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Rezensionen

12. Dezember 2021

Flugversuche

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Dezember 2021)
Ein Bühnenwunder mit Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“

Frankfurt am Main / Oper Frankfurt (Dezember 2021)
Ein Bühnenwunder mit Rimski-Korsakows „Die Nacht vor Weihnachten“

Es ist ja nicht so, dass das vorweihnachtliche Flair russischer Märchenstoffe auf deutschen Opernbühnen nicht seinen Platz hätte. Aber ausgerechnet das Werk, das obendrein auch noch „Die Nacht vor Weihnachten“ heißt, kennt hierzulande kaum jemand. Das könnte sich jetzt ändern. Denn man kann sich kaum ein überzeugenderes Plädoyer für diesen 1895 uraufgeführten Vierakter von Nikolai Rimski-Korsakow zu dem von Nikolai Gogol inspirierten, selbstverfassten Libretto vorstellen, als die Inszenierung, die Christof Loy (Regie), Johannes Leiacker (Bühne) und Ursula Renzenbrink (Kostüme) jetzt in die Oper Frankfurt zaubern. Und die musikalisch mit der an diesem Haus üblichen Sorgfalt sowohl im Graben von Sebastian Weigle am Pult des Opern- und Museumsorchesters als auch von einem in den wichtigsten Rollen muttersprachlich bestückten Protagonisten-Ensemble umgesetzt wurde.

Wer mit Maske und Test zur 2G-Voraussetzung auf seinem Platz im nach Schachbrettmuster verkauften Saal angekommen ist, wird verzaubert. Vom ausufernden Märchen und der Komödie, von einer Luftakrobatik, wie man sie in dieser Qualität auch noch nicht gesehen hat, von einer packenden, süffigen Musik und von durchweg charismatischen Protagonisten. Das zentrale Liebespaar – die schöne Oksana (mit strahlender Höhe: Julia Muzychenko) und der Schmied Wakula (überzeugend: Georgy Vasiliev) – sind von einem Personaltableau umgeben, zu dem nicht nur die Dorfhonoratioren, der Teufel, eine Hexe und selbst die Zarin, sondern auch noch diverse Götter gehören. Den roten Faden durch die Turbulenzen der Geschichte liefert der Ausflug Wakulas an den Zarenhof (durch die Luft mit dem Teufel als Reisebegleiter), um dort ein Paar Schuhe der Herrscherin für Oksana zu ergattern, damit die ihn wie versprochen heiratet.

Viele Sympathien kann Enkelejda Shkoza mit vollem Einsatz der Hexe Solocha sichern. Wenn sie auf dem Besen reitet in der Show-Höhe, wenn sie ihre Freier gleich reihenweise in großen Säcken verschwinden lässt, auch auf dem Komödien-Boden und wenn sie kraftvoll singt sowieso.

Das Märchen hat natürlich auch einen satirischen doppelten Boden, dessen Einsichten Loy dezent mit vermittelt. Der Oper Frankfurt ist damit ein vorweihnachtlicher Coup gelungen, der ausgiebig bejubelt wurde.

Roberto Becker

„Ночь перед Рождеством“ („Die Nacht vor Weihnachten“) (1895) // Oper von Nikolai A. Rimski-Korsakow

Infos und Termine auf der Website des Theaters

12. Dezember 2021

Liebesstrategin von Rang

Detmold / Landestheater Detmold (Dezember 2021)
Lehárs „Lustige Witwe“ manövriert Freund und Feind nach ihrem Gusto

Detmold / Landestheater Detmold (Dezember 2021)
Lehárs „Lustige Witwe“ manövriert Freund und Feind nach ihrem Gusto

Zu Beginn herrscht Trauer. Just zur Witwe geworden, sitzt die Glawari am Totenbett ihres verblichenen Gemahls, jenes Bankiers, den sie beerbt und ihm daher ihren phänomenalen Reichtum verdankt. Die Witwe nimmt Abschied, um zu neuen Ufern aufzubrechen, von Pontevedro nach Paris, wo sie im Umfeld der Botschaft ihres Heimatlandes durch einen betörend parfümierten Auftritt das Zentrum des gesellschaftlichen Lebens umstandslos okkupiert und zur Sensation schlechthin wird. Vergessen jene Panzerattrappe, die der Gesandte einer mehr oder minder geneigten Öffentlichkeit zum Beweis der Wehrhaftigkeit seines Miniaturstaates präsentiert hatte, auf dass sich der böse Feind totlache. Doch ist für Pontevedro ohnehin nichts mehr zu holen, außer eben den Glawari-Millionen. Umsonst, wie heftig sich der für die Akquise ausersehene Graf Danilo diesem Dienst am Vaterland verweigert. Weil die Witwe des Grafen zu ihrem Liebes- und Lebensglück unbedingt bedarf, zermürbt sie ihn bis in dessen völlige Erschöpfung hinein. Um ans Ziel zu gelangen, bietet die Multimillionärin an Strategie und List auf, was immer den pontevedrinischen Streitkräften als leuchtendes Vorbild dienen könnte. Final schnarcht der zur Strecke gebrachte Lebemann völlig erschöpft in ihren Armen.

Regisseur Otto Pichler serviert dies alles mit dem Sensorium für die Titelfigur als dank des ererbten Riesenvermögens souveräner Frau, die sich mit Durchblick, dem Herzen auf dem richtigen Fleck und schlagfertig holt, wen oder was sie braucht. Die in die Jahre gekommene Pracht des düsteren Marmorsaals, den Jan Freese auf die Bühne stellt, zeigt sich wandlungsfähig und praktikabel; eine Flugzeug-Gangway sorgt für effektvolle Auftritte. Das Paillettentalmi seiner Kostüme versieht Falk Bauer mit spöttischen Aperçus.

Auch musikalisch gewinnt diese „Witwe“. Francesco Damiani hat den Chor des Hauses solide und verlässlich einstudiert. Raffinement pur lässt Hye Ryung Lee mit dem Symphonischen Orchester des Landestheaters aus dem Graben steigen. Genüsslich musizieren Kapellmeisterin und Symphoniker aus, was Lehár an Impressionistischem bei Debussy und Klangmagie bei Richard Strauss entlehnt. Die Walzerseligkeit steht dem nicht nach und fesch wird es auch. Beständig sitzt Dirigentin und Orchester der Schalk im Nacken.

Emily Dorn ist eine hinreißende Glawari. Ob Divenglanz oder Diseusen-Attitüde, Dorn bringt mit famosem Augenaufschlag ihre Partie vokal und darstellerisch auf den Punkt. Todd Boyce gibt einen grundsympathischen Danilo, der rasch auf die baritonal elegante Linie einschwenkt. Die Valencienne von Penelope Kendros nimmt durch vokale Anmut für sich ein. Stephen Chambers ist Camille de Rossillon. Andreas Jören bietet für seinen Zeta reichlich Bonhommie auf. Jens Krause ist ein Prachtexemplar von Njegus.

Michael Kaminski

„Die lustige Witwe“ (1905) // Operette von Franz Lehár

Infos und Termine auf der Website des Theaters

12. Dezember 2021

Berlin, Berlin, Du heiße Braut!

Berlin / Stage Theater des Westens (Dezember 2021)
„Ku’damm 56 – Das Musical“ gerät zum Volltreffer mit Kultpotenzial

Berlin / Stage Theater des Westens (Dezember 2021)
„Ku’damm 56 – Das Musical“ gerät zum Volltreffer mit Kultpotenzial

„Ich habe noch nie in meinem Leben so schnell Ja gesagt. Ich kann das richtig schnell, wenn’s drauf ankommt“, erklärt Musiker Peter Plate lachend über den Moment, als er vor über drei Jahren gefragt wurde, ob er aus der erfolgreichen ZDF-Serie „Ku’damm 56“ ein Musical machen wolle. Drehbuchautorin Annette Hess vermittelt darin mit der Familiengeschichte der Berliner Tanzschule Schöllack authentisch, bewegend und unterhaltsam die gesellschaftliche Situation der fünfziger Jahre.

Geleitet wird die Schule von der dominanten, vollkommen im moralisch-spießigen Frauenbild der Nachkriegszeit verhafteten Caterina Schöllack. Ihre drei Töchter Eva, Helga und Monika stehen ständig unter dem moralischen Druck der Mutter und finden nur allmählich ihren eigenen Weg. Dabei leidet Monika, in Wirklichkeit das Ergebnis einer Affäre von Caterina, schwer unter den moralischen Aggressionen der Mutter. Trotzdem ist sie es, die am besten zu sich selbst findet. Auch durch die Begegnung mit der von ihrer Mutter als komplett unmoralisch kritisierten Welt des Rock ’n’ Roll, verkörpert durch den ehemaligen jüdischen KZ-Häftling Freddy.

Es ist ein Glücksfall, dass Annette Hess auch Autorin des Musicals ist. Mit knappen, in den Ablauf der Songs integrierten und auf den Punkt formulierten Dialog-Collagen gelingt es ihr, die Geschichte zügig voranzutreiben. Und Peter Plate landet mit den 22 Musical-Songs, gemeinsam mit Ulf Leo Sommer geschrieben, einen Volltreffer nach dem anderen. Zwei davon sind hitverdächtig: „Monika“ und „Berlin, Berlin“.

Natürlich gibt es fetzige Rock ’n’ Roll-Nummern, die ebenso fetzig getanzt und gesungen werden. Aber viele der Songs transportieren das Geschehen musikalisch in unsere Zeit („Rosenstolz“ lässt grüßen). Dennoch entstehen keine Differenzen zwischen der Fünfziger-Jahre-Geschichte und der Gegenwart. Denn Jugendliche müssen in jeder Zeit ihren eigenen Weg suchen. Und dass Mutter Caterina immer wieder ein wenig operettenhaft zu singen hat, verstärkt auf ironische Weise den Charakter dieser aus der Zeit gefallenen Persönlichkeit. Katja Uhlig legt dazu alleine durch die komplett verkrampft durchgestylte Körperhaltung eine herrlich persiflierende Mutter-Studie aufs Parkett. Und dass sie gut singen kann und auch klassisch-hohe Spitzentönte beherrscht, vervollständigt ihre herausragende Darstellung. Sandra Leitner lässt als Monika unter der virtuos gespielten verdrucksten Schüchternheit immer wieder das Temperament aufblitzen, das sich dann explosionsartig bei der Rock ’n’ Roll-Fete entlädt. Dabei kommt David Jakobs als Freddy schauspielerisch und sängerisch groß heraus. Es geht unter die Haut, wenn bei seinen Charme-Attacken auf Monika immer wieder auch sein KZ-Trauma durchbricht.

Zu den Stärken dieses Musicals gehört generell, dass die in den fünfziger Jahren repressiven Einstellungen zu Homosexualität, Kommunismus, Nazi-Vergangenheit und Kultur so in die Story eingebettet sind, dass immer das Gleichgewicht gewahrt bleibt: zwischen Weinen und Lachen, Tragik und Glück, zwischen intimen Szenen zu zweit und temperamentvollem Gesamtensemble, zwischen leisen Tönen und groovendem Megasound, zwischen Sprechen und Singen. Dafür wurde in der Premiere neben dem gesamten Bühnenensemble zurecht auch das Kreativ-Team gefeiert: Christoph Drewitz für das Gesamtkonzept einschließlich einer klug und gekonnt durchdachten Menschenführung; Jonathan Huor für seine Choreografie, die den szenischen Ablauf zum bewegenden wechselnden Tanz des Lebens werden lässt; Caspar Hachfeld für die facettenreiche musikalische Leitung des Ensembles und seiner großartig aufspielenden Combo; und Ausstatter Andrew D. Edwards für ein Bühnenbild, das durch technische Mobilität und ausgefeiltes Lichtdesign (Tim Deiling) immer wieder wechselnde Szenarien ermöglicht.

Dieses bewegende und zugleich unterhaltsame Musical hat das Zeug dazu, Kult zu werden. Hingehen!

Claus-Ulrich Heinke

„Ku’damm 56 – Das Musical“ (2021) // Musical von Annette Hess (Buch), Peter Plate und Ulf Leo Sommer (Musik)

Infos und Tickets auf der Website von Stage Entertainment

3. Dezember 2021

„Eine Orgie lebendigster Narrheit“

Rouen / Opéra de Rouen Normandie (November 2021)
Rekonstruktion der Urfassung von Offenbachs „La vie parisienne“

Rouen / Opéra de Rouen Normandie (November 2021)
Rekonstruktion der Urfassung von Offenbachs „La vie parisienne“

Für Karl Kraus war „La vie parisienne“ „eine Orgie lebendigster Narrheit“ und Jacques Offenbachs „stärkster Geniebeweis“, weil ihm hier „die Verzauberung der aktuellsten Gegenwart“ gelang. Und das war die des Jahres 1866, als die Operette im Théâtre du Palais-Royale, einer Schauspielbühne, mit großem Erfolg herauskam. Allerdings hatten damals einige Schauspieler Schwierigkeiten, manche Nummern zu singen, sodass sie vom Komponisten noch während der Proben gestrichen und seitdem vergessen wurden.

Jetzt sind sie wieder aufgetaucht und erleben an der Opéra de Rouen Normandie ihre verspätete Uraufführung. Zu verdanken ist dies dem Palazzetto Bru Zane, einer Stiftung zur Pflege vergessener französischer Musik des 19. Jahrhunderts, die dank der Millionen einer großzügigen Mäzenatin und der Expertise ihres künstlerischen Leiters Alexandre Dratwicki in den letzten Jahren einige spektakuläre Ausgrabungen auf die Bühne gebracht hat. Gefunden haben er und seine Kollegen nicht nur „die Orchesterstimmen der Uraufführung und das Originallibretto“ von „La vie parisienne“, sondern auch „einen komplett anderen 4. Akt, neue Finali des 2. und 3. Akts, eine Arie des Urbain, eine ‚Don Giovanni‘-Pantomime nach Mozart und das ‚Trio diplomatique‘, in dem es darum geht, wer effektiver ist: Soldat oder Diplomat“.

So philologisch interessant also die Uraufführung dieser Urfassung auch ist, noch mehr Erwartungen weckt die Tatsache, dass Modeschöpfer Christian Lacroix Regie und Ausstattung übernommen hat. Er stellt ein schlichtes, aber effektvolles Halbrund in typischer Eisen-Glas-Konstruktion des 19. Jahrhunderts auf die Bühne und frönt seiner, wie er im Programmheft bekennt, „fast schon pathologischen Passion für historische Kostüme“. Und das ausgiebig: Männer mit gewaltigen Bärten und Frauen mit windschiefen Frisuren geben sich ein schräges Stelldichein, passend zur überdrehten Handlung. Da geben sich zwei Pariser Lebemänner als Fremdenführer aus, um eine schwedische Baronesse zu verführen, die mit ihrem Mann Paris besucht. Sie führen das Touristenpaar nach Strich und Faden an der Nase herum, kommen trotzdem nicht zum Zug, am Ende aber haben sich alle amüsiert.

In den ersten zwei Akten von Lacroix’ Inszenierung gibt es kaum Unterschiede zur üblichen Fassung – nur dass die Schweden Dänen sind, Schumacher Frick und Handschuhmacherin Gabrielle deutsch radebrechen und bei jeder Gelegenheit losjodeln, was im zweiten Finale ad absurdum geführt wird, wenn sie – im Bund mit den anderen deutschen Schuhmachern – der Bouillabaisse der derben Fischweiber aus Marseille deutsch Paroli bieten: „Sauerkraut mit Schink und Wurst, gibt mir immer, immer Durst!“ Ein grotesker Höhepunkt, von Florie Valiquette und Éric Huchet erzkomödiantisch ausgespielt. Überhaupt ist ein erstklassiges junges und spielfreudiges Ensemble aufgeboten, aus dem außerdem noch Aude Extrémo als Métella und Frank Leguérinel als Gondremarck herausragen. Nur aus dem Orchestergraben würde man sich von Romain Dumas manchmal mehr Leichtigkeit wünschen.

Und die kommt nach der Pause auch der Inszenierung etwas abhanden, was freilich vor allem am problematischen vierten Akt liegt, der schon bei der Uraufführung ernüchternd „wie Eiswasser“ gewirkt hat. Dabei hatte ihn Offenbach bereits während der Proben völlig umgekrempelt. Wie er ursprünglich geklungen hätte, ist jetzt in Rouen erstmals zu hören. Aber auch hier will er nicht recht zünden und so bleibt die grundsätzliche Frage, ob es 1866 nicht doch besser war, das Werk während der Proben umzuarbeiten. Macht es Sinn, Offenbachs eigene mühevolle Arbeit wieder rückgängig zu machen? Ist für die Operette nicht doch die Bühnenpraxis letztlich wichtiger als die Intentionen der Autoren? Und kann es in diesem Genre also überhaupt eine Urfassung geben?

Auch die Produktion in Rouen, so opulent und amüsant sie auch ist, kann darauf nur bedingt Antwort geben.

Dr. Stefan Frey

„La vie parisienne“ („Pariser Leben“) (1866) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach in der rekonstruierten und seinerzeit unveröffentlichten Urfassung

Infos und Termine zu einer weiteren Vorstellungsserie am Théâtre des Champs-Elysées, Paris (21. Dezember 2021 bis 9. Januar 2022)

3. Dezember 2021

Dienst nach Vorschrift

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (November 2021)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit der Anmutung von fader Pflichtübung

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (November 2021)
Wagners „Tristan und Isolde“ mit der Anmutung von fader Pflichtübung

Intendant Uwe Eric Laufenberg ist ein streitbarer Mann, der kein Blatt vor den Mund nimmt. Man mag dazu stehen, wie man will, durch seine strikte Parteinahme für die künstlerische Berufsfreiheit trotz Pandemie nimmt er eine notwendige Position im Meinungsspektrum ein. Als Regisseur freilich sorgt Laufenberg nun für Ennui. Offenbar handelt es sich nicht einfach um ein Misslingen, wie es auch dem versiertesten Regisseur passieren kann. Vielmehr kommt die Produktion daher, als würden der Spielleiter und sein Bühnenbildner Rolf Glittenberg demonstrativ unter ihren Möglichkeiten bleiben. Wer also nach einem „Tristan“ wie nach Dienstvorschrift sucht, wird in der hessischen Landeshauptstadt fündig.

Handwerklich sauber inszeniert Laufenberg ziemlich genau am Text entlang. Als Schlagobers dienen ihm – in der Liebesnacht – eine Isolde mit prächtiger Theaterkrone, weniger Wagner’sche Titelfigur als Corona-Queen, zudem kopulationswillige Paare in hautengen Trikots, im Schlussakt dann ein alsbald im Krankenhausbett sein Leben aushauchender Tristan-Doppelgänger, während der Held selbst von Andrea Schmidt-Futterer in Stoffbinden versenkt über die Bühne geistert. Final darf der Verblichene mit Isolde wohin auch immer schreiten. Zuvor freilich muss eine Kompanie Statisten ohne sonderliche choreografische Präzision in die Gruft sinken.

Berührendes ergibt sich beinahe aus Versehen, so im großen Liebesduett des zweiten Aktes voll intensiver, vor Mikrospannungen beinahe berstender Statik. Die aber weitgehend neutralisiert wird, weil sich im Hintergrund allerlei Kintopp abspult. Identifizierbar ist Q’orianka Kilcher als Pocahontas in „The New World“. Rolf Glittenbergs Bühnenbild beschränkt sich im Wesentlichen auf den farblich immer stimmig ausgeleuchteten Rundhorizont.

Musikalisch präsentiert sich die Produktion durchwachsen. Albert Horne lässt den Chor des Hessischen Staatstheaters undifferenziert durch die Gegend brüllen. Michael Güttler entlockt den Streichern des Hessischen Staatsorchesters so einiges an Klangrausch, die Holzbläser bleiben unspezifisch, das Blech dröhnt mit dem Chor um die Wette. Barbara Havemans Isolde läuft im Mittelakt zur Hochform auf. Sie phrasiert sinnfällig, die Stimme glüht. Marco Jentzsch steht die Torturen der Titelpartie mit vokaler Akkuratesse und im Schlussakt ebenso gesteigerter wie perfekt kontrollierter Emphase durch. Für einen Tristan ist die Stimme außerordentlich schlank, Farbpalette und Schattierungsmöglichkeiten halten sich in Grenzen. Khatuna Mikaberidze ist eine tieftraurig-poetische Brangäne. Thomas de Vries gibt einen soliden Kurwenal. Young Doo Park verströmt sich ebenso monumental wie balsamisch als Marke. 

Michael Kaminski

„Tristan und Isolde“ (1865) // Oper von Richard Wagner

Infos und Termine auf der Website des Theaters

3. Dezember 2021

Uneinheitliche Qualitäten

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (November 2021)
Wagners „Rheingold“ entführt in den Zirkus

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (November 2021)
Wagners „Rheingold“ entführt in den Zirkus

Dass Stephan Kimmigs Inszenierung vom Publikum kontrovers aufgenommen würde, war zu erwarten: Ein Zirkus als Wagner-Spielebene bietet per se Empörungspotenzial. Dabei ist das Zirzensische beim Bayreuther „Meister“ nicht von der Hand zu weisen – alleine der Blick an die Decke „seines“ Festspielhauses assoziiert die Anmutung eines Zirkuszelts. Und haben schließlich nicht auch Verwandlungen eines Menschen in einen Drachen oder eine Kröte etwas Zauberhaftes, Figuren wie Mime etwas Clowneskes, die Rheintöchter etwas Akrobatisches?

Kimmig nimmt diesen spielerischen Gedanken auf und führt zugleich eine Gesellschaft vor, deren Oberanführer sich aus der Verantwortung stiehlt und im Nibelheim-Bild demonstrativ seine Verachtung darüber zeigt, „dort unten“ eine kurze Zeit seines feudalen Lebens verbringen zu müssen, wo Freia ein vergnügungssüchtig-flippiges Flittchen ist und Göttergattin Fricka längst dominant den Laden zusammenhält. Der Regisseur profiliert scharf seine einzelnen Figuren, was bei einer hervorragenden Fricka-Darstellerin wie Rachael Wilson zu volumenreicher, intensiv deklamierter Bühnenpräsenz führt, wohingegen sich Leigh Melrose, der einen fulminanten Alberich spielt, in Sachen Tongenauigkeit ziemlich durch die Partie mogelt.

Die übrigen stimmlichen Leistungen bewegen sich auf gutem, teils sehr gutem Niveau, wobei die meisten Sängerinnen und Sänger in ihren Partien erfolgreich debütieren. Moritz Kallenberg verleiht dem Froh tenoralen Schmelz, Paweł Konik gibt einen starken Donner, David Steffens einen genauso kernigen wie lyrisch empfindsamen Fasolt und Adam Palka bassgesättigt den Fafner. Als Charaktertenor überzeugt Elmar Gilbertsson als Mime und brilliert Matthias Klink als Loge; die Herrenriege komplettiert mächtig und markant der Wotan von Goran Jurić. Stine Marie Fischer singt leuchtkräftig die Erda, Esther Dierkes mit rollentypisch mädchenhaftem Timbre die Freia, und im homogenen Rheintöchter-Terzett gefallen die großstimmige Woglinde (Tamara Banješević), die mit vollem Mezzo ausschwingende Wellgunde (Ida Ränzlöv) und die gehaltvolle Floßhilde (Aytaj Shikhalizade).

Am Pult bietet Cornelius Meister ein uneinheitliches Bild. Es sind starke Momente zu hören wie im akzentuierten Zwischenspiel zum dritten Bild, genauso feinnervige Farbschattierungen zur Arie von „Weibes Wonne und Werth“, daneben jedoch immer wieder eines Orchesters dieser Größenordnung unwürdige Trompeten- und Hörnerpatzer, ein sprödes Vorspiel fern von präimpressionistischem Klangweben und mit insgesamt 2’35 eine viel zu breite Anlage der Tempi. „Wenn ihr nicht alle so langweilige Kerle wärt, müßte das ‚Rheingold‘ in zwei Stunden fertig sein“, schimpfte Wagner persönlich bei seinen eigenen Bayreuther Proben 1876. Darüber könnte der Stuttgarter GMD einmal nachdenken.

Dr. Jörg Riedlbauer

„Das Rheingold“ (1869) // Oper von Richard Wagner

3. Dezember 2021

Eindringliche politische Parabel

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (November 2021)
Paul Dessaus und Bertolt Brechts „Verurteilung des Lukullus“

Stuttgart / Staatsoper Stuttgart (November 2021)
Paul Dessaus und Bertolt Brechts „Verurteilung des Lukullus“

Der Handlungsrahmen spielt im antiken Rom: Der grausam seine unterlegenen Kriegsgegner behandelt habende Feldherr Lukullus muss sich in der Unterwelt für die Untaten gegenüber seinen Opfern verteidigen, die jetzt Gericht über ihn halten: ein von Lukullus gestürzter König samt der vergewaltigten Königin, versklavte Lehrer und Handwerker, ein Fischweib, das ihren zum Kriegsdienst gedungenen Sohn verloren hat; auch die niedergebrannten Städte finden in Paul Dessaus Oper eine Stimme.

Bertold Brecht reflektierte damit die Geschehnisse im NS-Deutschland und bot dem ebenfalls exilierten Paul Dessau den „Lukullus“ als Opernsujet an. Beide erhofften sich nach dem Krieg ein gesellschaftspolitisch gerechteres Deutschland in der DDR und entwickelten das Stück für die große Bühne der Deutschen Staatsoper weiter. Doch die sowjetische Kulturpolitik verlangte Streichungen, verlagerte die zurechtgestutzte Uraufführung an einen anderen Spielort und setzte den „Lukullus“ nach nur zehn Aufführungen vom Spielplan ab.

So spiegelte Brechts und Dessaus Oper auch unfreiwillig das neu sich etablierende Unrechtssystem im Osten Deutschlands und all die Enttäuschung darüber wider. Es ist das große Verdienst der Künstlergruppe „Hauen und Stechen“, in der brillanten Stuttgarter Neuinszenierung diesen Schmerz spürbar werden zu lassen und zugleich den Bogen in die Neuzeit zu schlagen. Im raffiniert mit Licht, Video und Bauten ausgestalteten Bühnenraum und mittels der höchst phantasievoll entworfenen Kostüme entstehen durchweg eindringliche Bilder, in denen die Regisseurinnen Franziska Kronforth und Julia Lwowski empfindsam den Klagen der Unterdrückten nachspüren, Lukullus als unbelehrbaren Potentaten vorführen und sich auch vor makabren Akzenten nicht scheuen.

Musikalisch zeigt die Staatsoper Stuttgart eine hervorragende Ensembleleistung. Gerhard Siegel singt die Titelrolle mit metallischem Timbre, darstellerischer Sensibilität und perfekter Textdeklamation. Altmeisterin Cheryl Studer (Tertullia) lässt einen noch immer betörend schönem Sopran und zarte Facetten hören. Bernhard Kontarsky gönnt ihr am Pult das lyrische Auspendeln, das Dessaus vielgestaltige Musik gleichermaßen verlangt wie perkussives Zupacken, geschärfte Bläserattacken oder außergewöhnliche Schattierungen aus tiefen Streichern, Harfe, Akkordeon und Trautonium.

Überdies überzeugen Friedemann Röhlig als nobler König, Simon Bailey als kerniger Totenrichter und die noch in höchsten Koloratur-Regionen zart und warm timbrierte Königin (Alina Adamski), wie auch Maria Theresa Ullrich als altes Fischweib ergreifend vom Verlust ihres Sohnes kündet. Dem Kinderstimmen-Quintett gebührt ein hohes Sonderlob, wie überhaupt der Kinderchor und der Staatsopernchor ausgezeichnet von Manuel Pujol und Bernhard Moncado auf ihre anspruchsvollen Aufgaben vorbereitet wurden.

Dr. Jörg Riedlbauer

„Die Verurteilung des Lukullus“ (1951) // Oper von Paul Dessau (Musik) und Bertolt Brecht (Libretto)

3. Dezember 2021

Zwischen Mode und Politik

Lübeck / Theater Lübeck (November 2021)
Ausgrabung von Erich Wolfgang Korngolds „Die stumme Serenade“

Lübeck / Theater Lübeck (November 2021)
Ausgrabung von Erich Wolfgang Korngolds „Die stumme Serenade“

Erich Wolfgang Korngold (1897-1957) darf man getrost ein Wunderkind nennen. Der Geniestreich, mit dem er sich 1920 in seiner Profession gleich ganz vorne anstellte, „Die tote Stadt“, hat es längst zurück ins Repertoire geschafft. Auch „Das Wunder der Heliane“. Und sogar für den „Ring des Polykrates“ des 18-Jährigen gab es schon Bühnenehren, inklusive Publikumserfolg. Dass sich der von den Nazis aus Deutschland Vertriebene in Amerika als Filmmusikkomponist verdingte, ist bekannt. Dass er sich freilich 1946 auch an einer Operette versuchte, ist eher was für Spezialisten.

Die Komödie mit Musik „Die stumme Serenade“, die erst 1954 in Dortmund szenisch uraufgeführt wurde, unterzog jetzt in Lübeck Regisseur Michael Wallner einem revuehaft inszenierten Praxistest. Heinz Hauser (Bühne) und Aleksandra Kica (Kostüme) sorgen mit verschiebbaren Spiegelwänden und opulenten Kostümen für den luftigen Rahmen eines durchgeknallten Hin und Her, bei dem Lovestory und Staatsstreich miteinander vermischt sind.

Modeschöpfer Andrea Coclé (exzentrisch präsent: Steffen Kubach) und Ministerpräsident Benedetto Lugarini (Rudolf Katzer) konkurrieren um die Gunst der divenhaften Schauspielerin Silvia Lombardi (Amelie Müller). Der Modeschöpfer kommt wegen der titelgebenden stummen Serenade zur Nachtzeit vorm Balkon der Angebeteten in Verdacht, deren Entführung im Schilde und einen Bombenanschlag auf den Regierungschef ausgeführt zu haben. Sozusagen auf einen Atem wird der Beklagte dann zum Tode verurteilt und kurz danach selbst Ministerpräsident. Das Personaltableau wird mit Reporter und Probierdame, Richter, Pater und Polizeichef angereichert – am Ende bekommt die personifizierte Anarchie, ganz gendereifrig, den Namen Carla Marcelini (Elisa Pape).

Schließlich taumelt alles auf ein Happy End zu. Komödie als Gesellschaftssatire gehört zum Kerngeschäft der Operette. Die ziemlich abstrusen jähen Wendungen des Librettos retten sich immer gerade noch rechtzeitig in Situationskomik, stehen einem geschmeidigen Ablauf per Nummernfolge aber auch im Wege.

Da Korngolds zündende Musiknummern dank Paul Willot-Förster und den Musikern des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck in besten Händen sind, bahnen die sich allemal auf eigene Faust ihren Weg ins Publikum. Von dem werden sie dankbar aufgenommen. Eine interessante Ausgrabung – aber auch nicht annähernd mit den Chancen der „Toten Stadt“ auf einen Platz im Repertoire.

Dr. Joachim Lange

„Die stumme Serenade“ (1946) // Komödie mit Musik von Erich Wolfgang Korngold

Infos und Termine auf der Website des Theaters

3. Dezember 2021

Patronin der Kirchenmusik

Hattingen / pianopianissimo musiktheater (November 2021)
Späte Uraufführung von Anton Urspruchs „Die heilige Cäcilia“

Hattingen / pianopianissimo musiktheater (November 2021)
Späte Uraufführung von Anton Urspruchs „Die heilige Cäcilia“

Widriger hätten die Umstände kaum sein können: zuerst die wieder aufflammende Corona-Epidemie, die auch zu einigen Absagen im Ensemble führte, dann verstarb kurz vor der Premiere auch noch der Regisseur. Trotzdem fand die Uraufführung von Anton Urspruchs Oper „Die heilige Cäcilia“ in der Gebläsehalle der Henrichshütte in Hattingen statt. Zehn Jahre lang hatte Regisseur, Intendant und Publizist Peter P. Pachl daran gearbeitet. Doch kurz nach Beginn der Proben erkrankte er schwer und verstarb sehr plötzlich am 15. November 2021 im Alter von 68 Jahren. Die Aufführung wurde zu seinem Vermächtnis.

„Unmögliches möglich machen“, das war der Leitspruch Pachls, der sich mit seinem „pianopianissimo musiktheater“ mit Vorliebe seltenen Opernraritäten wie etwa Siegfried Wagners „Sonnenflammen“ widmete. Als musikalisches „Trüffelschwein“ war er bekannt, als „Verführer und Ermöglicher“ wurde er trotz mancher Kritik geschätzt. „Sein Verlust wird in der ganzen Opernwelt zu spüren sein“, resümierte der Musikpublizist Norman Lebrecht in seinem Blog.

2011 hatte Pachl bereits Urspruchs Oper „Das Unmöglichste von Allem“ auf die Bühnenbretter gebracht. Danach entdeckte er dessen Oper über die Heilige Cäcilia, die dieser um das Jahr 1900 begonnen hatte. Als Urspruch im Januar 1907 starb, war nur der erste Akt fertig komponiert und orchestriert. Die weiteren Teile der Oper lagen lediglich in Form eines Klavierauszuges vor. Der Düsseldorfer Musikwissenschaftler und Kirchenmusiker Ulrich Leykam stellte die vieraktige Oper anhand dieses Materials fertig und übernahm nun bei den Aufführungen die musikalische Leitung.

Die Regie in den Endproben lag nach Pachls Tod in den Händen des jungen chinesischen Regisseurs Chang Tang. Er musste das Konzept völlig umstellen und den neuen Gegebenheiten anpassen. Das Ergebnis könnte man am ehesten als halbszenisch beschreiben, aber angesichts der ebenso komplizierten wie tragischen Vorgeschichte der Produktion verbietet sich ein Urteil hierüber. Die sängerischen Leistungen sind teilweise ausgezeichnet, hervorzuheben hier insbesondere zwei Namen: Uli Bützer als Präfekt und Marie-Luise Reinhard als Witwe.

Das Orchester ist in Form des Bayreuth Digital Orchestra – im Übrigen auch eine Initiative des unermüdlichen Pachl – nur virtuell zugegen. Eine Notlösung, die dieses Projekt allerdings überhaupt erst realisierbar machte. Zwar klingt das mittels der Notationssoftware Sibelius generierte Orchester nicht so sonor wie ein originales, der grundsätzlichen Qualität der in spätromantischer Üppigkeit schwelgenden und stilistisch zwischen Wagner und Humperdinck angesiedelten Musik Urspruchs tut dies aber keinen Abbruch.

Insgesamt kann man froh sein, dass es Urspruchs Stück endlich auf eine Bühne geschafft hat. Zu wünschen wäre ihm freilich ein großes Opernhaus, ein reales Orchester und eine nicht unter solch schweren Bedingungen zustande gekommene Produktion. Die Musik des 1850 in Frankfurt als Enkel eines jüdischen Kantors geborenen Urspruch, der immerhin ein erklärter Lieblingsschüler von Franz Liszt war, würde es durchaus lohnen.

Guido Krawinkel

„Die heilige Cäcilia“ (2021 szenisch posthum uraufgeführt) // Oper von Anton Urspruch (1850-1907), vervollständigt von Ulrich Leykam

2. Dezember 2021

Schlachthaus-Atmosphäre

Hannover / Staatsoper Hannover (November 2021)
Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ mit der Wucht der griechischen Tragödie

Hannover / Staatsoper Hannover (November 2021)
Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ mit der Wucht der griechischen Tragödie

Schon allein dadurch, dass die Premiere von Stephen Sondheims „Sweeney Todd“ am Tag nach dem Tod des Komponisten stattfindet, wird sie zur Denkwürdigkeit, durch ihre Hochklassigkeit aber zu einer echten Hommage. Regisseur Theu Boermans destilliert aus der Moritat um den Serienmörder aus der Londoner Fleet Street ein Drama von existentieller Wucht. Todd ist ein Entrechteter und Ausgegrenzter wie Büchners Woyzeck, doch, wenngleich seelisch waidwund, im Gegensatz zu diesem keine bleiche und ausgemergelte Gestalt. Kräftig und von kompakter Statur, schlachtet er seine Unterdrücker ab. Schmerzlicher Nihilismus erfasst den Barbier, die Welt ist wert, dass sie zugrunde geht. Todds Leiden und Rachemorde sind Eruptionen. Die Geschäfts- und Lebenspartnerschaft mit der Pastetenbäckerin Mrs. Lovett nimmt er eher in Kauf, als sich daran zu erfreuen. Die dem Sujet innewohnende Bizarrerie und Skurrilität verlagert Boermans beinahe vollständig in die Figur der aufstiegsorientierten Kleinstbürgerin und ihren Kontrast von wohlanständiger Fassade und kannibalischer Lebensmittelproduktion. Dabei zeigt sich jeder Bühnenbildrealismus weitgehend auf die Schlachthaus-Aspekte des Werks reduziert.

Bernhard Hammer visualisiert die durchrationalisierte Pastetenherstellung von Barbier-Tötungsstuhl und Leichenschacht bis hin zum Keller, in dem die Kadaver ihrer Verarbeitung entgegen schimmeln, Fleischwolf und Backofen. Solche Details sind einer abstrakten Skulptur eingefügt. Das Bildwerk kann zu einem Gewirr von Gängen auseinanderfahren, in dem die Figuren auf Ab- und Irrwege geraten, mitunter schließt es sich zur schiefen Ebene. Als einzige Anspielung auf das viktorianische England präsentiert sich die Spielfläche mit bühnenportalhohen Wolkenstores umgeben. Auch Mattijs van Bergens Kostüme abstrahieren, nähern sich aber, soweit bei solcher Konzeption möglich, dem Heute an.

Wie die szenische, so überzeugt auch die musikalische Seite. Lorenzo Da Rio steuert den Staatsopernchor auf dem durchschlagskräftigen Kurs einer antiken Tragödie. Allzu massiv und lautstark lässt James Hendry zunächst das Niedersächsische Staatsorchester tönen. Im Lauf des Abends gewinnt der Klangkörper an Subtilität und Transparenz. Scott Hendricks verleiht der Titelfigur darstellerische und vokale Monumentalität. Ragend in Zorn und Leiden, zielt Hendricks ebenso großvolumiger wie kernhafter Bariton dennoch auf Nuancierung. Patent und willens, dem prekären Dasein zu entkommen, siedelt die immer einmal wieder auf Hamburger Platt parlierende Anne Weber ihre Mrs. Lovett jenseits von Gut und Böse an. James Newby gibt einen leidenschaftlichen Anthony. Für Johanna bietet Nikki Treurniet ihre satte runde Tongebung auf. Daniel Eggert ist der lüstern-selbstgerechte Richter Turpin. Hell timbriert und höhensicher maskiert Philipp Kapeller seinen Büttel Bamford mit bürgerlicher Ehrbarkeit. Voll tenoraler Emphase schwant dem Tobias von Marco Lee Fürchterliches über die Machenschaften in der Pastetenbäckerei.

Michael Kaminski

„Sweeney Todd, the Demon Barber of Fleet Street“ (1979) // Musical Thriller von Stephen Sondheim

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