sofort, wenn ich es nur könnte, einen Abend verbringen würde, bei dem wir uns bestens verstehen und unsere Lieben teilen und potenzieren können. Das ist Ursache unendlichen Glücks. Wer kann das so sagen?

Haben sie jemals einen saftigen oder auch höflich verbrämten Verriss erhalten?
Oh ja, immer wieder. In früheren Jahren öfter. Mein Timbre ist halt manchmal an der Counter-Ecke, ist manchem zu hell, zu wenig italienisch. Der italienische Melomane wird mit meiner voce tedesca niemals glücklich werden. Eine tiefe Kehle in Ehren, aber … [Anm. d. Red.: Johannsen fängt an, mit tiefer Kehle zu singen.] Es darf nicht immer alles danach klingen. Das ist nicht meines, so kann man keinen Evangelisten singen.

Wann erhielten Sie Ihren jüngsten Verriss?
Da muss ich nachdenken. Also im letzten Jahrzehnt erhielt ich, glaube ich, keinen.

Damit es so bleibt: Lassen Sie Ihre Stimme regelmäßig kontrollieren?
Also meine letzte Gesangsstunde bei Alois Aichhorn ist demnächst acht Jahre her. Aber ich lasse mich insofern kontrollieren, als einer meiner Agenten, der selbst mal Gesang studiert hat, mir besonders genau zuhört und der mir manchmal auf die Finger klopft, indem er von mir mehr Bodenhaftung fordert.

Was haben Sie in Sachen Lied-Interpretation von ­Robert Holl, Nicolai Gedda, Dietrich Fischer-Dieskau und Christa Ludwig, mit denen Sie auch zusammenarbeiteten, mitgenommen? Pro Koryphäe bitte nur einen Punkt.
Von Robert Holl, dem Niederländer, nahm ich mit, wie deutsche Sprache in ihrer Schönheit und Lieblichkeit und all ihren Finessen wirklich funktioniert, von Fischer-­Dieskau die Kompromisslosigkeit, in ein Stück einzutauchen. Von Gedda habe ich sehr viele Einsing-Übungen erhalten, die ich bis heute ausführe. Und von Christa Ludwig habe ich ihren Frohsinn mitgenommen, dieses „Ach, ich bin ein Kriegskind, aber ich habe es trotzdem schön gehabt“.

Jephtha im gleichnamigen Oratorium von Händel, Festival Retz 2016 (Foto Claudia Prieler)

Zu Beginn Ihrer Karriere haben Sie mehr Oper und Operette gesungen. Was sind die Gründe, dass dies in den Hintergrund trat?
Das hängt halt damit zusammen, dass ich mich für längere Zeit einem Opernhaus nicht ausliefern möchte. Ein Tenor meinesgleichen ist an jedem Haus vorrätig. Ich bin der lyrische Wald- und Wiesen­tenor. Nicht der ­Ritter vom hohen C, damit gehe ich nicht hausieren, aber für das, was man von Händel über Belcanto bis hin zu ­Britten braucht, bin ich der Sechzehnerschlüssel, wie man auf Wienerisch sagt. Und den gibt es an jedem deutschen Haus.

Einspruch, Eurer Ehren. Den mag es geben an jedem Haus, aber nicht in Ihrer Qualität. Und da wir gerade beim Thema Verwechslung sind, gleich die Frage: Hatte eigentlich der Umstand, dass auch ein schwedischer Kollege namens Daniel ­Johansson singend Erfolg hat, für Sie schon einmal Folgen?
Ganz aktuell hat mich, vollkommen richtig geschrieben, die englische Musikzeitung „The Tatler“ in einem reißerischen Artikel als den nächsten Tristan für Glyndebourne vorgestellt. Aber ich werde ihn nicht singen. Und nun habe ich endlich mal Daniel Johansson kontaktiert und ihn gefragt, ob ihm mittlerweile nicht auch diese ständigen Anfragen reichten, warum er so viele Evangelisten singt – so, wie es mich anödet, mich ständig erklären zu müssen, dass ich nicht als Helden­tenor auftrete. Nein, ich singe keinen ­Siegmund und keinen Canio. Johansson hat sehr geseufzt und erklärt, das passiere auch ihm immer wieder. In meinem Fall war es auch mal so, dass in einem schönen Matthäus-­Passion-Programmheft fürs Madrider Auditorio ­Nacional de ­Música neben meiner wunderbar ins Spanische übersetzten Vita ein schönes Foto von Daniel Johansson prangte, knusprig, rothaarig wie er ist – und eindeutig nicht ich.

Sie sind christlich erzogen und sozial, Sie arbeiten ernsthaft und fühlen hohe Verantwortung für Ihre Schüler. Sagen Sie mal, haben Sie auch charakterliche Schwächen?
Meine Güte! Sie haben sich vorhin als mich uneitel präsentierend geäußert. Aber ich glaube, ein gewisser Stolz und ein gewisser Ehrgeiz ist in mir sehr stark angelegt. Ich kann mich zwar nach außen hin unter Kontrolle halten, aber manchmal, wenn ich mich irgendwo übergangen fühle, wenn ich frage „Warum er und nicht ich?“, dann merke ich, da kommt doch eine Art Stolz heraus und vielleicht auch eine kleine Überheblichkeit, die ich mir schon ankreide. Vor Hybris müssen wir, die wir Erfolg haben – da schließe ich viele Kolleginnen und Kollegen ein –, bewahrt werden, denn die hat ganz viele Sängerleben gekostet. Ein bisschen öfter „Nein“ zu sagen, das muss ich auch noch lernen.

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe September/Oktober 2024

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1. Juli 2024

Ein provokanter Utopist

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

Der Schweizer Regisseur Milo Rau holt die Kunst mit teils brachialen Mitteln aus dem Elfenbeinturm. Und dabei möchte er eigentlich „nur alles hier überleben“

von Karlheinz Roschitz

All jene, die fordern, dass man Oper, Musik- und Sprechtheater oder Performance heute eigentlich als „Ort politischer und gesellschaftskritischer Selbstbefragung und künstlerischen Widerstandes“ verstehen sollte, bewundern Milo Rau wie einen Messias, weil er immer wieder selbstkritisch hinterfragt: Kann politische Kunst die Welt verändern? Und wie? Oder zementiert sie nicht eher die bestehenden Verhältnisse? Die New York Times nennt ihn den „kontroversesten Künstler unserer Zeit“, Amsterdams „De Standaard“ sprach vom „interessantesten Künstler“. Deutsche Kritiker feiern ihn als Künstler, dem es nicht mehr darum geht, die Welt darzustellen, sondern sie zu verändern, die Darstellung der Welt Realität werden zu lassen. Die „Zeit“ spricht vom „einflussreichsten, innovativsten Regisseur“, an dem man heute nicht „vorbei kann“. Und der Zürcher Tages-Anzeiger lobt: „Der Milometer ist inzwischen so etwas wie der Goldstandard der Postdramatik.“

Der Politisierung des Theaters ablehnend gegenüberstehende Kritiker und ein eher konservatives Publikum verdammen Raus konsequent analytische Inszenierungen allerdings als „modische Dekonstruktion“, ja als Zerstörung. So löste erst kürzlich Raus Inszenierung von Mozarts Dramma serio „La clemenza di Tito“, seine erste Opernregie, die 2021 am Grand Théâtre de ­Genève Premiere hatte und im Mittelpunkt der soeben zu Ende gegangenen Wiener Festwochen stand, bei Publikum und manchen Kritikern einen Sturm der Empörung aus. Blendete er doch in seiner „eingewienerten“ „Clemenza“-­Version 18 Immigranten-Interviews ein: Vertriebene, die in einem Trailerpark-Ghetto ihr Dasein fristen, berichten über ihre Erfahrungen mit repressiven Systemen. Das Programm verkündete, dass hier „die wohlwollend engagierte Haltung des Herrschers Tito zu einer Strategie bloßer Selbsterhaltung, zur leeren Revolutionsfloskel verkommt“ und die umstrittene Mozart-Interpretation des Festwochen-Intendanten Rau eine „Kritik am bequemen Engagement […] der Menschen Wiens“ sei. Dass Wiens Opernfans das hören wollten, ist zu bezweifeln.

Globale Kunst

Milo Rau, 1977 geboren in Bern, ist ein prominenter, international vielgefragter Schweizer Theater-, Film- und nun auch Opernregisseur und war seit 2018 Intendant des NTGent. Ein ruheloser Erneuerer und Tausend­sassa, der an mehreren Universitäten Kulturtheorie, soziale Plastik und Regie unterrichtet und 2017 die Saarbrückener Poetikdozentur für Dramatik innehatte. Er ist mit Rüdiger Safranski Star des „Literaturclubs“ des Schweizer Fernsehens. Seit 2002 veröffentlichte er etwa 50 Theaterstücke, Filme, Bücher, Aktionen, Tribunale, Schauprozesse, die beim Berliner Theatertreffen, beim Festival von Avignon, der Biennale von Venedig, bei den Wiener Festwochen und dem Brüsseler Kunstenfestival­desarts großen Erfolg hatten. Neben Frank Castorf und Pina Bausch erhielt er den ITI-Preis des Welttheater­tages, 2018 für sein Lebenswerk den Europäischen Theater­preis, 2019 wurde er als erster Künstler Asso­ciated Artist der European Association of Theatre and Performance (EASTAP). 2023 wurde er künstlerischer Leiter der Wiener Festwochen und Nachfolger des in Wien zu Unrecht nie voll akzeptierten und jetzt nach Brüssel zurückgekehrten Christophe Slagmuylder.

Milo Rau im Gespräch: ein charmanter, verheirateter Endvierziger, sprühend vor Energie, immer „am Sprung“, ein kritischer Analytiker, der zu allem humorvolle Einwürfe parat hat, ein „Agitator und linksradikaler Demokrat“, wie er selbst mit eher ironisch-süffisantem Lachen sagt; Rau: „Lenin hing an der Wand meines Jugendzimmers. Damit konnte man damals für richtig schlechte Laune sorgen. Mit 12 ließ ich eine Visitenkarte drucken, auf der Kommunist als Beruf stand.“

(Foto Magdalena Blaszczuk)

In seinen Ideen-Kombinationen ist er von großer Wendigkeit, ja Brillanz, egal ob er über antike Dramen und ihre Aktualisierung in seinen eigenen Übersetzungen, über gesellschaftliche Eliten und Bourgeoisie, Veränderung der Welt durch politische Kunst spricht oder sich über postkoloniale Ausbeutung alteriert. Er habe „PR-Strategien wie ein Spitzenpolitiker“, schrieb einmal ein Kritiker der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ über ihn und seine brillanten Krisen- und Kriegsreportagen aus Lateinamerika, Ruanda, dem Kongo, Syrien und Irak – und von der IS-Kriegsfront! Diese Reisen haben in seinen Theaterstücken ihren Niederschlag in einer „globalen Kunst“ gefunden – wie in „Hate Radio“ über den Völkermord in Ruanda (2011/12), den „Moskauer Prozessen“ (2013/14) „Kongo Tribunal“ (2015), „Orest in Mossul“ (2019), „Antigone im Amazonas“ (2023). Oder dem 2023 in Genf uraufgeführten Musiktheaterwerk „Justice“ über einen grauenvollen Unfall in der kongolesischen Provinz Katanga, einem Requiem, das er vor kurzem beim erfolgreichen St. Pöltener Festival ­Tangente zeigte.

Kontroversen und Unvereinbares

Seit Herbst 2023 bastelt Rau an seinem spektakulären Fünf-Jahreskonzept für Wiens „Festival der Zukunft“ – und sorgte damit sofort für Widerstand und heftige Diskussionen bis hinauf in die Politiker-Etage. Aber nichts anderes hatte man vom Polit- und Regie-Enfant-­terrible Milo Rau erwartet. Schon Monate vor dem Festivalstart kam es wegen eines Projekts zum Stellungskrieg zwischen der ukrainischen Dirigentin Oksana Lyniv und dem in Wien beliebten griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis. Rau wollte Jevhen Stankovychs ukrainisches Kaddish-Requiem „Babyn Jar“ über die Ermordung von 30.000 Juden in der Schlucht von ­Babyn unter Lyniv dem „War Requiem“ Benjamin Brittens unter Currentzis gegenüberstellen. Was die Ukrainerin Lyniv empörte: Sie wollte partout nicht gegen den – wie sie fand – Putin-Freund Currentzis antreten. Rau im Rückblick: „Es waren unvereinbare Positionen! Die Festwochen sollten aber ein Ort der Begegnung sein. Totalboykott halte ich für falsch, auch gegen russische Kunstschaffende. Currentzis hätte da seine Haltung zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ausdrücken können.“

Danach wurde Rau wegen „israelfeindlicher Propa­ganda“ heftig angegriffen, wollte er doch zwei umstrittene Persönlichkeiten in seinen Festwochen-„Rat der Republik“ holen: die französische Literatur-Nobel­preisträgerin Annie Ernaux, die der möglicherweise antisemitischen BDS-Bewegung nahesteht, und den früheren griechischen Finanzminister Yanis Varoufakis, der im Zank mit Deutschland wegen Antisemitismus mit Einreiseverbot belegt wurde. Und eine Woche vor der „­Eröffnungsrede an Europa“ musste sogar der israelische Philosoph Omri Boehm in Interviews und im Fernsehen zu Verteidigungsreden antreten, etwa gegen den ehemaligen Präsidenten der Israelitischen Kulturgemeinde Österreichs, Ariel Muzicant, dem der versöhnliche Ton Boehms, der von der Utopie einer Aussöhnung zwischen Israeli und Palästinensern in einem Einheitsstaat träumt, zu provokant war. Muzicant meinte, er würde Eier gegen den Vortragenden werfen, wäre er jünger. Eine prominente Bank stieg als Sponsor aus.

Revolutionäre Übung vor dem Rathaus: Eröffnung der Wiener Festwochen 2024 (Foto Franzi Kreis)

Die Zweite Moderne

Milo Rau ist angetreten, um die Wiener Festwochen zu „aktualisieren“. Er attestiert dem Kulturbetrieb von heute „Diskurslähmung“ und fordert eine „Utopie des Handelns“. In einer Open-Air-Monsterveranstaltung vor dem Wiener Rathaus rief der „Wokeness-König und Moral-Apostel“ Rau die „Freie Republik der Wiener Festwochen“ aus. Er erklärte einen 100-köpfigen Rat der Republik zum Souverän und proklamierte Wien als wichtigste Experimentalstätte einer Zweiten Moderne: Musiktheater und Theater sollte „global, entgrenzt, utopisch, radikal politisch und radikal ästhetisch“ sein. In einer Wiener Erklärung stellt er Fragen zur Zukunft – so nach Erarbeitung einer Verfassung für das „Festival der Zukunft“ mit der Frage, wie viel Innovation und Tradition ein Festival heute brauche.

In den Mittelpunkt des Festivals stellte er „Wiener Prozesse“, nach den Muster-Gerichtsformaten seiner spektakulären Zürcher und Moskauer Prozesse und seinem Kongo Tribunal, vom Theater inspirierten Gerichtsprozessen, „Bühnenereignissen als Einübung in demokratische Praktiken“, wie er meint, bei denen in Veranstaltungen wie „Die ­korrupte Republik“, „Anschläge auf die Demokratie“ und „Die Heuchelei der Gutmeinenden“ Politiker, politisch-ökonomisch-mediale Komplexe, Klimafragen, die Freiheitliche Partei Österreichs usw. auf die Anklagebank kamen. „Ganz Österreich – vors Tribunal der Republik zitiert!“ „Wo Politik versagt, wo sie hinter lokalen Diskursgewinnen herjagt und die Worte entwertet, kann vielleicht die Kunst Abhilfe schaffen …“, findet Rau. „Wir KünstlerInnen leben, heute und vielleicht schon immer, am Hof des blinden König Ödipus. Wir müssen umso hellsich­tiger sein, auch wenn die Explosionen der zahllosen globalen Konflikte blenden ­mögen.“

Ständige Erneuerung

Über seine künstlerische Arbeit, bei der Operninszenierungen in Zukunft mehr Platz bekommen werden, sagte Milo Rau in der Neuen Zürcher Zeitung: „Am glücklichsten bin ich, das zu tun, was ich nicht vorhatte. Ich selbst als Person bin im Zentrum des Ganzen nur panisch. Je größer die Sache, umso kleiner komme ich mir vor. Im Grunde besteht meine Kunst darin, das alles irgendwie zu überleben.“ Ein Künstler, der sich in ständiger Erneuerung befindet, der mit „dokumentarischen Theatersprengungen die Häuser füllt“. Ihm ist es gelungen, seine Kunst „aus dem Elfenbeinturm zu werfen“.

In seinem soeben erschienenen neuen, brillanten Essayband „Die Rückeroberung der Zukunft“ schreibt er sein ganz persönliches Bekenntnis, eine Liebeserklärung an die ständige Erneuerung, an das fortwährende Infragestellen von sich etablierender Kunst: „Wenn sich eine der Institutionen, die wir gründen, zu verfestigen beginnt, wenn ich spüre, dass der Moment des Aufstands in eine Ideologie der Sicherheit und Wiederholbarkeit übergeht, wenn aus Freundschaft Liebe wird, aus einer Situation ein Zustand, aus einer Besetzung Besitz – dann ist für mich der Zeitpunkt gekommen zu gehen.“ Doch er ist auch voll Optimismus, wenn er in seinen Texten über Kunst und Gesellschaft, „Grundsätzlich unvorbereitet“, ergänzt: „Dies ist was ich am Theater so liebe. Dass alle Irrtümer der Welt korrigiert werden können, wenn auch nur für einen Abend.“

Empfehlungen

Milo Rau:
„Grundsätzlich unvorbereitet.
99 Texte über Kunst und Gesellschaft“
224 Seiten, Verbrecher Verlag

Milo Rau:
„Die Rückeroberung der Zukunft:
Ein Essay“
176 Seiten, Rowohlt Buchverlag

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Juli/August 2024

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29. April 2024

Mit Jonas Kaufmann im Internet

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

Der Influencer und Bariton Babatunde Akinboboye kämpft auf Social Media gegen die Verstaubtheit der Opernwelt

von Sophie Emilie Beha

Konsumieren Opernsängerinnen und -sänger Cannabis? Wie teuer ist der Beruf? Und wie rassistisch? Diese Fragen klärt Babatunde Akinboboye kurz und knackig. In seinen einminütigen Videos trägt er gern Smoking und hält eine verschnörkelte Jugendstil-Tasse mit Schwarztee in den Händen. Gelegentlich nimmt er davon einen winzigen Schluck, meistens rührt er ihn aber nur vielsagend um. Auf TikTok schauen fast eine Million Fans seine lustigen Videos an. Aber eigentlich wollte Akinboboye gar kein Internet-Star werden: „Ich habe das nur gepostet, um die Leute zu unterhalten. Doch dann hat sich gezeigt, dass das offenbar für viele sehr wertvoll war. Zufällig gingen einige Videos durch die Decke, dabei war das gar nicht meine Absicht.“

Denn eigentlich wollte Bariton Babatunde Akinboboye nur seine Follower bei Stange halten – bis 2019 sein erstes Album „Della Citta“ herauskam. Um die Wartezeit zu überbrücken, hat er Videos auf TikTok und Instagram gepostet. Videos, in denen er den Opernbetrieb auf den Arm nimmt, kritisch und immer mit einer Prise Humor. Etwas, das seine Videos auszeichnet. Die heikle Frage nach dem Cannabis-Konsum kommentiert Akinboboye beispielsweise mit einem bedeutungsvollen Lächeln. Für ihn gilt: „Der beste Humor kommt immer von einer überraschenden Wahrheit.“ Deshalb zählt er beispielsweise all die Kosten auf, die angehende Opernsänger für Gesangsstunden, Bewerbungsverfahren und Noten aufbringen müssen. Oder er erklärt, warum er keine Einladungen von Förderern wahrnimmt: „Jedes Mal, wenn ich dorthin komme, werde ich benutzt. Wenn ich mal nicht gefragt werde, wie ich es geschafft habe, aus Afrika zu kommen, um Opernsänger zu werden, dann werde ich viel zu oft von derselben Person umarmt und berührt.“

Vom Hip-Hop zur Oper – und zurück

Babatunde Akinboboye wurde in den USA geboren und ist in Nigeria aufgewachsen. Genauso zufällig wie er Internet-Star wird, ist auch sein Weg in die Oper: Denn als sein Gesangslehrer ihm vorschlägt, mal Arien zu singen, kennt Babatunde keine. Er hört lieber Hip-Hop. „Irgendwann habe ich mit der Idee gespielt, beide Elemente zu kombinieren. Ich hatte in der Probe Oper gesungen und kurz danach im Auto Hip-Hop gehört. Dabei hatte ich aber noch die Probe im Kopf und habe dann einfach die Arie über den Hip-Hop-Beat gesungen.“ Das Resultat: Das „Largo“ aus Mozarts „Le nozze di Figaro“ passt erstaunlich gut zu einem Beat von Rapper Kendrick ­Lamar. Banatunde nennt diese Mischung „Hip Hopera“. Das dazugehörige Video filmt er ganz simpel von sich selbst im Auto. Es geht sofort viral und hat mittlerweile über eine Million Klicks auf YouTube. „Das war, als würde man fast versehentlich eine Superkraft von sich entdecken.“

Daran knüpft auch Akinboboyes aktuelle Videoreihe an: eine Zusammenarbeit mit Jonas Kaufmann. Auch der weiß, dass er das Internet braucht, und ­Babatunde ­Akinboboye ist das Internetphänomen schlechthin: Im „Jonas Kaufmann Karaoke“-Video nimmt Kaufmann Akinboboye in seinem Auto mit durch Berlin. Gemeinsam schmettern sie die Hits aus seinem Album „The Sound of Movies“ und erzählen sich nebenbei ein paar nette Anekdoten. Dass der kleine Jonas eigentlich lieber Klavierspielen als singen wollte und wie kaputt wohl die Stimmbänder von Louis Armstrong aussehen. Ein anderes Video zeigt die beiden mit ihrer liebsten Aufwärmübung: Man stopfe sich zum Singen ein Handtuch in den Mund. Jonas und Babatunde schwören darauf!

Neben seiner eigenen Musik postet Akinboboye auch jeden Tag kurze Videos, in denen er schwarze Komponisten und Sängerinnen vorstellt: Jessye Norman, Mahalia Jackson, Marian Anderson, John Holiday, Paul Robeson oder Leontyne Price, für die er persönlich schwärmt: „Sie ist wahrscheinlich eine der besten Sopranistinnen jemals! Und bemerkt mal bitte, dass ich nicht ‚Schwarze Sopranistinnen‘ gesagt habe!“ Bemerkenswert, wie flink Akinboboye mal so eben Rassismuskritik in einem Video unterbringt, das kürzer als eine Minute ist. Sowieso schert er sich nicht um die ungeschriebenen Regeln der Opernszene, denn er weiß, dass sie im Internet kein Gewicht haben. Er macht Späße über einen Betrieb, von dem er selbst Teil ist und auch profitiert. Ganz unverblümt macht er sich lustig über cholerische Intendanten, die sich nicht für Diversity einsetzen, oder Mäzene, die verhindern wollen, dass schwarze Menschen an Opernproduktionen teilnehmen.

Am liebsten genauso verrückt wie ­unsere Welt

Seine Munition: Reichweite. Seine Währung: Aufmerksamkeit. Akinboboye bekommt viel Resonanz, nicht nur von der Gen Z, sondern auch von anderen Kollegen oder Managern: Sie nehmen den Betrieb ähnlich wahr, trauen sich allerdings nicht, Kritik zu äußern, wie es Akinboboye tut. Während der Corona-Pandemie legte der nochmal eine Schippe drauf: „Es ist einfacher, die Schwierigkeiten in der Branche offen anzusprechen, wenn man sich keine Sorgen machen muss, nicht eingestellt oder gefeuert zu werden, weil in der Pandemie niemand eingestellt wurde. Deswegen habe ich angefangen, noch ein wenig lauter über die Dinge zu sprechen, die mir in der Oper aufgefallen sind und die meiner Meinung nach anders laufen könnten.“

Babatunde Akinboboye kritisiert Rassismus, Sexismus und Hierarchien im Opernbetrieb – und das stets mit einem Augenzwinkern. Er zeigt eine Insider-Perspektive und witzelt über all die kleinen Dinge, die merkwürdig sind. So macht er Oper zugänglich und vor allem verständlich für ein neues, junges Publikum: „Der Grund, warum ich in der Lage war, all diese Sachen den Leuten so effektiv zu vermitteln, ist, dass ich erst so spät im Leben selbst zur Oper gekommen bin. Weil ich nicht mit Oper aufgewachsen bin, habe ich eine andere Perspektive auf die Kultur und sehe Oper immer noch oft so wie diejenigen, die keinen Bezug dazu haben.“ Regelmäßig kommentieren Leute seine Videos damit, dass sie wegen ihm angefangen hätten, in die Oper zu gehen und das seitdem nicht mehr missen wollen. Auf seinem Kanal hätten sie gelernt, dass man auch „ohne Anzug“ in die Oper gehen darf, welche Rollen oft mit Mezzosopranistinnen besetzt sind und woraus der gängige Werks­kanon besteht. Außerdem demonstriert ­Babatunde auch, was in der Klassikwelt oft verpönt ist: große, emotionale Reaktionen auf Musik. Etwas, das zwar viele Leute fühlen, aber nur wenige offen zeigen.

Mit seinen Videos will er den Opernbetrieb nicht mehr und nicht weniger als verändern: Oper soll raus aus der verstaubten Ecke mit den immergleichen Hits. Viel schöner wäre es, wenn das Genre genauso vielfältig, bunt und verrückt wäre wie die Welt, in der wir heute leben. „Ich bin nicht besorgt über die Zukunft der Oper. Ich bin viel eher gespannt auf das, was als nächstes kommt. Oper ist eine tolle Kunstform. Sie hat nicht ohne Grund die Barockzeit überlebt. Aber es bricht mir das Herz, dass sie zu einem Fossil geworden ist, das im Regal steht und verstaubt. Dabei ist sie doch wie eine Blume: Sie will wachsen.“

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe Mai/Juni 2024

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1. März 2024

Sperr ma zua …

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

„Was würdest Du tun?“: Zum 125. Geburtstag stellt sich die Volksoper Wien mit dem Auftragswerk „Lass uns die Welt vergessen“ ihrer NS-Vergangenheit

von Florian Maier

Sie haben sich gefunden, allen Turbulenzen und Tränchen, allen Verwirrungen und Verwechslungen zum Trotz. Einer Fünffach-Hochzeit steht also endlich nichts mehr im Wege, die Operettenseligkeit schwingt sich auf zum großen Finale – und geht über in einen martialischen Marsch, während im Hintergrund historische Aufnahmen ausgemergelter KZ-Insassen projiziert werden und braungewandete Statisten mit Hakenkreuzbinden die Bühne beherrschen …

„Es blüht die süße Rebe,
Der Himmel ist so blau,
Viel tausend Jahre lebe
Der Zauber der Wachau!“

Am 14. Dezember 2023 begeht die Volksoper Wien ­ihren 125. Geburtstag. Direktorin Lotte de Beer und ihr Team hätten es sich einfach machen können: mit einer glamourösen Jubiläumsgala, einem gefälligen künstlerischen Potpourri, den üblichen wohlwollenden Reden aus Politik und Gesellschaft und vielleicht noch einer hübschen Begleitbroschüre fürs heimische Regal. Schnell auf die Beine gestellt, schneller Glanz fürs eigene Image, schnell vergessen. Stattdessen geht an diesem Abend eine über mehrere Jahre gewachsene Stückentwicklung über die Bühne: „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Produktion, die dort nachbohrt, wo viel zu lange tabuisiert wurde, die Stellung bezieht und auch einfordert: „Was würdest Du tun?“

„Wem dienen wir?“ – „Der Kunst.“ – „Und sonst?“ – „Dem Führer!“ (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Ihre Dienste werden nicht mehr ­benötigt.“

„Die Politik ist unwichtig! In vier Wochen ist Premiere! Das ist wichtig!“ Anfang 1938 sind die Proben zur Revueoperette „Gruß und Kuss aus der Wachau“ in vollem Gange. Und auch wenn Regisseur Kurt Hesky es nicht wahrhaben will, die bittere Realität draußen spitzt sich immer mehr zu: ­Schuschniggs austrofaschistischer „Ständestaat“ und sein Ringen um Unabhängigkeit von Hitler-Deutschland, eine verzweifelt initiierte und dann doch noch gestoppte Volksabstimmung, der Einmarsch der Nationalsozialisten, die Rede am Heldenplatz. Der „Anschluss“ am 12. März 1938 ändert über Nacht alles – auch für die Volksoper. 1898 zum 50. Thronjubiläum von Kaiser Franz Joseph noch mit deutlich antisemitischer Satzung eröffnet, hatten sich die Vorzeichen am Haus inzwischen umgekehrt: Die Volksoper lebte in der Zwischenkriegszeit ganz wesentlich vom kreativen Input ihrer jüdischen Künstlerinnen und Künstler. Und jetzt? „Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt.“ Entlassungen. Vertreibung. Flucht. Verhaftung. Deportation. Ermordung im KZ.

2018 veröffentlichte Historikerin Marie-Theres Arnbom die Ergebnisse einer aufwändigen weltweiten Recherche rund um die letzte Volksopern-Premiere vor dem „Anschluss“, Jara Beneš’ „Gruß und Kuss aus der Wachau“ auf Texte von Hugo ­Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda. Das Ziel: Erinnerungsarbeit für die damaligen Schicksale jüdischer Ensemblemitglieder leisten, ihre Geschichten dem Dunkel der Zeit entreißen, stellvertretend für so viele ausgelöschte oder für immer überschattete Leben. Lotte de Beer wird kurz nach ihrer Berufung 2020 auf die Publikation aufmerksam, die im Zuge von „Lass uns die Welt vergessen“ jetzt in ergänzter Neuauflage erschienen ist. Für die Uraufführung lässt sie Arnboms Erkenntnisse für die Bühne adaptieren: Das Ensemble von heute spielt das Ensemble von damals.


EMPFEHLUNG

Marie-Theres Arnbom:
„‚Ihre Dienste werden nicht mehr benötigt‘: Aus der Volksoper vertrieben – Künstlerschicksale 1938“
(Ergänzte Neuausgabe 2023)
206 Seiten, Amalthea

Albtraum und Traumwelt

Eine „Stück im Stück“-Situation mit zwei Extremen, wie man sie sich unvereinbarer kaum vorstellen kann: hier fröhlicher Operettenklamauk in köstlichstem Wiener Schmäh, mit spritzigen Choreos (Florian Hurler) und pastelligen Prospekten; dort eine angespannte Probenatmosphäre, die Angst vor den neuesten Nachrichten, eine vergiftete „Ensemblekultur“, in der die einen blinde Panik ums nackte Überleben haben und die anderen ihre Mitgliedschaft in der „Nationalsozialis­tischen Betriebszellenorganisation“ über eigenmächtig angezogene NS-Uniformen auch auf die Bühne tragen. „Jeder 10. ­Wiener ist Jude, wissen Sie das?“ – „Ein echter Wiener zählt nur bis 9.“

Der niederländische Regisseur und Autor Theu Boermans hat sich des Spagats zwischen den Erzählebenen angenommen. Mit viel Fingerspitzengefühl zeichnet er nach, was damals hinter den Kulissen der Volksoper so oder ähnlich passiert sein muss. Am linken Bühnenrand positioniert er das Regieteam von 1938, in der Mitte werden in schnellen Probendurchläufen und mit zunehmendem Chaos die einzelnen Szenen von „Gruß und Kuss“ abgespult – dazwischen die schwelenden Konflikte zwischen Opfern, Tätern und „Verdrängern“, die wegschauen, still und ohne jedes Anecken an ihrem brüchigen „Alltag“ festhalten wollen. Historische Aufnahmen, darunter Schuschniggs Rundfunkansprache („Gott schütze Österreich!“) und der frenetische Jubel für Hitler bei dessen Rede am Heldenplatz, geben auf beklemmende Weise den fatalen Lauf der Geschichte wieder. Wie dieser den einzelnen Charakteren mehr und mehr den Boden unter den Füßen wegzieht, wird in privaten, abendlichen Momenten greifbar, die Bühnenbildner Bernhard Hammer auf einem kalten Stahlkarussell verortet.

Solidarisch sein oder weiterarbeiten? Die Operettenkünstler Emil Kraus (Sebastian Reinthaller) und Frida Hechy (Ulrike Steinsky) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

In der Realität wurde „Gruß und Kuss aus der Wachau“ am 16. Februar 1938 uraufgeführt und nach dem „Anschluss“ in einer „arisierten“ neuen Textfassung noch einen Monat lang gespielt – die Musik des tschechischen Komponisten Jara Beneš wurde weiterhin verwendet, da er im Gegensatz zu den Librettisten nicht jüdischer Herkunft war. Boermans nimmt sich für seine Dramatisierung die Freiheit, das historisch verbürgte Premierendatum um einige Wochen nach hinten zu verlegen, um so die reale Katastrophe und den Operetteneskapismus diametral zuspitzen und die Haltungen seiner Figuren noch schärfer herausarbeiten zu können. Laufende Umbesetzungen abseits jeglicher menschlichen Würde oder künstlerischen Berechtigung werden dadurch erst recht ad absurdum in ihrer Fratzenhaftigkeit entlarvt.

„Ein heiterer deutscher Theaterabend“

An Kunst um der Kunst willen ist anno 1938 ohnehin längst nicht mehr zu denken. Fritz Löhner-Beda, in der Zwischenkriegszeit einer der erfolgreichsten Librettisten und Schlagertexter, wird unmittelbar nach dem „Anschluss“ verhaftet und 1942 in Auschwitz erschlagen. Regisseur Kurt Hesky flüchtet nach Brasilien und findet sich dort im Edelsteinhandel wieder – über eine Fortsetzung seines künstlerischen Schaffens ist nichts bekannt. Victor Flemming, ein Wiener Sängerstar, wird bei seinem Fluchtversuch verhaftet, nach Theresienstadt und Auschwitz deportiert, 1944 ermordet. Intendant Alexander Kowalewski kann dem antisemitischen Druck von innen und außen nichts mehr ­entgegensetzen, wird seines Amtes enthoben und durch einen „arischen“, regimekonformen Nachfolger ersetzt. Komponist Jara Beneš mit seinen schmissigen Jazz-Rhythmen ist den Nazis ein Dorn im Auge – seine aufstrebende Karriere ist schnell vorbei, er stirbt 1949 völlig verarmt. Dirigent Kurt Herbert Adler flieht in die USA und leitet als einer der einflussreichsten Operndirektoren der Welt über drei Jahrzehnte die San Francisco Opera. Sopranistin Hulda Gerin wird trotz ihrer jüdischen Wurzeln lange protegiert, geht erst nach München und muss dann doch emigrieren – nach dem Krieg gelingt ihr unter dem Namen Hilde Güden eine große Karriere. Nur einige Namen, exemplarisch für unzählige Tragödien. Das Österreich der Nazizeit demontiert sich selbst. Und – Ironie des Schicksals – sorgt dafür, dass all seine erstickte Schaffenskraft von den Überlebenden dieser Gräueltaten in die Welt getragen wird. Ein „Kulturtransfer wider Willen“, wie Marie-Theres Arnbom es in ihrem Buch nennt.

Oben v.l.n.r.: Hugo Wiener (1904 Wien – 1993 Wien), Jara Beneš (1897 Prag – 1949 Wien), Kurt Herbert Adler (1905 Wien – 1988 San Francisco), Alexander Kowalewski (1889 Łódź – 1948 Wien); unten v.l.n.r.: Hulda Gerin (1917 Wien – 1988 Klosterneuburg), Fritz Löhner-Beda (1883 Wildenschwert/Böhmen – 1942 KZ Auschwitz), Kurt Hesky (1904 Lundenburg/Mähren – 1961 Rio de Janeiro), Victor Flemming (1886 Wien – 1944 KZ Auschwitz) (Fotos Archiv Volksoper Wien, Österreichisches Theatermuseum)

„Was würdest Du tun?“, so die zentrale Frage von „Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938“. Eine Frage, die uns alle etwas angeht. Für „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ mündet der aufziehende Genozid im programmierten Bühnenchaos. Fast das gesamte Regieteam wird von einem Tag auf den anderen entlassen, Regisseur Kurt Hesky zum Weiterarbeiten gezwungen – er flüchtet sich in den Alkohol. Solistinnen und Solisten verlieren ihre Rollen, andere sind sofort bereit einzuspringen. Solidarität der „arischen“ Kolleginnen und Kollegen? Jeder ist sich selbst am nächsten. Besonders berührt eine fiktive Figur, die Theu Boermans ins Geschehen integriert: der Souffleur Ossip Rosental (­Andreas Patton), ein sensibler, introvertierter Feingeist, der irgendwann sogar seine Kippa gegen eine Hakenkreuzfahne eintauschen muss, um auf dem Nachhauseweg durch die Stadt nicht sein Leben zu riskieren. Er erhängt sich. Und die Volksoper? Propagiert ihre „bereinigte“ Premiere als „heiteren deutschen Theaterabend“. Der von Volksschauspieler Gerhard Ernst als melancholischer Kommentator angelegte Bühnenmeister bringt es auf den Punkt: „Wos soi ma do song? Sperr ma zua …“

Die fiktiven Rollen des Bühnenmeisters (Gerhard Ernst) und des jüdischen Souffleurs Ossip Rosental (Andreas Patton) (Foto Barbara Pálffy/Volksoper Wien)

„Denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Wie bringt man den Albtraum 1938 und die Traumwelt der Revueoperette (beide aufwändig und historiengetreu ausgestattet durch Jorine van Beek) auf einen gemeinsamen musikalischen Nenner? Keren Kagarlitsky, die aus Israel stammende Hausdirigentin der Volksoper, war für die Rekonstruktion der Partitur von „Gruß und Kuss“ verantwortlich – nach langwierigen Recherchen konnte in einer Münchner Bibliothek nur noch ein Klavierauszug mit der „arisierten“ neuen Textfassung und einigen wenigen Hinweisen zur Soloinstrumentierung ausfindig gemacht werden. Was da erstmals seit 85 Jahren wieder am ­Währinger Gürtel erklingt, hat durchaus Ohrwurmcharakter, kleine komödiantische Perlen und einiges an Schwung zu bieten – „catchy und kitschy“, wie Kagarlitsky es nennt. Diesen heilen Schein kontrastiert sie mit „entarteter“ Musik von Arnold Schönberg, Viktor ­Ullmann und Gustav Mahler. Musikalische Brücken hat Kagarlitsky selbst noch während der Proben komponiert, unter dem unmittelbaren Eindruck des Angriffs der Hamas auf ihr Heimatland am 7. Oktober 2023. Militärische Blechrhythmen nisten sich da in Beneš’ streicherselige Operettenkulisse ein, ein hebräisches Gebet für den Frieden wird zitiert und über all dem schwebt die unendliche Trauer in Fritz Löhner-Bedas im Herbst 1938 im KZ entstandenen „Buchenwaldlied“:

„O Buchenwald, wir jammern nicht und klagen,
und was auch unser Schicksal sei,
wir wollen trotzdem ja zum Leben sagen,
denn einmal kommt der Tag: dann sind wir frei!“

Oft genug wird die soziale Sprengkraft von Theater beschworen – oft genug ist ein Vorstellungsbesuch in Rekordzeit wieder vergessen. Nicht diesmal. „Lass uns die Welt ­vergessen – Volksoper 1938“ lässt einen nicht mehr los, die Beklemmung hält noch Tage, noch Wochen später an. „Bis die Vergangenheit mich einholt und es verbietet, spiele ich die Zukunft!“ Welche Zukunft verhandeln wir? Haben wir wirklich aus der Vergangenheit gelernt? Was setzen wir gerade jetzt wieder aufs Spiel? Von der süßlichen Idylle von Gasthaus, Ritterschloss und Dampferfahrt bleibt nicht viel übrig, wenn Zeilen wie „Das Schönste ist der Wassersport“ mit Original-Filmdokumenten von Europa den Rücken kehrenden, überfüllten Flüchtlingsbooten bis zur Grenze des Erträglichen pervertiert werden. Das Lachen bleibt einem im Halse stecken, und vielleicht liegt genau hierin die Crux des vielzitierten Operetteneskapismus: „Lass uns die Welt vergessen“ – aber auch die Mitmenschen, mit der wir auf ihr leben? Am Ende sitzt Librettist Hugo Wiener in seinem Zufluchtsort Bogotá an einem verstimmten Klavier und singt „Im Prater blüh’n wieder die Bäume“.

STÜCK

Buch von Theu Boermans unter Verwendung von Text und Musik aus „Gruß und Kuss aus der ­Wachau“ (1938), Operette von Jara Beneš, Hugo Wiener, Kurt Breuer und Fritz Löhner-Beda
Mit zusätzlicher Musik von Arnold Schönberg, ­Viktor Ullmann und Gustav Mahler sowie neu ­komponierter Musik von Keren Kagarlitsky

Musikalische Leitung Keren Kagarlitsky
Inszenierung Theu Boermans
Choreografie Florian Hurler
Bühnenbild Bernhard Hammer
Kostüme Jorine van Beek
Licht Alex Brok
Video Arjen Klerkx
Sounddesign Martin Lukesch
Dramaturgie Peter te Nuyl
Historische Beratung Marie-Theres Arnbom

Alexander Kowalewski, Intendant Marco Di Sapia
Ossip Rosental, Souffleur Andreas Patton
Hugo Wiener, Autor Florian Carove
Fritz Löhner-Beda, Librettist Carsten Süss
Kurt Herbert Adler, Dirigent Lukas Watzl
Kurt Hesky, Regisseur Jakob Semotan
Leo Asch, Bühne und Kostüm Szymon Komasa
Bühnenmeister Gerhard Ernst
Hulda Gerin (Miss Violet) Johanna Arrouas
Viktor Flemming (Graf Uli von Kürenberg) Ben Connor
Fritz Imhoff (Püringer) Karl-Michael Ebner
Trudl Möllnitz (Franzi) Theresa Dax
Olga Zelenka (Resi) Sofia Vinnik
Kathy Treumann (Anni) Julia Koci
Walter Schödel (Werkmeister) Nicolaus Hagg
Frida Hechy (Witwe Aloisia Bründl) Ulrike Steinsky
Emil Kraus (Otto Binder) Sebastian Reinthaller
Franz Hammer (Pepi Marisch, Briefträger) Johannes Deckenbach
Kurt Breuel (Graf Ulrich von Kürenberg) Kurt Schreibmayer
Johanna Kreuzberger (Amalasvintha von Kürenberg) Regula Rosin
Horst Jodl Robert Bartneck
Fritz Köchl Axel Herrig
Hans Frauendienst (Wirt Glöckerl) Thomas Sigwald

Ensemble Kilian Berger, Victoria Demuth, Oliver Floris, ­Michael Konicek, Benjamin Oeser, James Park, Marina ­Petkov, Jennifer Pöll, Philip Ranson, Rebecca Soumagné, Anja Štruc, Anetta Szabo

Orchester der Volksoper Wien

Weitere Termine 3. April 2024, Wiederaufnahme im April und Mai 2025 (Infos und Termine auf der Website der Volksoper Wien)

Dieser Artikel ist eine Leseprobe aus unserer Ausgabe März/April 2024

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