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Rezensionen

Nuancenreiches Welttheater

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
Strawinskys „Geschichte vom Soldaten“ mit faszinierender Sprechkünstlerin

Ja, es ist schon toll, wenn über einhundert Mann Wagners „Walkürenritt“ oder den „Trauermarsch“ hinfetzen. Doch dann gibt es die eine Künstlerin auf der weiten, leeren Bühne des Münchner Nationaltheaters, die die ganze Welt erstehen lässt. Der Rezensent hob am Ende sein Glas und verneigte sich vor dem Bildschirm …

Igor Strawinskys genreübergreifendes Mini-Opus für sieben Instrumentalisten, einen Dirigenten, drei Darsteller und einen Vorleser sollte im Herbst 1918 die Theaternöte irgendwie überbrücken. Denn auch in der neutralen Schweiz herrschte Mangel allenthalben. In Anlehnung an ein russisches Märchen schuf Librettist Charles Ramuz ein Gleichnis: Ein armer Soldat hat Urlaub; der Teufel bittet um drei Tage Geigenunterricht im Tausch für ein Reichtum bringendes Buch; durch teuflische Täuschung werden daraus drei Jahre; niemand im Dorf erkennt den Soldaten und seine Liebste ist längst verheiratete Mutter; enttäuscht nutzt der Soldat den Buchzauber und wird ein reicher Mann – nur ohne Liebe; doch als er dem betrunken gemachten Teufel die Geige abgewinnt und mit deren Klängen die kranke Prinzessin heilt, scheint sein Glück vollkommen; nur will die Prinzessin seine Heimat kennenlernen, in die er nicht zurückkehren darf; als er es ihr zuliebe doch tut, holt ihn der Teufel. „Man soll zu dem, was man besitzt, begehren nicht, was früher war. Man kann zugleich nicht der sein, der man ist und der man war. Man kann nicht alles haben. Was war, kehrt nicht zurück.“

Was moralinsauer daherkommen könnte, wurde zum stupenden kleinen Welttheater von heute. Zwar blieb die Schwarz-Weiß-Filmfahrt durch die Leopold-Ludwigstraße des ungenannt bleibenden Szenikers im Theaterrund völlig verzichtbar. Zwar blieben Norbert Grafs kleine Tanzeinlagen ebenfalls belangloses Beiwerk. Doch da stand der kommende Generalmusikdirektor Vladimir Jurowski in lockerem Abstand zu seinen sieben Instrumentalsolisten. In klarer Zeichengebung, die Akzente setzte oder mit erhobenem Arm eine hohe Klarinettenlinie beschwor, erklangen Strawinskys kleine Genieblitze lange vor aller Moderne der 1920er Jahre: geradezu melodiöse Marschrhythmen, kontrastreiche Streitmusik, ein kleines Jubelkonzert beim Wiedergewinn der Geige – stellvertretend für seine exzellenten Kollegen muss Violinist Davis Schultheiß genannt werden, der mal hölzern kratzig, mal dramatisch zupackend, mal süß schwelgerisch die handlungstragend wechselnde Macht der Musik erklingen ließ. Da stellte sich lange vor Brechts bemühtem Theoriebau so etwas wie „epische Musik, die Distanz und Nachdenken beschwört“ als Assoziation ein. Zurecht signalisierte Jurowski schon am Ende des ersten Teils mit gezieltem Augenschließen seine Zustimmung – ansonsten genügte durchweg ein kurzer Blick hinüber an das einzelne Mikrofon.

Da stand auch nur eine Person: Multitalent Dagmar Manzel ließ sich aus Berlin an die Isar locken – und beschwor: ausmalenden Erzähler, naiv-schlichten Soldaten, lockenden Teufel, brüllenden Marktschreier, alten König, trunken lallenden Teufel, liebevolle Prinzessin und vermeintlich souveränen reichen Mann, final tobenden Teufel … und zahllose weitere Nuancen als fesselnde Klangdramatik – ohne jegliches Getue, nur mit der Wandelbarkeit ihrer Stimme. Binnen Momenten entspann sich für fast eine Stunde eine ganze Lebenswelt, ohne Szene oder Kostüm, nur aus dem tönend geformten und gefärbten Wort. So muss das bei den großen Mimen und den lange Zeit dominierenden Erzählern von Epen bis hin zur Jahrmarkt-Moritat gewesen sein: Beschwörung durch situativen Klang und aufgeladene Betonung – und Welt und Mensch sind imaginativ sichtbar. Strawinskys kleines Opus weitete sich zur Parabel, die auch auf uns zeigt. Das ließ die Zweidimensionalität des Bildschirms vergessen. Hatten sich schon in der Minipause zwischen den zwei Werkteilen Manzel und Jurowski mit einem Glas zugeprostet, blieb am Ende nur das eigene Aufstehen, das Glas heben und tief beeindruckt danken: für ein singuläres Kabinettstück, einen „Kunst-Brillanten“, der lange weiterstrahlt … und dann zurück in unsere Welt: eine Aufzeichnung auf DVD verdient!

Wolf-Dieter Peter

„L’histoire du soldat“ („Die Geschichte vom Soldaten“) (1918) // Igor Strawinsky

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 17. Februar 2021 für 30 Tage auf Staatsoper.TV abrufbar, ein 24-Stunden-Ticket kostet 4,90 Euro.

Heillos Inkonsequentes gegen Romantik

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

München / Bayerische Staatsoper (Februar 2021)
„Freischütz“-Neuproduktion überzeugt nur musikalisch

Ein besonderer Abschied wäre möglich gewesen: In der 1990 gescheiterten „Freischütz“-Neuinszenierung donnerte im Nationaltheater der damalige Schauspieler Klaus Bachler die tödlichen „Freikugel“-Bedingungen Samiels ins Theaterrund. Jetzt hätte der gerne als Erzähler oder Vorleser auftretende Intendant Nikolaus Bachler in seiner letzten Saison nochmals … doch der von ihm engagierte Regisseur sah alles anders.

Der weiße Schimmel „Regietheater“ führt in seinen besten Auftritten bestürzende, faszinierende und horizontbereichernde Werksichten vor. Dafür stand Dmitri Tcherniakov lange Zeit. Als Künstler im 21. Jahrhundert lehnt er überirdische „Freischütz“-Gegebenheiten wie Gottesglaube und Eremiten, Teufelspakte und Samiel ab. Er siedelt die Handlung um Probeschuss, treffsichere Kugeln und allerlei Spuk-Brimborium im Hier und Heute an. Und muss also viel „in die Moderne übersetzen“: neue Texte für die dann stummen Figuren über der Bühne.

Als sein eigener Bühnenbildner hat er als Einheitsbild den hochgelegenen Veranstaltungssaal eines schicken Hotels gewählt. Dessen hintere Holzlamellenwand lässt durch Drehen der Segmente in einen weiteren Saal blicken, dahinter Hochhausfassaden. Im vorderen Saal feiert ein Oligarch oder Boss (imposant mit dicker Havanna Bálint Szabó) mit einer Business-Society ohne Masken und Abstand (tapfer klangschön der Staatsopernchor; Einstudierung: Stellario Fagone), bedient von Hotelpersonal mit Maske; man säuft Bier aus der Flasche. Der Probeschuss besteht darin, aus dem Hotelfenster wahllos einen Passanten abzuknallen. Dafür kommt Tcherniakovs zweite Neuheit abermals zum Einsatz: Auf der schwarzen Leinwand oberhalb blicken wir mit Max durchs Zielfernrohr und sehen dann bei Kilians Schuss das Gehirn des Getroffenen spritzen – erst nachher wird vorgeführt, dass das ein Fake-Filmchen war. Damit wir auch verstehen, dass Max ein Weichei ist, läuft er in einer ärmlichen Strickjacke herum, Typ Oberbuchhalter. Diesen panischen Normalo schleift Kaspar, ein wohl traumatisierter Kriegsheld, später in den abgedunkelten Saal als „Wolfsschlucht“ in einem Plastiksack herein. In einer Ölsardinendose mixt er diese speziellen Kugeln und ballert damit lustvoll herum. Da fehlt jegliche Horror-Atmosphäre. Einzig beeindruckende Regie-Idee für Kaspar, die der kernig-böse Bariton Kyle Ketelsen auch bewundernswert umsetzt: Aus seinem Trauma heraus antwortet er als „Samiel“ mit gepresst abgedunkeltem Bass sich selbst und beschwört sein Ende.

Der ansonsten dominierenden szenischen Enttäuschung entsprechend zieht sich aber Agathe in eben diesem Saal – und nicht in einer Luxussuite – zur Hochzeit um. Woher Ottokar kommt, bleibt unklar, erst recht der Auftritt des Eremiten. Dafür spielt all das in halbhellem Nachtblau – also wohl nur in Max’ neuem Trauma …? Doch da war schon klar, dass Tcherniakovs Werksicht in sich völlig inkonsequent und verkorkst modernisiert war. Da retteten auch die auf die Filmleinwand projizierten neuen Zwischentexte nichts.

Trost für die pausenlos gestreamte Aufführung kam aus dem auf Abstand sitzenden Staatsorchester unter Antonello Manacorda. Die auf gute Übertragungsqualität zielende Aussteuerung ließ die Besonderheiten der Orchesterfassung von Eberhard Kloke nicht so recht erkennen. Doch Manacorda vermied alle spätromantische Aufladung der Emotionen, sondern bezog den Gesamtklang auf die damals lebenden Beethoven und Schubert: schlank, klar, straff, melodieselig wo angebracht. Darin folgte ihm ein exzellentes Solistenensemble: neben dem fiesen Kaspar von Ketelsen der tenoral fast zu gesund strahlende Max von Pavel Černoch; aus Ännchen hatte Tcherniakov eine zweite Tilda Swinton geformt, die auch noch eine lesbische Beziehung zu Agathe andeuten musste – aber Anna Prohaska sang das einfach strahlend weg. Sie alle überragte Golda Schultz: Ihre Agathe klang nach Sopran-Sonnenschein-Gold, dabei weich, mühelos geformt und herzenswarm – eine Verneigung wert. Ansonsten: Auf Nimmerwiedersehen!

Wolf-Dieter Peter

„Der Freischütz“ (1821) // Romantische Oper von Carl Maria von Weber

Die Inszenierung ist als Video-on-Demand ab 15. Februar 2021 für 30 Tage kostenfrei auf Staatsoper.TV abrufbar.

Leichtsinn mit Folgen

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Hamburg / Staatsoper Hamburg (Januar 2021)
Massenets „Manon“ mit Elsa Dreisig im Stream

Heute ist die Versuchung wohl, „Influencerin“ oder „Model“ zu werden und dazu Bernsteins „Glitter and be gay“ zu singen … Diesem schwelgerisch-bösen Mädchentraum setzte Abbé Prévost schon 1731 ein Roman-Denkmal. Den damaligen Bucherfolg hat dann über 100 Jahre später François Auber als Oper gestaltet. Doch erst Jules Massenets Vertonung von 1884 wurde zu einem Erfolg, den Giacomo Puccini wenige Jahre später noch übertrumpfte.

Massenets Manon verlangt keinen üppigen und am Ende fast hochdramatischen, auf alle Fälle hochexpressiven Sopran, sondern „Lyrismus pur“. Dafür ist Elsa Dreisig in der Hamburger Einstudierung eine Idealbesetzung: noch ein Hauch von Kindfrau, dazu viel ungeformte Lebenserwartung, die prompt mal auf diesen und mal auf jenen Weg gelockt werden kann. Das haben Regisseur und Dirigent erfreulicherweise erkannt und weitgehend interpretatorisch umgesetzt.

Regisseur David Bösch nutzt die Corona-Vorgaben und zeigt Menschen oft auf Distanz mit der Sehnsucht nach Nähe. Es sind Menschen in einem zeitlosen Jetzt und Hier und Heute. So genügen ein paar Stühle und Tische auf sonst leerer Bühne für die Erstbegegnung im Wirtshaus, dann für das sehr schlichte Liebesnest in Paris. Kontrastreich fulminant ist Bühnenbildner Patrick Bannwart und Kostümbildner Falko Herold Manons „Erfolg“ in der Welt des „Glitter and be gay“ gelungen: als Shootingstar im Showgeschäft, alles unter der Leuchtschrift „C’est la vie“, alles glamouröse Oberfläche – dahinter die Glücksuche an einarmigen Banditen, wo sich die nicht so glücklichen, daher sich sexy anbietenden „Freundinnen“ Poussette, Javotte und Rosette tummeln. Dass die dann doch zu zarte Manon noch einmal das Glück bei Des Grieux sucht, ihn aus seiner religiösen Zuflucht herauslockt: All das überzeugt szenisch wie musikdramatisch. Nach dem kurzen Glückspiel-Irrglauben lässt Bösch dann alles in einer leeren Öde enden, wo Massenet Manon im Gefangenentransport nach Le Havre an Erschöpfung sterben lässt. Doch Bösch muss da ärgerlicherweise wieder seine „eigene Sicht“ zeigen: Manon kommt wie am Anfang mit ihrem kleinen Rucksack und trinkt Gift, noch dazu aus einem Fläschchen, das eher aus dem 19. Jahrhundert stammt – Massenet ver-schlimm-bessert! Interpretationsgewinn: null!

Dafür entschädigt Dirigent Sébastien Rouland mit dem Philharmonischen Staatsorchester Hamburg und idiomatischem Gespür: eben keinen Puccini aus dem Werk zu machen, sondern die schnellen Umbrüche in der „easy“-Stimmung, den vermeintlich „leichten“ Tonfall junger Menschen im Umgang mit ihrem „leichten“ Leben Klang werden zu lassen.

All das lässt auch Elsa Dreisig ihren musikalischen Feinsinn in Ton wie Körpersprache entfalten und macht Bösch letztlich zweitrangig. Ihr Sopran verströmt mädchenhaft scheue Süße – und blüht dann kurz auf zur großen Emotion. Ihre strahlenden Augen verwandeln sich mehrfach zu innerem Glanz, es singt aus ihr – um dann getreu der raffiniert feinen Komposition Manons Schwäche und die Stimmungsumschwünge vokal zu gestalten bis in die melodramatischen Phrasen hinein. Eine bildhübsche junge Frau, durchs Leben gewirbelt von vokaldramatischen Windstößen der Banalität, Berechnung und Gemeinheit – gut verkörpert und gesungen durch Björn Bürgers Lescaut, Daniel Kluges Guillot-Morfontaine und die anderen Männer. Zu ihnen kontrastiert der feingliedrige Des Grieux von Ioan Hotea, ein schlanker Tenor mit dem nötigen „lyrisme française“, dem Ernst und der Schwäche vor diesen divergierenden Anforderungen des Lebens. Dreisig und Hotea bilden ein anrührend fesselndes Paar des Scheiterns. Ein musikdramatisches Plädoyer für Massenet!

Wolf-Dieter Peter

„Manon“ (1884) // Opéra comique von Jules Massenet

Die Inszenierung ist als Stream ab 12. Februar 2021 für einen Monat kostenfrei auf der Plattform OperaVision abrufbar.

Spanien macht’s möglich

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Barcelona / Gran Teatre del Liceu (Januar 2021)
Opern-Romantik im Lockdown mit „Les contes d’Hoffmann“

Man mag es kaum glauben! In einer Zeit, in der in klassischen Opernländern wie Deutschland und Österreich die Politik sich beharrlich weigert, die systemische Bedeutung der Kultur für die Gesellschaft anzuerkennen und die Theater-, Konzert- und Opernhäuser zumindest für einen Teil des Publikums zugänglich zu machen, ist das in Spanien und Bulgarien, also an den extremen Rändern der so viel beschworenen „Alten Welt“, derzeit Normalität. In Spanien sind die Häuser nach professionellen Hygiene-Analysen zur Erkennung möglicher Covid-19-Gefahren zum Schluss gelangt, dass man mit einem signifikanten Zuschaueranteil spielen kann. Und in Barcelona wird das Angebot mit einem nahezu Erreichen der genehmigten 50-Prozent-Auslastung gut angenommen, bei Preisen von bis zu 290 Euro im Parkett.

So erlebte am Gran Teatre del Liceu nun Jacques Offenbachs „Les contes d’Hoffmann“ in der Regie von Laurent Pelly eine Neuinszenierung, in Koproduktion mit der Opéra national de Lyon und der San Francisco Opera. Pelly erzählt die Geschichte sehr intensiv aus den Augen und den Emotionen Hoffmanns heraus, was ihm mit einer blendenden Personenregie für alle Figuren, selbst die kleinste Nebenrolle, eindrucksvoll gelingt. Das Stück führt so ein starkes Innenleben. Immer geht es um die Tragik Hoffmanns, seine oft überschwängliche Freude und schnell folgende Enttäuschungen. Chantal Thomas baute dazu ein zwischen Realismus und Abstraktion changierendes Bühnenbild, das situationsgemäß einmal überholte Industrietechnik zeigt (Olympia-Akt), dann wieder großbürgerliche Romantik mit einem hochherrschaftlichen Treppenhaus (Antonia-Akt) und dem eleganten Salon einer Edel-Kurtisane (Giulietta-Akt), allerdings ohne Venedig-Aperçu. Die Welt von Lindorf, Coppélius, Doctor Miracle und Dapertutto spielt in diese Szenerie mit surrealen Momenten hinein, was das Ganze noch spannender macht (Videos: Charles Carcopino). Die großflächigen und stets in diskret depressiven Pastelltönen gehaltenen Bühnenwände erinnern an die Minimalkunst des russischen Avantgarde-Künstlers Kazimir S. Malévich (1879-1935). Es passte aber alles, auch aufgrund der Lichtregie von Joël Adam, in großer dramaturgischer Homogenität zusammen und wirkte stets sehr geschmackvoll. Dazu trugen auch die aus der Zeit des Stücks stammenden Kostüme vom Regisseur in Zusammenarbeit mit Jean-Jacques Delmotte bei.

Man konnte an beiden Abenden zum Teil alternierender Besetzungen alle wunderschönen „Hoffmann“-Melodien auf das Feinste hören. Riccardo Frizza dirigierte das Symphonische Orchester des Gran Teatre del Liceu in stets enger Harmonie mit dem Geschehen, sodass sowohl die dramatischen Höhepunkte als auch die ruhigen und besinnlichen Momente sehr gut gelangen. John Osborn war ein beeindruckender (Premieren-)Hoffmann mit stabiler Mittellage und kräftiger Höhe sowie packender Darstellung. Arturo Chacón-Cruz kam vokal nicht an diese Leistung heran, war aber schauspielerisch sehr gut. Olga Pudova war eine erstklassige Olympia mit bestechenden Höhen, Ermonela Jaho eine gute und sehr musikalische Antonia, und sowohl Nino Surguladze wie Ginger Costa-Jackson stimmlich ansprechende und laszive Giuliettas. Roberto Tagliavini konnte als Bösewicht aufgrund seines wärmeren Timbres besser gefallen als Alexander Vinogradov. Marina Viotti war eine erstklassige und engagierte Muse mit farbigem Mezzo. Der hervorragende Chor des Gran Teatre del Liceu wurde von Conxita Garcia einstudiert.

Klaus Billand

„Les contes d’Hoffmann“ („Hoffmanns Erzählungen“) (1881) // Opéra fantastique von Jacques Offenbach

Liebestaumel kalt gestoppt

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2020)
„Falstaff“-Neuproduktion feiert im Stream Premiere

München / Bayerische Staatsoper (Dezember 2020)
„Falstaff“-Neuproduktion feiert im Stream Premiere

Endlich einmal neo-feudale Verhältnisse: vor sich nicht werkgerechten Xeres, sondern eine gute Flasche spanischen Wein; ein Teller mit vielerlei Häppchen; legere Kleidung; ein Stuhl mit Armlehnen und entspannendem Kippeffekt – und zu alldem Verdis „Falstaff“ schön laut und oft visuell ganz nah gerückt… so war der heruntergekommene „Ritter von Einst“ feucht-frugal am mittelgroßen Bildschirm und mit gutem Ton aus der Stereoanlage zu erleben.

Erst die geplante Festspielpremiere im Sommer, dann die Verschiebung auf die zweite Spielzeiteinstudierung im November – alles durch den rigorosen Kultur-Lockdown unmöglich. Jetzt also „Staatsoper.TV“. Das gestochen scharfe Bild zeigte Dirigent Michele Mariotti, der mit Maske ans Pult des hochgefahrenen, weit auseinander sitzenden Staatsorchesters kam. Dezentes Begrüßungsgetrampel, dann Maske ab und los fegte der Protest des nicht mehr verkaterten Dr. Cajus – im edel holzgetäfelten Säulengang eines Casinos, benachbart etwa zum „Caesars Palace“ in Las Vegas. In diese Welt hat die slowenische Schauspielregisseurin Mateja Koležnik die ganze Handlung verlegt. Bühnenbildner Raimund Orfeo Voigt baute hinter dem Säulengang eine wechselnde Anzahl von bühnenhohen Türen, die Blicke in Räume mit Spieltischen samt Gewinnern und Verlierern, betrunken, spielsüchtig oder auch verzweifelt gewähren. Sexy Bunnys mit Bauchläden trippeln umher; Alice Ford, Tochter Nannetta und Meg Page sind aus „Dallas“ oder „Denver“ eingeflogen. Hinter den Türen ihrer Suiten stehen mal 200 Paar Schuhe à la Diktatorengattin Marcos oder auch ein Riesenfach mit Klopapier (Ah! die Staatsoper hat den Engpass verursacht!) und natürlich Stangen voller edler Kleider – alles im Synthetic-Look vergangener Jahre, grelle Farben und Muster, aber chic (Kostüme: Ana Savič-Gecan). Dass diese Ladies Falstaff in ihren Liebesbriefchen jeweils einen roten und einen blauen Slip schicken, an denen Falstaff herumschnuppert – naja …!? Großbürger Ford (kantig: Boris Pinkhasovich) ist in dieser Welt eher ein Finanzdirektor mit Mafia-Aura und Pelzmantel, seltsamerweise mit dem ja eigentlich verhassten Fenton (lyrisch gut: Galeano Salas) als Sekretär samt Aktentasche. Säulen, Türen und befremdlicherweise ein hoch oben gelegenes enges Fach bieten dem Liebespaar Nannetta-Fenton allerlei „bocca bacciata“-Möglichkeiten.

Hier wurstelt sich der einstige „Gentleman“ Falstaff mit seinen zwei heruntergekommenen Kumpanen so durch: erst Ranschmeißen und dann Ausnehmen von Vergnügungssüchtigen. War Wolfgang Koch bislang ein Wotan, Barak oder Hans Sachs im Schlurf- und Schmuddel-Look, so präsentiert er sich jetzt vom Schlafanzug über Morgenmantel, vom Schnürbauch bis zum Ausgehanzug im Designer-Look und locker gewellter Frisur – mehr als in anderen Inszenierungen eigentlich ein baritonal runder Partner für die quicklebendige Mrs. Quickly von Judit Kutasi und ihren schön dunklen Ranschmeiß-Tönen. Die Alice von Ailyn Pérez bietet dafür blühende Sopran-Schwelgereien. Für Tochter Nannetta beschwört Elena Tsallagova in glitzernder Korsage mit Silbersopran wirklichen Elfenzauber im Schlussbild. Dafür fahren alle Türen weg, die Säulen stehen für den Wald und als Elfen tänzeln die eingeladenen Girls aus den „Folies Bergère“ (oder sind es die modernisierten „Ziegfeld Girls“ aus den 1920ern?) mit weißen Federflügeln herein, ehe schwarze Gangster den anfangs gehörnten, dann in schwarzer Unterwäsche und Strapsen liebesorientierten Falstaff piesacken.

Dirigent Michele Mariotti hatte das verkleinert wirkende Staatsorchester zu schlankem, hellem und temporeichem Spiel animiert – was die Tontechnik sehr gut durchhörbar aufnahm. Das Evisco-Bild-Team um TV-Regisseur Christoph Engel fing das alles gut ein, präsentierte in der Pause Fahrten über die vergoldeten Rang-Brüstungen und zeigte dann den abschließenden Knalleffekt in Mateja Koležniks Inszenierung: Blackout im Wald, dann die nacheinander in der Schlussfuge einsetzenden, ungeschminkten, unkostümierten Solisten im Schwarz-Weiß-Bild einer heutigen Videokonferenz auf einer erhöhten Leinwand, dazu mal eine Totale des Orchesters aus einer Schlussprobe – alles auch mit dem aufgezeichneten Ton aus der Probe. And auf die Bühne kam der stumme Chor mit Maske, dazu dann auch die Solisten mit Maske, Verdi-Boitos „Alles auf Erden ist Torheit, wir Menschen sind die geborenen Narren“ vom Band und die 2.100 leeren Plätze im Bild – eine kalte Dusche für alles Liebesspiel und alle Sinne. Oper im Stil der Corona-Kulturbürokratie – auch eine Ohrfeige …

Wolf-Dieter Peter

„Falstaff“ (1893) // Giuseppe Verdi

Il Valenziano

Valencia / Palau de les Arts (November 2020)
Einstiger Star der Barockszene will mit „Il tutore burlato“ wiederentdeckt werden

Valencia / Palau de les Arts (November 2020)
Einstiger Star der Barockszene will mit „Il tutore burlato“ wiederentdeckt werden

Vicente Martín i Soler ist ein Sohn Valencias. Dank seiner Erfolge in Europa nannte man ihn bald Il Valenziano, doch lediglich der Name des kleinen Theatersaals innerhalb des famosen Opernkomplexes Calatravas erinnert noch an ihn. „Il tutore burlato“ („Der verspottete Vormund“) ist seine einzige in Spanien komponierte Oper. Wenn man völlig unvorbereitet die ersten Takte hört, denkt man: „Mozart – den kennen und erkennen wir sofort!“ Und doch ist es jemand anderes, uns völlig unbekannt, der im gleichen italienischen Stil und mit großem Talent ausgestattet seinen Weg begann, bis er laut Da Ponte, mit dem er drei Opern schrieb, zum Autor der „süßen Melodien wurde, die die Seele erreichen, die aber nur wenige nachzuahmen wissen“ und sogar den Freund und Konkurrenten Mozart in Wien an Beliebtheit übertraf. Il Valenziano war nicht nur dort ein Superstar, er arbeitete an fast allen wichtigen Häusern in Europa und starb 1806 in Sankt Petersburg. Er hinterließ ein riesiges Werk.

Filippo Livignis Libretto zu diesem „Dramma giocoso“ basiert auf der literarischen Vorlage von Carlo Goldonis „La finta semplice“. Die Story handelt von geltenden Konventionen, aus denen sich Frauen zu befreien beginnen. Der Kavalier Lelio möchte die schöne Violante heiraten und wendet sich an seinen Freund Fabrizio. Der ist Vormund der jungen Frau und beansprucht sie für sich, um ihr Vermögen zu behalten. Violante weist alle Bewerber ab. So auch den Schäfer Pippo, bis sich herausstellt, dass sie beide aus dem Dorf Frascati stammen. Fabrizio lässt sich ob des neuen Rivalen einige Intrigen einfallen und sperrt Violante in ein abgelegenes Haus. Doch seine Tochter Menica hilft dem Paar per Rollentausch und bereitet so den Weg zum Happy End.

Die Inszenierung von Jaume Policarpo ist spritzig-frisch, ebenso die farbenfrohen Kostüme von José María Adame. Dazu passt ein frecher Carlos Sanchis, der schon mal von seinem Flügel aufspringt, um kurz die Szene aufzumischen, ansonsten die Rezitative mit den Sängern wie kleine Juwele zum Leuchten bringt. Die jungen Sänger überzeugen mit ihren Stimmen, großer Spielfreude und Flexibilität, denn sie müssen die eigene Marionette choreographisch in ihr Spiel einbeziehen – allen voran Aida Gimeno als Violante. Ihr lyrischer Sopran mit feinem pianissimo und ihre Bühnenpräsenz empfehlen sie für höhere Aufgaben. Oleh Lebedyev (Fabrizio) und David Ferri Durá als Il Cavaliere machen ihre Sache in den undankbaren Rollen ordentlich. Omar Lara als Pippo punktet mit ausdrucksstarkem Bariton und Ezgi Alhuda als Menica mit frischem Kanarien-Mezzo. Sie legt auch einen tollen Flamenco auf die Bühne, wenn die Musik zum Triumph der Liebe diesen Rhythmus anklingen lässt.

Das kleine Orchester spielt unter Cristobal Soler makellos und klangschön. Die Partitur kommentiert das Geschehen schwungvoll, mit eingängigen Melodien, die Lust auf mehr machen. Wenn das Erstlingswerk Vicente Martín i Solers bereits diese Reife zeigt, wie großartig müssen dann die späteren Opern und Ballettmusiken sein. Man kann nur auf eine Renaissance des Komponisten hoffen.

Reinhard Eschenbach

„Il tutore burlato“ (1775) // Dramma giocoso von Vicente Martín i Soler

Kaleidoskop der Dramatik und totalen Vergeltung

Sofia / Sofia Opera (November 2020)
Zum ersten Mal „Elektra“ in Bulgarien

Sofia / Sofia Opera (November 2020)
Zum ersten Mal „Elektra“ in Bulgarien

Aus Sofia ist in diesen trüben Tagen eine kleine Sensation zu vermelden: Hier erlebte die „Elektra“ von Richard Strauss an der Sofia Opera am 26. November ihre bulgarische Erstaufführung. Regisseur Plamen Kartaloff, auch Generaldirektor des Hauses, fährt somit weiterhin eindrucksvoll in tiefem Fahrwasser der Opernliteratur, nachdem er hier schon Richard Wagners „Ring“, „Tristan“ und „Parsifal“ inszeniert hat.

Von Beginn an reißt diese „Elektra“ den Betrachter mit. Es wird sofort offenbar, dass das Geschehen am Atriden-Palast auf einen Höhepunkt zusteuert, zu dem es in ungewöhnlich dynamischer und drastischer Art und Weise auch kommt. Bühnenbildner Sven Jonke schuf einen geometrischen, in der Höhe schräg zulaufenden schwarz-grauen Atriden-Palast mit semi-transparenten Wänden. Mit einer Drehbühne verwirklicht Kartaloff seine Sicht der „Elektra“ als eine Aneinanderreihung von Episoden im Sinne eines Kaleidoskops. In Verbindung mit der „vulkanischen Macht und theatralischen Wirkung“ der Musik werden ständig wechselnde Szenen generiert wie in einem Film. Kartaloff spricht sogar von einer „galoppierenden Entwicklung“. Das verlangt eine ausgefeilte Personenregie in den vielen Einzelszenen, die auch zu erleben ist. Für die generell bestens gestalteten Kostüme zeichnet Leo Kulash verantwortlich.

Dabei sehen wir auch eine Reihe neuer und durchaus interessanter Einfälle. Elektra beginnt das Stück am Grab ihres geliebten Vaters, der während des Monologes mit der Königskrone im Hintergrund angedeutet zu sehen ist, und bricht am Ende auch über seinem Grab tot zusammen. Ihr Kreislauf hat sich geschlossen. Zuvor hat sie in einer Assoziation an Agamemnons Mord dem aus dem Bade kommenden Ägisth ein Netz übergeworfen. Dessen Ermordung durch Orest und seinen Pfleger ist im Wegdrehen der Bühne noch ansatzweise zu sehen. Im Finale zerfallen die Wände spektakulär in ihre Einzelteile. Zumindest diese Tyrannei fand ein Ende!

In einem komplett bulgarischen Sängerensemble beeindruckt Lilia Kehayova mit einer großartigen Darstellung der Titelrolle und einem leuchtenden sowie höhensicheren Sopran bei guter Diktion. Tsvetana Bandalovska verkörpert die Chrysothemis intensiv und legt sängerisch hohe Musikalität an den Tag, gerät aber bei den Spitzentönen hörbar unter Druck. Gergana Rusekova erfüllt mit ihrem vollen und schön timbrierten Mezzo alle stimmlichen Erwartungen bei starkem Spiel. Der überaus talentierte Atanas Mladenov singt einen ruhigen Orest mit ausdrucksvollem Bariton und exzellenter Diktion. Die Choreografie von Fredy Franzutti weist den fünf Mägden und der Aufseherin während des gesamten Stücks die Rolle des erklärenden Chores des griechischen Theaters zu. In den Nebenrollen gab es Licht und Schatten. In der ersten Reprise drei Tage später wusste man bei den Protagonisten mit Diana Guglina, Radostina Nikolaeva und Jordanka Milkova mit einer guten Zweitbesetzung aufzuwarten.

Man spielte die reduzierte Orchesterfassung des Komponisten, der US-amerikanische Dirigent Evan-Alexis Christ konnte für die musikalische Einstudierung und die Leitung dieser „Elektra“ gewonnen werden. Er motivierte mit großem Engagement das Orchester der Sofia Opera zu einer außergewöhnlichen Leistung bei recht schnellen Tempi. So motiviert hat der Rezensent die Musiker hier noch nicht spielen gehört. Strauss’ und Hofmannsthals „Elektra“ feierte auf bulgarischem Boden einen packenden Einstand!

Klaus Billand

„Elektra“ (1909) // Richard Strauss

Vom Erwachsenwerden

Dresden / Semperoper Dresden (November 2020)
„Zauberflöten“-Premiere am Vorabend des Lockdowns

Dresden / Semperoper Dresden (November 2020)
„Zauberflöten“-Premiere am Vorabend des Lockdowns

Ein Gefühl von Beklommenheit machte sich schon breit bei der Premiere von Mozarts „Zauberflöte“ in Dresden, am Vorabend des „Lockdown light“. Kameramänner des öffentlichen Fernsehens fragten, ob eine Premiere einen Tag vor dem Lockdown tatsächlich noch sein muss. Ja, denn es muss ja irgendwie „raus“, was die Künstler über Wochen eingeübt haben für ihr Publikum, das Kind muss geboren werden. So sah man es auch in Leipzig, als man kurzfristig die Premiere des „Lohengrin“ vorzog. Wenn schon Winterschlaf, dann wenigstens vorher noch einmal alles geben! Noch wenige Tage zuvor hatte es geheißen, dass man jetzt auf die „Schachbrettbestuhlung“, die bei den Salzburger Festspielen erfolgreich erprobt worden war, umstellen wolle, um mehr Zuschauern den Besuch der Vorstellungen zu ermöglichen. Kurzfristig musste nun in die andere Richtung umdisponiert werden, fast verloren wirkten die verbliebenen Zuschauer. Mozarts Werk musste auf eine Corona-gerechte Fassung von rund zwei Stunden eingekürzt werden. Auf den Pulten der Musiker lag eine lange Liste mit Streichungen und Kürzungen. Das erforderte viel Anpassungsfähigkeit.

Josef E. Köpplinger, Intendant am Münchner Gärtnerplatztheater, bringt mit seiner Inszenierung eine Geschichte vom Erwachsenwerden auf die Bühne. Nachdem „Die Zauberflöte“ in Dresden über Jahre fast in einer Kinder-Inszenierung dargeboten wurde, nun also ein neuer Zugang zu diesem Werk. Der jugendliche Tamino stolpert auf eine zunächst leere Bühne, gerät in die „Wildnis des Lebens“, verstrickt sich, gerät in die Gefahren einer Schlange, der drei Damen der Königin der Nacht und wehrt sich. Vieles spielt sich in seiner Fantasie ab und auf der Bühne ist immer etwas los. Köpplinger gelingt dank seiner Einfälle und einer guten Personenführung trotz Corona-Abständen ein abwechslungsreiches Spektakel, das unterhaltsam und logisch in das Bühnengeschehen eingebaut ist. Auch die Entwicklung der Pamina vom aufmüpfigen Teenager zur Tamino-Gefährtin und des Tamino vom naiven, von der Königin manipulierten Knaben zum Kandidaten der Sarastro-Nachfolge ist schlüssig nachzuvollziehen. Im Finale lässt sich das junge Paar zwar demütig in weißen Kleidern zum Initialisierungsritus auf den Boden nieder, flieht aber dann doch aus der frauenfeindlich starren Männergesellschaft. Welcher junge Mensch möchte ein Leben in so einer Gesellschaft auf Dauer ertragen?

Auf Videosequenzen kann bei Neuinszenierungen in dieser Zeit wohl nicht verzichtet werden, sie ersetzen vielfach aufwendige Hintergrundkulissen. Ob die sich ständig ändernden Bilder von Bäumen und Landschaften in verschiedenen Tages- und Jahreszeiten-Stadien nur aufgrund der gekürzten Fassung so unruhig wirkten, vermag die Rezensentin nicht zu sagen. Weniger wäre hier vielleicht doch mehr gewesen.

Die Semperoper hatte für die Premiere eine gute Mischung aus hauseigenen Kräften, heimischen Stars und Gästen ausgewählt. René Pape wirkt als sonorer und wunderbar warmer Sarastro souverän, Nikola Hillebrand – neu im Dresdner Ensemble – glänzt als technisch sicherer Koloratursopran mit glasklarer Stimme in der Partie der Königin der Nacht. Auch das Liebespaar Papageno (Sebastian Wartig) und Papagena (Katerina von Bennigsen) gefällt mit großer Spielfreude und fröhlichem Ton. Tamino und Pamina sind mit Einspringer Joseph Dennis und Tuuli Takala sehr hörenswert. Souverän auch das Damen-Trio, darunter die weltbekannte Wagner-Sängerin Christa Mayer und Roxana Incontrera, die dem Dresdner Publikum bestens als Königin der Nacht in Erinnerung ist. Ein solides Fundament der Aufführung ist der Staatsopernchor und auch die drei Solisten des Tölzer Knabenchors überzeugen mit hellem Stimmklang, wobei verwundert, warum keine Mitglieder der hiesigen drei Knabenchöre eingesetzt wurden.

Am Pult der gut aufgelegten und auf 30 Mitglieder dezimierten Staatskapelle agiert der musikalische Tausendsassa und erste Gastdirigent der Semperoper Omer Meir Wellber. Er hatte im Vorfeld angekündigt, wie bei den bereits zuvor von ihm geleiteten Da-Ponte-Opern Mozarts auch bei der „Zauberflöte“ dem Orchester und ihm ausreichend Raum für musikalische „Spielereien“ bei den Rezitativen und Zwischenspielen zu geben. Diese Ankündigung fiel den Kürzungen des Abends zum Opfer, hierauf darf sich der Zuschauer für zukünftige ungekürzte Aufführungen jedoch freuen, denn das musikalische Zusammenspiel zwischen Dirigent und Staatskapelle sowie den Sängern war trotz der vielen Kürzungen formidabel. Ein Schatten lag dennoch über diesem Abend, dies brachte das von Chorsängern beim Schlussapplaus auf die Bühne getragene Transparent „Kunst bildet Gesellschaft“ gut zum Ausdruck.

Mareile Flatt-Baier

„Die Zauberflöte“ (1791) // Wolfgang Amadeus Mozart

Flüchtlingsdrama im Containerdorf

Wien / Theater an der Wien (Oktober 2020)
Exzellentes „Porgy and Bess“-Ensemble swingt und jazzt

Wien / Theater an der Wien (Oktober 2020)
Exzellentes „Porgy and Bess“-Ensemble swingt und jazzt

Von der trostlosen Catfish Row im Charleston von 1870 führt uns Regisseur Matthew Wild, vorzüglich getroffen, zum harten Überlebenskampf in 13 heruntergekommenen Kastencontainern, wo die lebendige Gemeinde – Flüchtlinge der Gegenwart – auf der Suche nach dem gelobten Land gestrandet ist und auch noch mit Rassenproblemen, Drogensucht und Selbstjustiz konfrontiert wird. Mit Detailarbeit in der Personenführung, farbenfrohen Kostümen (Bühnenbild: Katrin Lea Tag), erfrischender Natürlichkeit der Protagonisten und vokaler Präsenz kann die intensive Gefühlswelt der farbigen Menschen ohne Schwachpunkte auf die Bühne gebracht werden.

Wayne Marshall interpretiert Gershwins Kraft der Musik nuancenreich und mit sicherem Gespür für die Balance zwischen rhythmischer Energie, lyrischer Schönheit und zarter Romantik. Die menschlichen Gewalttaten und das Naturschauspiel des Sturms werden vom Wiener KammerOrchester, um erfahrene Jazzmusikern erweitert, eindringlich charakterisiert. Alle Protagonisten und der Chor offenbaren ihre Gefühle intensiv und eruptiv, sie drücken ihr hartes Leben und die Gefühle in emotionalen Gesang aus. Besonders stark erlebt man das Gebet für die Fischer am Meer während dem gewaltigen Unwetter, das zugleich als Metapher für den eigenen Überlebenskampf gesehen werden kann.

Clara (Jeanine de Bique) versucht mit fülligem, wunderschön geführtem Sopran ihr Baby mit „Summertime, an’ the livin’ is easy“ zu beruhigen. Ihr Mann Jake, der durchschlagskräftige Ryan Speedo Green mit warmem Bariton, stirbt als Fischer am Meer. Die ausdrucksstarke Mary Elizabeth Williams übertönt beeindruckend das Orchester und trauert als Witwe Serena mit schönen Legato-Bögen und dramatischer Stimme um ihren Mann. Auch bei dem Gebet für die kranke Bess brilliert sie mit glasklarer Höhe, um „Doktor Jesus“ um Hilfe zu bitten. Als sehr agilen, schleimigen Drogenhändler Sportin´Life verführt der ausgezeichnete Zwakele Tshabalala mit hellem Tenor, großartigen Tanzeinlagen und Kokain die verzweifelte Bess zu einem Luxus-Leben in New York. Norman Garrett könnte noch stimmkräftiger und bedrohlicher als brutaler Crown sein, aber seine kraftstrotzende Statur ist durchaus rollendeckend. Tichina Vaughn ist als gelbe Zöpfchen tragende Maria resolut und wehrt sich gegen den Rauschgifthandel im Containerdorf. Einfach phänomenal und berührend agiert das große Liebespaar Pumeza Matshikiza (Bess) und Simon Shibambu als lahmender Porgy. Die Südafrikanerin schafft es hervorragend, die Figur zwischen leichtlebigem Vamp, zerbrechlicher Süchtiger und ehrlicher Liebender anzulegen. Aus ihrer wundervollen Mittellage erstrahlt eine helle, klare Höhe. Ebenfalls aus Südafrika stammend, kann Shibambu mit Knieorthese und Krücke mit prachtvoller, kräftiger und warmer Stimme seine große Liebe für Bess zum Ausdruck bringen. Zuletzt macht er sich mit „Oh Lawd, I’m on my way“ mit Gottes Hilfe auf den Weg zur Geliebten nach New York, und das Publikum wünscht ihm nach drei herrlichen Stunden von Herzen das Beste für diesen mühsamen Weg.

Susanne Lukas

„Porgy and Bess“ (1935) // George Gershwin

Zwischen den Welten

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Oktober 2020)
Gustav Mahler meets Elfriede Jelinek in „Das Lied von der Erde“

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (Oktober 2020)
Gustav Mahler meets Elfriede Jelinek in „Das Lied von der Erde“

Kurz vor der erneuten Schließung unserer Theater konnte man an der Staatsoper Stuttgart eine aus den Zwängen unserer viralen Zeit entstandene Musiktheater-Produktion erleben – ein Zwitterwesen, geboren aus den bereits entstandenen Fragmenten der ursprünglich geplanten Produktion „Frau ohne Schatten“ und einem als Prolog hinzugefügten Textstück: Elfriede Jelineks Science-Fiction-Prosa „Die Bienenkönige“ wurde mit Gustav Mahlers „Lied von der Erde“ gepaart, um einen szenischen Theater-Musik-Abend zu kreieren, dessen inhaltliche Klammer Stillstand, Einsamkeit und Tod sind. Jo Schramms noch im Rohbau befindliches Bühnenbild steht da wie ein futuristisches Gerippe und erinnert in seiner einsamen Trostlosigkeit an ein Kubrick’sches Raumschiff-Filmset. Die Protagonisten befinden sich hier aber unter Tage, denn Jelineks Stück spielt nicht in den Weiten des Alls, sondern tief in den Eingeweiden der Erde. Am Anfang steigt Schauspielerin Katja Bürkle alias „ein Energieexperte“ – vom Planeten Approxima Delta ausgesendet, um das Sterben der Erde zu erforschen – in die Tiefen jener hinab und trifft auf vier Überlebende der Wissenschaftlerkolonie Terrana 2. Auf der Oberfläche hatte die menschliche Zivilisation ihren Lebensraum in Müll und Plastik erstickt und sich wegen des enormen Energiehungers der 35-Milliarden-Bevölkerung durch einen atomaren Supergau ins Aus geschossen. Eine grausame Elite von männlichen Wissenschaftlern – die Bienenkönige – versklavten postapokalyptisch Frauen zu Gebärmaschinen oder Konkubinen, bis das Terrorregime durch Revolution vernichtet wird. Bürkle erzählt eindringlich und ausdrucksstark von den Geschehnissen und misstraut den traurigen Überlebenden, die im Rondell der Bühne kauern: „… diesen Leuten, denen ist alles zuzutrauen“. Spricht’s und tritt ab.

An diesem Punkt erklingt Mahlers Musik – reduziert in der kammermusikalischen Fassung von Arnold Schönberg, von Rainer Riehn 1983 vollendet, mit einer Orchesterbesetzung, die gerade so im Graben des Staatstheaters Platz hat, und den vier Überlebenden des gescheiterten Gesellschaftsexperiments als Interpreten der Lieder. Ziellos und fahrig lässt Regisseur David Hermann die erstklassigen Sängerinnen und Sänger (Evelyn Herlitzius, Simone Schneider, Thomas Blondelle und Martin Gantner) agieren. Zwischen Resten von Zivilisationsmüll wurschteln die „Überlebenskünstler“ in ihren Habseligkeiten herum, legen sich schlafen, erwachen und teilen sich Mahlers Lieder gesanglich auf – wundervoll losgelöst klingende Seelenmusik, die durch Jelineks Geschichte gewissermaßen ein Gesicht bekommt. Cornelius Meister musiziert mit dem Staatsorchester Stuttgart subtil und dennoch ausdruckstark expressiv.

Zum Schluss taucht es wieder auf, das Energiewesen alienesk gekleidet, ein riesiges Etwas in Form eines Sterns schimmert im Bühnengrund. In der Hörspielfassung der „Bienenkönige“ heißt es kurz vor der Revolte: „Die Flamme der Kunst wird noch emporflammen, wenn euer Stern längst im Sinken ist.“ Richtig.

Dany Mayland

„Das Lied von der Erde“ (1911) // Gustav Mahler; Kammerfassung von Arnold Schönberg, vollendet von Rainer Riehn (1983)
„Die Bienenkönige“ (1976) // Elfriede Jelinek