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Rezensionen

4. Februar 2022

Die Welt aus den Fugen

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Januar 2022)
Rued Langgaards „Antikrist“ als bildgewaltiges Gesamtkunstwerk

Berlin / Deutsche Oper Berlin (Januar 2022)
Rued Langgaards „Antikrist“ als bildgewaltiges Gesamtkunstwerk

Wer will schon sagen, ob das nun wirklich eine Oper ist? Ein Drittel davon kommt ohne Worte aus, ist geradezu sinfonisch. Der Text beschränkt sich auf religiös inspirierte Sentenzen. Kein Wunder, dass dieser 1930 fertiggestellte „Antikrist“ nicht in der dänischen Heimat des Komponisten (und Texters) Rued Langgaard (1893-1952), sondern erst 1999 in Innsbruck uraufgeführt wurde.

Wenn Oper aber ein Gesamtkunstwerk ist, das Visualisierung von Musik in szenischer Form und die Erschaffung einer ganz eigenen Kunst-Welt einschließt, dann hat Regisseur und Ausstatter Ersan Mondtag ein beeindruckendes Exemplar der Gattung daraus gemacht. Mit sicherem Instinkt visualisiert er das Musikalische, was die expressionistische Bühne ebenso einschließt wie die Figuren, die organisch daraus hervorzugehen scheinen, oder die eingebauten Ballettsequenzen. Mit dem Choreografen Rob Fordeyn füllt er damit die Orchesterpassagen, die der Sinfoniker Langgaard in sein Bühnenwerk integriert hat.

Das umfasst anderthalb Stunden der Heimsuchung einer kaputten Welt in sechs Bildern nebst Prolog. Für das wütende Strafgericht, das über eine vom Glauben abgefallene Moderne hereinbricht, lässt Gott dem Antikristen eine Weile freie Hand für das Treiben von personifizierten Allegorien. Der Raum dafür ist ein expressiv gemalter, großstädtischer Straßenzug, den Monster aus den Höllen-Albträumen braver Christenmenschen bevölkern. Auch die Nachbildung eines gehängten übergroßen, nackten Menschensohnes mit weiblichem Geschlechtsteil hat man so noch nicht gesehen. Dessen Gesicht trägt die Züge des hier auf der Bühne als Stimme Gottes agierenden Schauspielers Jonas Grundner-Culemann, ein personifiziertes Gegenüber des Antikristen. Am Anfang nackt und blutverschmiert in diese Welt hineingeboren, macht er am Ende wieder als unschuldsnackter, jetzt aufrecht gehender Menschensohn dem Spuk ein Ende. Dazwischen treiben sie alle ihr Unwesen, in furchterregenden Kostümen und mit atemberaubender Stimmkraft. Von Thomas Lehman als Luzifer über Flurina Stucki als große Hure bis zu AJ Glueckert, der unter der Maske des Tiers in Scharlach ebenso wenig zu erkennen ist wie Andrew Dickinson als Lüge und Jordan Shanahan als Hass.

Auch wenn sich der Text – so wie er nun mal ist – nur ansatzweise erschließt, erlebt man dennoch einen großen Opernabend. Das liegt an Ersan Mondtag und dem Ensemble, aber auch am fabelhaften und mit Lust schwelgenden Orchester der Deutschen Oper, dessen Dirigent Stephan Zilias bei aller Überwältigungseuphorie auch auf Transparenz bedacht ist. Dass man neben musikalischer Beglückung auch eine Menge offener Fragen mitnimmt, ist nicht das Schlechteste.

Roberto Becker

„Antikrist“ // Kirchenoper von Rued Langgaard (revidierte Fassung von 1930, szenisch uraufgeführt 1999)

Infos und Termine auf der Website des Theaters

1. Februar 2022

Nein!

Augsburg / Staatstheater Augsburg (Januar 2022)
Wo „Faust“ draufsteht, ist auch „Margarethe“ drin: Gounods Macho-Oper

Augsburg / Staatstheater Augsburg (Januar 2022)
Wo „Faust“ draufsteht, ist auch „Margarethe“ drin: Gounods Macho-Oper

Haben Sie „Ihren“ „Faust“ noch parat? In der aktuellen Augsburger Fassung der 1859 uraufgeführten Oper von Charles Gounod kein unbedingtes Muss – ganz unaufdringlich lädt das erstaunlich schlüssige Regiekonzept von Jochen Biganzoli in kühner Umdeutung dazu ein, längst fadenscheinige Rollenbilder wie das vom skrupellosen Verführer=Faust und der naiv-unschuldigen Schönheit=Margarethe zu überprüfen. Ein souveränes Solisten-Sextett, ein glänzend einstudierter und präsenter Opernchor und nicht zuletzt die von GMD Domonkos Héja mit Emphase und Prägnanz geleiteten Augsburger Philharmoniker machen die Hingabe an orchestrale wie vokale Opulenz zum großen Vergnügen.

Als kleine Sensation des Abends darf man ohne Übertreibung die koreanische Sopranistin Jihyun Cecilia Lee feiern, die ihre Rolle der Marguerite fulminant gestaltet. Strahlend bewegt sie sich in den dramatischen Höhen, berührend und intensiv kleidete sie Neugier, Leid, Scham und Enttäuschung aus, lässt ihre Arien virtuos funkeln. In Jacques le Roux als Faust hat sie einen ebenbürtigen, wandlungsfähigen Tenorpartner an ihrer Seite, der bebend-innige Emphase mit nötigem Volumen unterfüttert.

Und wie man es dreht und wendet, wo „Faust“ draufsteht, steckt tonangebend immer auch „Margarethe“ mit drin. Deutlich nimmt Biganzoli mehr Partei für das Schicksal der verführten, am Ende himmlisch bzw. selbst „geretteten“ Marguerite. Bis zur Pause stehen zwar die FAUST-Versalien im Fokus des Bühnengeschehens, das sich quasi aus dem Orchestergraben heraus szenisch formiert. Die männlichen Akteure tragen allesamt Frack, hängen lustlos und alkoholisiert umher, bis der Teufel Abhilfe anbietet und damit den Faust-Egotrip in Gang setzt, in dessen Verlauf natürlich auch Valentin (Wiard Witholt), Siebel (großartig gesungen von Natalya Boeva) und Marthe (Kate Allen) die Pläne und Wege durchkreuzen.

Die vom Pakt verheißene junge Schönheit findet sich als Harfenistin ebenfalls im Orchestergraben und wird zum erotischen Amüsement der Herren ins grelle Rampenlicht gestellt. Gounods Musik selbst wird zur Quelle, aus der sich die verhängnisvolle Liebesaffäre zum mitreißenden Strom entwickelt, in den Goethes einschlägig bekannte Figuren als definitiv hinterfragbare „Modellcharaktere“ eintauchen. Erst im zweiten Teil öffnet MARGARETHE ihren Raum, um entschiedenen Protest zu formulieren; zunächst im feministischen Kollektiv schwangerer Frauen, dann mit dem starken Bild des brennenden Kinderwagens und zuletzt mit einem sehr individuellen „Nein!“, mit dem sie sich endgültig und selbstbewusst den Fesseln männlich bestimmter Abhängigkeit verweigert. Der behutsam gedrehte Videofilm (Jana Schatz) führt parallel zum Live-Geschehen das Leben einer unauffälligen, einsamen jungen Frau und die Begegnung mit einem sympathischen jungen Mann auf den nächtlichen Augsburger Straßen vor und hält ergänzend zur theatralen eine realistische Sichtweise parat, die auch die Entwicklung von Marguerite auf der Bühne plausibel macht.

Renate Baumiller-Guggenberger

„Faust“ (1859) // Oper von Charles Gounod

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31. Januar 2022

Skandal im Hühnerstall

München / Bayerische Staatsoper (Januar 2022)
Janáčeks „Schlaues Füchslein“ aus der Sicht von Barrie Kosky

München / Bayerische Staatsoper (Januar 2022)
Janáčeks „Schlaues Füchslein“ aus der Sicht von Barrie Kosky

Vorneweg: Es funkelt und glitzert an diesem Abend auf der Bühne – und das gleich in mehrerlei Hinsicht. Zum einen, weil Hausdebütantin Mirga Gražinytė-Tyla dem Bayerischen Staatsorchester glänzend-sinfonische Klänge entlockt und ein ausnahmslos hervorragendes Solistenensemble diesen Hörgenuss uneingeschränkt vervollständigt. Zum anderen – und das leider weniger gelungen –, weil Regisseur Barrie Kosky (auch) aus Janáčeks „Füchslein“ eine Art Revue macht und anstelle eines Bühnenbildes größtenteils auf Glitzervorhänge zurückgreift (Bühne: Michael Levine).

Dabei ist sein im Vorfeld propagierter grundsätzlich distanzloser Ansatz, „das Tierische im Menschen“ zu finden und auf verniedlichende Tiermasken zu verzichten, absolut vielversprechend und nachvollziehbar. Leider springt der Umsetzungsfunke trotz hervorragender tierisch-menschlicher Sängerdarsteller nicht über. Das beginnt schon beim (überflüssig) hinzugefügten Beerdigung-der-Förstertochter-Prolog und endet nicht beim wachsenden Gefühl von Eintönigkeit, das einen beschleicht, wenn sich die szenische „Hauptidee“ – Bühnenbilder durch variable Vorhangkulissen vor schwarzem Hintergrund zu ersetzen – langsam totläuft. Auch warum Sänger sämtlich und fast durchgehend bis mindestens zu den Knien im Bühnenboden versinken müssen, bleibt das Geheimnis des Regisseurs – zusätzlich zu dessen ganz persönlicher Vorstellung einer fröhlichen Anmutung hysterisch-dauerkichernder Kinder. Die von Janáček vorgesehene „Wald-Idylle“ samt mystischem Zauber sowie seine Vorstellung einer Wechselwirkung zwischen Zivilisation und Natur weicht vollständig diesem … ja, was eigentlich? Möglicherweise zum unfreiwilligen Inszenierungshighlight gerät stattdessen das fantasievoll dargestellte Massaker im knallgelb-fedrigen Hühnerstall. Hier kommen übrigens dann doch noch Tierkostüme ins Spiel, die in diesem Kontext allerdings eher wie eine Slapstick-Einlage wirken.

Tiefgründigen, feinsinnigen Humor lässt diese Produktion leider schmerzlich vermissen und so könnte man auf den Abend problemlos verzichten, wäre da nicht die bestechende musikalische Aufführung und ihre Münchner Protagonisten. Elena Tsallagova und Angela Brower als Füchslein und Fuchs sowie Wolfgang Koch als Förster bilden die Highlights eines Gesangsensembles in Hochform, das bis hin zu den Kinderdarstellern keine Wünsche offenlässt und den Abend doch noch zum Erlebnis macht. Mirga Gražinytė-Tyla bringt Janáčeks sinfonische Klangmalereien in einer Klarheit zum Strahlen und Erblühen, als wolle sie damit auch gleich noch Mängel der szenischen Umsetzung ausgleichen. Dazu finden die nicht nur durch das tschechische Libretto stark geforderten Sänger in ihr eine souveräne Lotsin durch den kompositorischen Facettenreichtum.

Am Ende großer, fast ungebrochener Jubel für alle Beteiligten – was will man mehr. Dass ein Teil der Publikumsbegeisterung den neuerdings wieder 50 Prozent Auslastung gelten könnte, die nun auch in Bayern endlich wieder den Genuss eines halbwegs normalen Theatererlebnisses zulassen, ist nicht bewiesen.

Iris Steiner

„Příhody lišky Bystroušky“ („Das schlaue Füchslein“) (1924) // Oper von Leoš Janáček

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25. Januar 2022

In Gottes Namen

Dresden / Semperoper Dresden (Januar 2022)
Uraufführung von Torsten Raschs „Die andere Frau“

Dresden / Semperoper Dresden (Januar 2022)
Uraufführung von Torsten Raschs „Die andere Frau“

Auch für neue Opern haben biblische Stoffe Potenzial – jüngst etwa für Christoph Ehrenfellner die Geschichte von Kain und Abel in Nordhausen, jetzt für Torsten Rasch an der Semperoper auf ein Libretto von Helmut Krausser. Der lieferte (mit den heute unvermeidlichen pandemiebedingten Verzögerungen und Restriktionen) große Oper. Vor allem in den von der Sächsischen Staatskapelle unter Leitung von Michael Wendeberg exquisit in den Raum gefluteten Orchestertutti. Mit seinem spätromantischen Nachklang meidet Raschs Musik das Abdriften in Esoterische.

Der Plot kommt von weither aus der Vergangenheit und ist vor allem ein Kammerspiel, das die menschlichen Verwicklungen der ersten Leihmutterschaft verhandelt. Abram (durchschlagend: Markus Marquardt) will zu dem Stammvater werden, zu dem ihn sein Gott vorgesehen hat. Den fehlenden Nachwuchs zeugt er auf Anraten seiner längst greisen Gattin Sarai (darstellerisch und vokal in Hochform: Magdalena Anna Hofmann) mit der jungen Sklavin Hagar, die Stephanie Atanasov als Figur von der Unterwerfung zur selbstbewussten Rebellion emanzipiert.

Abram „opfert“ sich in göttlichem Auftrag als Erzeuger. Was dann folgt ist menschlich, allzu menschlich. Sarai bereut ihren Rat zum Pragmatismus so schnell, wie Hagar ihre Stellung als Mutter des Erstgeborenen verinnerlicht. Als dann das Wunder passiert und auch die über 90-Jährige Isaak zur Welt bringt, schicken Abram und Sarai Hagar und ihren Sohn Ismael in die Wüste, um sie zu „entsorgen“. Wie wir wissen, gelingt ihnen das nicht. Stattdessen beginnt eine lange Entwicklung, die Hass und Verachtung im Erbgut hat.

Gesungen wird das durchweg exzellent. Das Pathos ist immer wortverständlich. Als Augenzeugin steuern Sussan Deyhim Klagegesänge über die Zerstörung der Stadt Ur und die drei Engel (Philipp Mathmann, Philipp Meraner, Ilya Silchuk) göttliche Einreden bei.

Die Zuschauer sind auf der Bühne platziert, das Orchester im Graben. Gespielt wird bei Regisseur Immo Karaman auf einem Laufsteg aus unzähligen ausrangierten Schuhen (!). Der Strom der Zeit von Urzeiten an wird hier zu einem Strom von Menschen, die immer nur (auch im Wortsinn) beladen und auf der Flucht sind. Mit dieser in ihrer assoziativen Überstrapaziertheit mehr als heiklen Metaphorik kontrastieren die – nur für sich genommen opulent wogenden – dekorativen Videoüberblendungen der Ränge des Zuschauersaales.

Aufbauend oder auch nur erbaulich ist das alles nicht. Im Gegenteil. Und was an der Geschichte exemplarisch für uns heute sein könnte, muss man sich dazu denken.

Dr. Joachim Lange

„Die andere Frau“ (2022) // Musiktheater von Torsten Rasch

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18. Januar 2022

Die modernde Moderne

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2022)
Kluges Regiekonzept „Warten auf heute“ vereint vier Schlüsselwerke

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Januar 2022)
Kluges Regiekonzept „Warten auf heute“ vereint vier Schlüsselwerke

Ein Haus als Barometer für den Zustand des Seelenfriedens. Fenstergitter, die die Idylle sowohl beschützen als auch zum Kerker machen. Schatten, die mehr als die Menschen im Haus daheim sind. Mehr bedarf es in diesem mit „Warten auf heute“ überschriebenen Abend an der Oper Frankfurt kaum, um vier Werke der Moderne zu einer großen Erzählung zusammenzufügen. Das Resultat überzeugt derart, dass man sich fragen muss, wieso diese Werke nicht immer auf genau diese Weise miteinander aufgeführt werden.

Regisseur David Hermann verbindet Arnold Schönbergs Einakter „Von heute auf morgen“ und Frank Martins „Jedermann“-Monologe mit der „Erwartung“ (ebenfalls Schönberg) zu einer Geschichte, bei der die Beziehung zweier Menschen ebenso im Mittelpunkt steht wie die Frage, was uns der Schutz dieses Glücks wert ist. Der narrative Coup: Schönbergs „Begleitmusik zu einer Lichtspielszene“. Im Sinne einer Verwandlungsmusik und unter Verwendung klassisch-filmischer Elemente (Projektionen, Zeitraffer) sehen wir der Kernfamilie aus dem Einakter dabei zu, wie sie sich im Laufe der Zeit entzweit: Die Frau verlässt das gemeinsame Haus, Mann und Kind (Bühnenbild und gekonnter Einsatz der Frankfurter Drehbühnen: Jo Schramm). Der (Jeder-)Mann bleibt allein zurück in einem Geisterhaus, in dem sich die Styropor-Essensboxen zu einem Mahnmal moderner Einsamkeit getürmt haben. Nach seinem Tod kehrt die Frau zurück („Erwartung“) und zerbricht letztlich an ihrem Leben. Ein düsteres Gesamtbild, das in seiner Geschlossenheit überzeugt, wenn es auch jeglichen Hoffnungsschimmer vermissen lässt.

So gut sich die vier Geschichten ineinanderfügen, fragt man dennoch nach dem Wieso des Abends. Ein Plädoyer für die Konstanz der Familie? Wohl kaum. Vielmehr scheint es um die Frage zu gehen, welchen Preis wir bereit sind zu zahlen, um diesen Moment individuellen Glücks zu finden und zu schützen. Statt im Heute zu leben, flüchten sich alle Figuren in die Imagination. Die Gegenwart als labyrinthisches Wartezimmer unserer Existenz.

Unangefochtenes Highlight des Abends ist Johannes Martin Kränzle, dessen Gesamtleistung sich auf einem derart hohen Niveau bewegt, dass man sich fragen muss, ob das überhaupt noch zu steigern ist. Stimmlich gewohnt tadellos berührt er als Jedermann vor allem auch durch seine schauspielerische Leistung. Einen ergreifenderen, „kaputteren“ Jedermann hat man selbst in Salzburg kaum gesehen. Camilla Nylund meistert die „Erwartung“ auf souveräne, wenn auch fast steril-perfekte Weise. Im Einakter und in der Begleitmusik steht das Regiekonzept im Mittelpunkt. Gelungene Überraschung: Juanita Lascarro und Brian Michael Moore, die mit sichtbarer Spielfreude als Zombies die modernde Moderne entlarven. Am Ende ist alles nur heiße Luft.

Alexander Soddy führt das Frankfurter Opern- und Museumsorchester souverän, mit viel Verständnis und Kenntnis für die Stilistik dieser Musik. Trotz aller Düsternis: ein großer Opernabend, der uns die volle Tragik der menschlichen Existenz vor Augen führt.

Dr. Dimitra Will

„Warten auf heute“ // Ein Abend mit Kompositionen von Arnold Schönberg und Frank Martin

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22. Dezember 2021

Machtkämpfe im Großstadt-Dschungel

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2021)
Verdis „Macbeth“ erntet Buhrufe

Mailand / Teatro alla Scala (Dezember 2021)
Verdis „Macbeth“ erntet Buhrufe

Was für ein denkwürdiger Abend, wenn bei dem bedeutendsten Opernereignis des Jahres der italienische Präsident den größten Beifall erntet. Allein sechs Minuten währen die Ovationen für den 80-jährigen, aus seinem Amt scheidenden Sergio Mattarella. Für das bis in kleinere Rollen hochkarätig besetzte Ensemble fällt der Beifall deutlich matter aus, für die Regie gibt es lautstarke Buhrufe.

Ausgerechnet Anna Netrebko, die sonst so verlässliche Größe, hat in den höheren Registern zu kämpfen. In der ersten Arie der Lady „Ambizioso spirto“ verrutscht ihr ein Spitzenton, den sie nachjustieren muss. Auch in den folgenden Szenen tönt ihr Sopran recht angestrengt in den Höhen. Noch dazu – und das erscheint noch gravierender – bleibt sie der Figur, die ihren Mann zu mehreren Morden anstiftet, alles Abgründige schuldig. Mehr auf schönen Klang bedacht, den sie immerhin in der Mittellage und Tiefe mit großer Stimme aufbieten kann, erinnert ihre mondäne Lady in prächtigen blutroten Designer-Roben (Kostüme: Gianluca Falaschi) eher an die Violetta in „La traviata“. Das liegt vor allem daran, dass sie ihrem Text seitens Ausdruck zu wenig Rechnung trägt. Das Premierenpublikum quittiert solche Schwächen gnadenlos mit Buhrufen. So heiß ging es an der Scala beim Auftritt einer Primadonna lange nicht mehr her.

Das wenig überzeugende Rollenporträt hat auch Davide Livermore zu verantworten, der sich für die Psychologie der Figuren nicht sonderlich interessiert, sondern vielmehr mit spektakulären Zooms und Kamerafahrten seiner Faszination am Kino frönt (Video: D-Wok). Zu sehen gibt es bewegte Tableaus von Wäldern, Wolken und einer heutigen Mega-City, die mit imposanten Wolkenkratzern und Häuserschluchten unweigerlich an Fritz Langs Filmklassiker „Metropolis“ erinnert. Aber die Multimedia-Show läuft neben dem Geschehen her, schafft keine Spannung und ersetzt nicht die mangelhafte Arbeit am Text.

Schaurig, düster oder gar gespenstisch wird es nie, auch nicht in den zackigen Tanz-Einlagen, mit denen Daniel Ezralow die Auftritte der weissagenden Hexen befremdlich choreografiert. Und dann ist der Regisseur noch auf die Schnapsidee gekommen, den Brief, der die erste große Szene der Lady einleitet, einer Männerstimme aus dem Off zu übertragen. Wie nur konnte Riccardo Chailly als musikalischer Leiter das durchgehen lassen? Und auch damit, wie sich Chailly in seinem Bemühen um Dramatik ganz auf die lauten Stellen konzentriert, kann sein Verdi nicht wirklich überzeugen. Leise grummelnde Tremoli wirken eben doch unheimlicher als Fortissimo-Schläge. 

Allein Luca Salsi in der Titelpartie des Macbeth setzt der Aufführung ein Glanzlicht auf, so wie er den von Verdi auf jedes Wort exakt abgestimmten Farbwechseln penibel Rechnung trägt. Ebenso mit überzeugenden gesanglichen Leistungen treten in kleineren Rollen Ildar Abdrazakov (Banco) und Francesco Meli (Macduff) hervor. Wer sich noch einmal mitreißen lassen will von einer wahrlich faszinierenden Produktion der Oper, sollte unbedingt die Ausstellung besuchen, die das Museum der Scala aktuell dem großen Theatermacher und Regisseur Giorgio Strehler mit zahlreichen Video-Auszügen widmet. Da laufen einem wahrlich Schauer über den Rücken. 

Kirsten Liese

„Macbeth“ (1847) // Melodramma von Giuseppe Verdi

12. Dezember 2021

Eine Oper wie gemalt

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Dezember 2021)
Markus Lüpertz’ anachronistisches Regiedebüt mit „La Bohème“

Meiningen / Staatstheater Meiningen (Dezember 2021)
Markus Lüpertz’ anachronistisches Regiedebüt mit „La Bohème“

Viel war bereits im Vorfeld in den Feuilletons zu lesen über den „80-jährigen Regiedebütanten“, den glamourösen Maler-Superstar Markus Lüpertz und seinen Anspruch, „Farben zum Singen“ zu bringen. Werk und Ort seiner Wahl: Puccinis „La Bohème“ am kleinen, aber feinen Staatstheater Meiningen. Beides im Nachhinein betrachtet ein Coup in perfektem Einklang zum gewünschten Ergebnis – und erstaunlicherweise wie geplant vor Live-Publikum.

Gut möglich, dass die von überall her zur Premiere angereiste Lüpertz-Fangemeinde mehr Provokation erwartet hatte. Stattdessen: Standing Ovations allenthalben und ein sichtlich zufriedener Künstler beim Schlussapplaus.

Als den „Opernkomponisten schlechthin“ bezeichnet Lüpertz Puccini, stellt demzufolge die Musik in den Mittelpunkt seiner Inszenierung – und seine Sänger fast durchgehend semikonzertant an die Rampe. Was manchmal erzählerisch nicht ganz aufgeht – etwa, wenn Rodolfo im dritten Bild Mimìs plötzliches Erscheinen besingt, ohne sie sehen zu können – vermittelt an anderen Stellen spannende neue Blickwinkel auf Altbekanntes. Intim, berührend und persönlich: eine aufrecht am Bühnenrand stehend sterbende Mimì, die mit letztem, sichtbarem Aufatmen die Augen schließt und in helles Licht getaucht in eine andere Welt übergeht. An ihre Seite tritt der personifizierte Tod aus der Kulisse, während Rodolfo die Geliebte im gebührenden Abstand schmerzhafter Trennung fast wie Orpheus seine Eurydike chancenlos und körperlich isoliert an die Unterwelt verliert.

Lüpertz’ Welt der Oper ist kein modernes Musiktheater. Seine „Bohème“ ist eine liebevolle Reise in die Phantasie und Hommage an Künstlichkeit und Nostalgie ohne Kitsch. Hier inszeniert ein Maler, der sich ausschließlich gemalter Bühnenbilder und zweidimensionaler Requisiten bedient, die wie Kulissen hin- und hergeschoben werden und in rührender Klapprigkeit an das Papiertheater des 19. Jahrhunderts erinnern. Opéra-comique-artige Clown-Figuren werden zu menschlichen Leinwänden und ebenfalls bemalt, der grell-grün gekleidete Chor zum übergroßen Tannenbaum-Hintergrund der „Momus-Szene“ drapiert. Und es gibt noch ein persönliches Detail: Lüpertz stellt dreien der vier Bilder eigene, atmosphärische Texte voran, die er auch gleich selber spricht.

Ein Glücksfall für diese Inszenierung ist das überzeugende Solistenensemble des Meininger Staatstheaters, allen voran die türkische Sopranistin Deniz Yetim, die mit großer Stimmflexibilität gekonnt zwischen anrührenden Piani und dramatischem Forte balanciert. An ihrer Seite Alex Kim, ein strahlender Rodolfo in bester Tenor-Manier mit manchmal ein klein wenig zu viel Power. Monika Reinhard singt, spielt und ist die quirlige Musetta, die man sich wünscht. Und auch die übrige Besetzung mit Julian Younjin Kim (Marcello), Johannes Mooser (Schaunard), Selcuk Hakan Tıraşoğlu (Colline) und Stan Meus (Parpignol) überzeugt ohne Einschränkungen. GMD Philippe Bach am Pult der Meininger Hofkapelle jongliert den emotionalen Puccini-Klang zwischen bewegten Gemälden und stehenden Protagonisten souverän und mitreißend.

Iris Steiner

„La Bohème“ (1896) // Oper von Giacomo Puccini

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12. Dezember 2021

Tamino im Hier und Jetzt

Kiel / Theater Kiel (Dezember 2021)
Moderner Sprechtext und frische Ideen für Mozarts „Zauberflöte“

Kiel / Theater Kiel (Dezember 2021)
Moderner Sprechtext und frische Ideen für Mozarts „Zauberflöte“

Eine renovierte „Zauberflöte“ – kann das gut gehen? Im Auftrag des Theaters Kiel hat Gegenwartsdramatiker Roland Schimmelpfennig zu Mozarts Musik und dem Libretto von Emanuel Schikaneder moderne Sprechtexte geschrieben. Generalintendant Daniel Karasek inszeniert die Fassung spartenübergreifend mit Sängerinnen und Sängern, Schauspielerinnen und Schauspielern. GMD Benjamin Reiners leitet sie musikalisch mit hörbarer Lust auf den alten Mozart und die neue Produktion.

Ein doppelter Tamino. Pamina, Sarastro, die Königin der Nacht, Papageno und Papagena – sie alle mal zwei. Opern- agiert mit Schauspielpersonal, als sei es das Leichteste der Welt und seit Ewigkeiten erprobt. „Zu Hilfe!“, fleht Tamino. Ist er der bedrängte tapfere Prinz oder ein hasenfüßiger Junge aus der Vorstadt, der auf einen falschen Weg geraten ist? Er zweifelt selbst und andere mit ihm. Papageno zum Beispiel, der in Kiel seiner ihm allzu oft mit buntem Unernst auferlegten Eindimensionalität entfliehen und mit seiner erbarmungswürdigen Einsamkeit eine andere Seite zeigen darf. Der Schauspiel- bzw. Musiktheater-„Zwilling“ macht das facettenreiche Wesen sicht- und hörbar: Wo die Sprache endet, hilft die Musik. Wo der durchweg überzeugende Gesang mit seinen Texten im 18. Jahrhundert verhaftet ist, hilft die Schauspielkunst. Die Kieler „Zauberflöte“ kommt daher, als hätte ihr einer den Staub der Jahrhunderte aus dem Menschlichen und Zwischenmenschlichen gepustet, das aber bei allem Respekt vor Mozart und Schikaneder.

Gemeinsam mit den modernen Sprechtexten erzeugen Komposition und Libretto Spannungsfelder, in denen sich die Brüche der Helden und Heldinnen auf der Suche nach Erkenntnis und Identität auftun. Der junge Tamino, der Teenie Pamina, sie suchen ihren Weg durch die rätselhafte Welt der eigeninteressierten Alten. Das Spiel beginnt in schönster Normalität: Pamina erlebt einen Familienzwist und fällt in einen Traum, der diesen Konflikt verarbeitet. Das kennt jeder, das versteht jeder und wunderbarerweise fügt es sich mit Mozart und Schikaneder zu einem neuen Ganzen.

Die Kunst dieser „Zauberflöte“ zeigt sich im Miteinander von anspruchsvoller Deutung und hohem Unterhaltungswert. Das Publikum hat viel zu lachen. Auch das liegt an den Zwillings-Besetzungen, die ihre jeweiligen inneren Schweinehunde Auge in Auge bekämpfen.

Komische Tragik, tragische Komödie? Es ist ein Blick ins Leben, und folgerichtig spielt der in einer unprätentiösen Ausstattung. Doch Bühne und Kostüme (Claudia Spielmann) wie auch Lichtgestaltung (George Tellos) kommen so pointiert zum Einsatz, dass sie mit Farben (Schwarz, Weiß, Grau, Rot), zwei Leitern und einer bespielten Hochbrücke ausreichend Raum für Bewegungsspektakel und somit für reichlich visuelle Abwechslung bieten.

Wenn das Premierenpublikum, kaum dass der letzte Ton verklungen ist, nahezu geschlossen aufspringt und stehend applaudiert, dann muss auf der Bühne Bemerkenswertes geschehen sein. Bei dieser „Zauberflöte“ ist das so.

Karin Lubowski

„Die Zauberflöte“ (1791) // Oper von Wolfgang Amadeus Mozart (Musik) und Emanuel Schikaneder (Libretto) in einer neuen Dialogfassung von Roland Schimmelpfennig (2021)

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12. Dezember 2021

Jauchzet, frohlocket …

Kassel / Staatstheater Kassel (Dezember 2021)
Bachs „Weihnachtsoratorium“ als „parzitipatives Musiktheater⁺“

Kassel / Staatstheater Kassel (Dezember 2021)
Bachs „Weihnachtsoratorium“ als „parzitipatives Musiktheater⁺“

Es gehört auf den imaginären Gabentisch fürs restriktionsgeplagte Publikum (und die Macher), wenn heutzutage eine geplante Premiere stattfindet. In Kassel mit 2G und Test und Maske und reduzierter Zuschauerzahl. Zur Premiere des szenischen Weihnachtsoratoriums, das Jochen Biganzoli mithilfe seines eigenen Bühnenbildners Wolf Gutjahr in die Raumbühne „Pandaemonium“ von Sebastian Hannak hinein inszeniert hat, wirkt das Auditorium dennoch auf magische Weise belebt. Es gehört zu diesem „partizipativen Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach“, wie es im Untertitel heißt, dass Weihnachtsmann-Zipfelmützen verteilt werden, die im Dunkeln effektvoll vor sich hin blinken.

Einen riesigen, mehrdimensionalen Weihnachtsstern gibt es auch. Dort schrauben erst die Mitglieder des Bürgerchores (zusätzlich zum Profichor des Hauses) einige Glühbirnen ein. Am Ende vervollständigen Zuschauer die restlichen Fassungen. Gemeinsam wird aber nicht nur dafür gesorgt, dass allen das metaphorische Licht der Weihnacht tatsächlich aufgeht. Unter Anleitung von Kapellmeister Kiril Stankow wird der Choral „Ach mein herzliebes Jesulein, Mach dir ein rein sanft Bettelein“ gemeinsam gesungen.

Das Hotelzimmer auf der linken, die Küche auf der rechten Seite, das Fitnessstudio hinter dem auf der Hinterbühne platzierten Orchester und die großen Bildschirme eröffnen aber auch Räume, die christliche Weihnachtsbotschaft mit deren Überlagerung durch unsere Wirklichkeit zu konfrontieren. Dazu gehören die Spielarten der Vereinsamung. Die Frau (in der Alt-Partie: Ulrike Schneider) im Hotelzimmer bestellt sich einen smarten Callboy aufs Zimmer. Die Frau in der Küche gegenüber (Sopranistin Lin Lin Fan) bereitet ein großes Essen vor und bleibt vermutlich auch allein. Andrés Filipe Agudelo verlässt den Laufsteg in der Höhe und seine Evangelisten-Rolle für einen Ausflug ins Fitnessstudio. Und die finnische Bassbaritonistin Sam Taskinen verknüpft ihre Partie mit einem Exkurs über sich selbst – zu diversen Sprüchen wie „Meine Stimme ist eine Frauenstimme“ und einem Wechsel vom schlichten Anzug zum glamourösen Abendkleid. Dazu meist kriegerische Bilder vom Schauplatz der Weihnachtsgeschichte, wie er heute ist. Aber auch durch den Wechsel zum christlichen-syrischen Kanun-Spieler und Sänger Bassem Alkhouri mit seiner Version der Geschichte.

Nicht nur, wer über dem Orchester und den Akteuren platziert ist, findet sich so mittendrin in einer hinterfragenden und zugleich aufmunternden musikalischen Weihnachtseinstimmung. Dafür lohnt es allemal, die zeitbedingten Hürden zu überwinden.

Roberto Becker

„Weihnachtsoratorium“ // Partizipatives Musiktheater⁺ mit Musik von Johann Sebastian Bach (1734/35)

12. Dezember 2021

Kontrastiv

Gera / Theater Altenburg Gera (Dezember 2021)
Spannungsgeladener Doppelabend mit Taveners „A Gentle Spirit“ und Waltons „The Bear“

Gera / Theater Altenburg Gera (Dezember 2021)
Spannungsgeladener Doppelabend mit Taveners „A Gentle Spirit“ und Waltons „The Bear“

Bei allen Gemeinsamkeiten könnten die beiden Einakter unterschiedlicher nicht sein. Während sich John Taveners „A Gentle Spirit“ mit hermetischer Aura umgibt, serviert William Walton mit „The Bear“ eine ausgelassene Buffa. Zwei britische Komponisten des 20. Jahrhunderts greifen auf die Sujets zweier russischer Schriftsteller des 19. Jahrhunderts zurück. Das eine Werk thematisiert die Trauer über den Verlust der Ehefrau, das andere Triumph und Freuden der Witwenschaft.

„A Gentle Spirit“ beruht auf Dostojewskis Erzählung „Die Sanfte“. Der unehrenhaft aus dem Offiziersdienst entlassene und sozial zum Leihhausbesitzer herabgesunkene Alexei hält nach der Selbsttötung seiner Frau Anya Rückschau auf die Schlüsselsituationen seiner Ehe. Er hatte die viel jüngere, arme und gesellschaftlich weit unter ihm rangierende Kundin geheiratet, um Macht über sie auszuüben, zuletzt durch ihre vollständige Isolation. Taveners Musik schüttelt klangliche Muster durcheinander und beobachtet sie bei der Neuorganisation. Fortissimo-Ausbrüche im Schlagwerk wechseln mit tenoralen Exaltationen ab. Erinnerungsmotivisch kehrt das vom Band gespielte „Let my soul live“ der jungen Suizidalen wieder.

Hausherr und Regisseur Kay Kuntze stilisiert die Figuren. Die vokalen Eruptionen Alexeis verschaffen sich desto heftiger Bahn. Seine Frau Anya hingegen wandelt traumverloren durch den Ehekerker. Bühne und Kostüme von Benita Roth setzen auf strenge Schwarz-Weiß-Optik. Die Schauplätze werden mit wenigen Requisiten angedeutet. Ruben Gazarian koordiniert mit dem Philharmonischen Orchester Altenburg Gera das meist Disparate und Gewollt-Asynchrone der Partitur. Nimmermüde und intensiv begibt sich Isaac Lee auf den tenoralen Höllenritt Alexeis. Miriam Zubieta beglaubigt darstellerisch und vokal die Verlorenheit Anyas.

So hätte sich denn ohne Pause der mentale Sprung in Waltons quirligen „The Bear“ kaum bewältigen lassen. Das auf Tschechows Einakter fußende Lustspiel um die ihren verblichenen und zu Lebzeiten stets auf außerehelichen Schlichen wandelnden Gatten durch vorbildliche Witwenschaft strafende Popowa, den bei ihren schrägen Trauerritualen assistierenden Diener Luka und den zunächst als Schuldeneintreiber zu ihr vordringenden, doch alsbald auf Freiersfüßen wandelnden Gutsbesitzernachbarn Smirnow gibt Kay Kuntze Gelegenheit, eine Art „Dinner for One“ auf die Bühne zu bringen, bei dem zu allem Überfluss ein Dritter hereinplatzt. Benita Roths Bühne und Kostüme kosten die Mixtur aus ebenso russischer wie britischer Skurrilität und Exzentrik detailliert und immer wieder überraschend aus. Ruben Gazarian lässt Charme und Pointen der anspielungsreichen und dabei sehr britischen Partitur aufblitzen. Bei Eva-Maria Wurlitzer mutiert darstellerisch und vokal Scheinheiligkeit zu Liebesleidenschaft. Johannes Beck verwandelt die Brutalität des Schuldeneintreibers in die Emphase des Galans. Kai Wefer als Luka schickt sich gemüthaft und vokal robust in die Eskapaden seiner schrillen Herrin.

Michael Kaminski

„A Gentle Spirit / The Bear“ (1977/1967) // Opern von John Tavener und William Walton

Infos und Termine auf der Website des Theaters