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Rezensionen

29. Mai 2023

Kehraus mit Händel

Berlin / Komische Oper Berlin (Mai 2023)
Abschied von der Behrenstraße mit dem Oratorium „Saul“

Berlin / Komische Oper Berlin (Mai 2023)
Abschied von der Behrenstraße mit dem Oratorium „Saul“

Die Opern und Oratorien von Georg Friedrich Händel gehören seit Jahrzehnten zum Kernrepertoire der Komischen Oper Berlin. So gesehen ist es nur recht und billig, als letzte Premiere der Spielzeit und vorerst letzte im neobarocken Theatersaal vor seiner umfassenden Renovierung ein Händel-Oratorium zu wählen.

„Saul“ komponierte Händel 1739, den Charakter des Konzertstückes kann es nicht verleugnen. Es als dramatisches Werk auf die Bühne zu bringen, ist kein leichtes Unterfangen. Axel Ranisch, der mit ein paar Filmen eine gewisse Popularität erreicht hat, unternimmt diesen Versuch, ohne aber zu einer überzeugenden Dramaturgie zu finden. Auffällig ist, dass er nie die Tiefe der Bühne nutzt, die teilweise auch mit Kulissen vollgestellt ist, und die handelnden Personen an die Rampe zwingt. Was im zweiten Teil eine silberne Discokugel und riesige Lautsprecher auf der Bühne zu suchen haben, bleibt unklar. Die für ihre Spielfreude und Virtuosität berühmten Chorsolisten des Hauses verdammt Ranisch zu beständigem Fahnenschwenken, dessen optische Wirkung sich durch Wiederholung schnell erschöpft. In der letzten Szene wird viel Theaterblut eingesetzt, auf dem beim Schlussapplaus ein Solist nach dem anderen ausrutscht. In der Summe also eine wenig überzeugende szenische Umsetzung.

Musikalisch fällt die Aufführung deutlich ansprechender aus. Dirigent David Bates, am Haus bereits mit Gluck erfolgreich, verfügt über die straffe Hand, derer es bedarf, um Chor, Solisten und das zum Teil auf Instrumenten der Zeit spielende Orchester zu koordinieren. Das gelingt ihm vortrefflich, schon nach der Pause wird er dafür mit starkem Applaus gefeiert. Bei den Solisten dominieren diesmal eindeutig die Herren. Luca Tittotos schlanker Bariton ist ein überragender Saul, Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen erobert das Publikum als David mit betörend schönen Kantilenen, einen guten Kontrast dazu bietet Tenor Rupert Charlesworth als Jonathan. Tansel Akzeybek verleiht dem Hohepriester Würde und Statur. Dagegen fallen Nadja Mchantaf als Michal mit ein wenig spröder Höhe und Penny Sofroniadou mit etwas hartem Sopran doch deutlich ab.

Am Ende wird das ganze Ensemble einschließlich des hervorragend aufspielenden Orchesters frenetisch gefeiert. Regisseur Ranisch übersteht den Abend ebenfalls ohne Missfallenskundgebung, dafür ist seine Inszenierung zu beliebig. Auch Buhs wollen schließlich verdient werden. In den lang anhaltenden Schlussapplaus mischt sich Wehmut. Mindestens acht Jahre sind für die Sanierung und Erweiterung des Hauses veranschlagt, bei der Verlässlichkeit solcher Angaben dauert es wohl deutlich bis in die 2030er Jahre, ehe man wieder auf den roten Plüschsitzen Platz nehmen kann. Bis dahin wird auf alternative Spielstätten ausgewichen.

Peter Sommeregger

„Saul“ (1739) // Oratorium von Georg Friedrich Händel

28. Mai 2023

Goldkind trifft auf Enfant terrible

Eggenfelden / Theater an der Rott (Mai 2023)
Überzeugende deutschsprachige Erstaufführung der Kinderoper „Schattenkind“

Eggenfelden / Theater an der Rott (Mai 2023)
Überzeugende deutschsprachige Erstaufführung der Kinderoper „Schattenkind“

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“: Goethes „Faust“-Thematik besagt, dass in jedes Menschen Seele helle und dunkle Seiten wirken. Sich ihrer bewusst zu werden und sie im besten Fall miteinander auszusöhnen, gilt als wichtiger Faktor psychischer Gesundheit. „Eltern haben, selbst bei einem Einzelkind, immer zwei Kinder“, heißt es eingangs in Cecilie Ekens preisgekröntem Gedichtband „Mørkebarnet“ („Schattenkind“). In der Komposition von Peter Bruun und dem Libretto von Jesper B. Karlsen verdient es sich unter der Regie von Andreas Weirich einen Stern am Kinderopernhimmel.

Die deutschsprachige Erstaufführung von „Schattenkind“ punktet in gleich mehrfacher Hinsicht als dankbares Sujet. In rund 50 Minuten Spieldauer kommen innerhalb der Opernhandlung auf unterschiedlichen Erfahrungsebenen unbequeme Eltern-Kind-Konflikte aufs Tapet. Dabei werden die Kinder in einer modernen Inszenierung an das Operngenre herangeführt. So wird das Publikum von morgen in kurz gehaltenen Gesangspartien und gesprochenen Textpassagen dafür sensibilisiert, wie stark Musik und Lichteffekte Stimmung erzeugen und dass ausdrucksstarkes Spiel mehr zu sagen vermag als Worte. Über aufgeworfene Fragen, Emotionen oder Erkenntnisse ließe sich nach- (oder bestenfalls auch) vorbereitend diskutieren – ob im Unterricht oder Elternhaus.

Eva Maria Amann sitzt als Lichtkind bei Vorstellungsbeginn im Zuschauerraum und schreibt traumversunken in ihr Tagebuch. Dann taucht sie in ihre Fantasiewelt ein, betritt die Bühne ihres Kinderlebens – liebmädchenhaft lächelnd, ein Goldkind. Zwei Stellwände (Ausstattung: Florian Angerer) versinnbildlichen ihr aufgeschlagenes Tagebuch, bieten aber auch eine Projektionsfläche für Schattenspiele: Danae Mareen erscheint als Schattenkind – wild und ungezähmt, ein wenig bedrohlich. Kaum treffen die beiden unterschiedlichen Mädchen aufeinander, wird ihr Dilemma offenbar. Die eine lockt verführerisch mit der Freiheit zu verbotenen Abenteuern, die andere pocht, brav und fein, auf uralte Regeln. Handfeste Auseinandersetzungen, Beschimpfungen und ein grausamer Goldfischmord: Während die eine, als „Gottesgabe“ im Garten Eden des liebenden Elternhauses erwünscht, auf einer Schaukel die Sonnenseite des Lebens feiert, fristet die andere in Ablehnung und Einsamkeit als Enfant terrible ein trauriges (Schatten-)Dasein.

Engelchen oder Bengelchen? Kein Kind ist immer nur brav oder böse. Gerade diese Ambivalenzen bieten ein Sprungbrett für die klangfarbenreiche musikalische Bearbeitung, die, von Jovan Tomic in solistischem Akkordeonspiel kultiviert, ein ganzes Orchester ersetzt – genial. Ob Forte, Adagio, laut oder leise, tief seufzend oder über die Tasten polternd: Musik, Gesang (musikalische Leitung: Dean Wilmington) und das erfreulich authentische Spiel der beiden Darstellerinnen werden eins. Das geht, wie auch die hoch sensiblen und stimmlich bravourösen Leistungen in den Gesangspartien, den Kindern als variationsreicher Emotionscocktail direkt unter die Haut.

Kirsten Benekam

„Mørkebarnet“ („Schattenkind“) (2012) // Kinderoper von Peter Bruun in einer Übersetzung von Peter Urban-Halle

16. Mai 2023

Von der Psychologie des Krieges

München / Bayerische Staatsoper (Mai 2023)
Verdis „Aida“ aus der Sicht der Leidenden

München / Bayerische Staatsoper (Mai 2023)
Verdis „Aida“ aus der Sicht der Leidenden

Statt goldener Elefanten paradieren Kriegsversehrte zum Triumphmarsch – erschreckend stimmig zur Musik und mit vorherrschender Botschaft: Krieg ist furchtbar, egal wo. In diesem Setting eines im Kostümbild von Carla Teti angedeuteten östlichen Regimes manifestiert Regisseur Damiano Michieletto Verdis Festmusiken gekonnt zu brutalen Stilmitteln musikalischer Kriegspropaganda. In bläulich-kalt ausgeleuchteten, nicht klar definierten Phantasieräumen (Bühne: Paolo Fantin) – zerbombte Wohnungen, Notunterkünfte – rieselt mehr und mehr Asche aus großen (Einschlag-?)Löchern von der Decke. Nach der Pause dominiert ein riesiger Ascheberg beinahe vollständig die Bühne und hat alles unter sich begraben.

Und in diesem Ansatz liegt auch die große Stärke seiner dystopischen Umdeutung: Michieletto nutzt die kammermusikalische Werkanlage und erzählt die Geschichte ohne jeden Pomp, vor dem Hintergrund einer morbiden Kriegsgeschichte und aus der persönlichen Sicht der Leidenden: Held liebt die falsche Frau, die strategisch passendere Rivalin wird nicht erhört, der Held zum Verräter degradiert und am Ende glücklich im gemeinsamen Tod mit der unselig Geliebten. Dabei weichen gängige goldene Ägypten-Klischees der dystopisch-pazifistischen Deutung, etwa wenn parallel zur Huldigung als Kriegsheld eine zweite Video-Handlungsebene Radamès’ psychisches Kriegstrauma thematisiert. Dass erzählerisch nicht immer alles in Gänze aufgeht und am Ende beim Tod in der Gruft etwas zu viel „Luftballon-Idylle“ herrscht, ist nicht weiter schlimm. Erschreckend offensichtlich fügen sich Triumph und Zerstörung sogar musikalisch stimmig ineinander – den einen oder anderen schaurigen Gänsehautmoment inklusive.

Die Schwächen dieser Produktion stecken leider ausgerechnet im wenig homogenen Solisten-Ensemble: Brian Jagde singt den Radamès durchgehend laut, unsensibel und ohne emotional erkennbarem Bezug zur Angebeteten – seine hohen Töne sind manchmal wirklich zu viel des Guten. George Petean als Amonasro klingt im Gegensatz dazu oft harmlos und kommt stellenweise gar nicht über das sehr deftig aufspielende Bayerische Staatsorchester unter Daniele Rustioni. Anita Rachvelishvilis Amneris kämpft sich mehr durch die Partie, als dass sie diese stimmlich gestaltet, die Aida der zu Beginn etwas nervösen Elena Stikhina könnte eine sensible, berührende sein – wenn ihre feinfühlige und innige Interpretation nicht von den Kollegen über den Haufen gesungen würde. Dass sie in ihrer körperlichen Präsenz samt (gewollt) unscheinbarem Kostüm nicht gegen die (übrigens sehr unvorteilhaft gekleidete) Rivalin ankommt, macht es auch nicht besser. Trotzdem mit Abstand die beste sängerische Leistung des Abends. Positiv und bühnenpräsent auch Alexandros Stavrakakis als König, stimmschön Alexander Köpeczi als Ramfis. Ausgesprochen beeindruckend und spannungsgeladen gestaltet der Chor (Einstudierung: Johannes Knecht) die Pianissimi, die selbst von der Hinterbühne aus eine sehr ergreifende Wirkung entfalten.

Iris Steiner

„Aida“ (1871) // Oper von Giuseppe Verdi

Infos und Termine auf der Website der Bayerischen Staatsoper

9. Mai 2023

„Vergessen ist ein Menschenrecht“

Freiburg im Breisgau / Theater Freiburg (Mai 2023)
Uraufführung von Sara Glojnarićs Kammeroper „Neuro-Moon“

Freiburg im Breisgau / Theater Freiburg (Mai 2023)
Uraufführung von Sara Glojnarićs Kammeroper „Neuro-Moon“

Ein junges Paar entwickelt eine App, mit der man negative Erfahrungen löschen kann. Sara Glojnarićs neues Musiktheater „Neuro-Moon. Manage your Memories“, das im Kleinen Haus des Freiburger Theaters uraufgeführt wird, beschäftigt sich mit der Last der Erinnerung und dem Versuch, sich davon zu befreien. „Vergessen ist ein Menschenrecht“, deklamiert die selbstbewusste PR-Managerin Fenja (Mona Georgia Müller). Die Selbstoptimierungs-App wird zum Hype, ehe sich der Gesetzgeber meldet, dass auch die negativen Erinnerungen als Kulturgut gespeichert werden müssten. Nach einem Datencrash fliegt am Ende das ganze Entwicklerteam zum Mond, wo die neuen Server stehen – und lächelt in die Kamera.

Der Abend (musikalische Leitung: Friederike Scheunchen) beginnt mit einem ganz analogen Speichermedium. Die weiße, spacige Kostüme tragenden Musiker des ensemble recherche stanzen Lochstreifen aus, die sie in Spieluhren zum Klingen bringen. Nostalgische Klänge, die, digital bearbeitet, im Laufe des Abends immer wieder als Leitmotiv auftauchen. Wie überhaupt die Musik von Sara Glojnarić mit ihrer tonalen Grundlage, ihrer Transparenz und dem raffinierten, durchaus popartigen Synthie-Sound (Keyboard: Klaus Steffes-Holländer) überaus zugänglich ist. Vor allem schreibt die Komponistin, die gerade mit dem Förderpreis der diesen Kompositionsauftrag finanzierenden Ernst von Siemens Musikstiftung ausgezeichnet wurde, ganz traditionell für die Stimme.

Besonders große Kantabilität entfaltet Janina Staub als Programmiererin Selina in den vielen ruhigen, hoch liegenden Passagen. Mit betörendem Sopran erzählt diese Selina in der zweiten Szene von ihrer ersten, unglücklichen Beziehung, während ihr Freund Tilman (mit leichtem, warmem Bariton: Johannes Fritsche), der aufstrebende Neurologe, sich an den Selbstmord eines guten Freundes erinnert. Dazu sitzen die beiden auf der Couch und hören Claude Debussys „Clair de Lune“ auf dem Plattenspieler (Bühne und Kostüme: Sarah Mittenbühler). Bei manchen pathetischen Gesangsnummern wundert man sich über die zugrundeliegende, nüchterne Sprache der Librettistin Emma Braslavsky – wie im Duett „Neuro-Moon ist aufgegangen“, wenn Zeilen wie „Überlass Fenja die Geschäftsleitung“ mit großen melodischen Bögen versehen werden. Die gesprochenen Passagen sind stimmiger.

Mit dem Auftritt von Aslan (präsent: Yunus Schahinger) und Sumi (kristallin: Ani Yorentz), den beiden aalglatten, im Sessel fläzenden Firmenchefs, ändert sich die Musik. Christian Dierstein liefert harte Schläge am exponierten Drumset – schroffe Einwürfe statt wohlige Harmonien in den Streichern (Melise Mellinger/Violine, Åsa Åkerberg/Violoncello) und der Klarinette (Shizuyo Oka). Zur Vorbereitung der Mondfahrt kommt das ensemble recherche in der Bühnenmitte als Chor zusammen, während bereits goldene Tassen durch die Luft schweben (Video: Robert Läßig). Am Ende werden Papierhelme aufgesetzt. Und man bewegt sich zumindest musikalisch mit kreisenden Harmonien in die Schwerelosigkeit.

Georg Rudiger

„Neuro-Moon. Manage your Memories“ (2023) // Kammeroper von Sara Glojnarić

30. April 2023

Stoppt den Zug!

Wien / MusikTheater an der Wien (April 2023)
Mit Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ auf einer ermüdenden Reise

Wien / MusikTheater an der Wien (April 2023)
Mit Mieczysław Weinbergs Oper „Der Idiot“ auf einer ermüdenden Reise

Sein Leben wäre der ideale Stoff für ein Opernlibretto. Der beinahe in Vergessenheit geratene Komponist Mieczysław Weinberg (1919-1996) konnte auf ein schicksalsbewegtes Leben zurückblicken. Als Jude in Polen geboren, musste er 1939 vor den Nationalsozialisten fliehen. Russland war sein nächstes Ziel, weil er dort noch Verwandte hatte. Viele andere seiner Familie wurden Opfer von Hitlers Terrorregime. Weinberg geriet in die Fänge von Stalin, landete im Arbeitslager, und nur der Tod des Diktators bewahrte ihn vor dem sicheren Tod. Was für ein Lebensschicksal, was für eine Vision für eine packende Oper! Leider griff bis dato niemand das Thema auf, und Weinberg selbst suchte sich für seine Oper „Der Idiot“ (Libretto: Alexander Medwedew) den Roman von Fjodor Dostojewski aus. Eine gute Wahl?

Bereits nach einer halben Stunde in der österreichischen Erstaufführung durch das MusikTheater an der Wien steigen beim Zuschauer Zweifel auf. Zahnlos wirkt der Plot rund um den „reinen Toren“ Fürst Myschkin, der, geheilt von seiner Epilepsie, aus der Schweiz nach Russland zurückkehrt. Als er das Porträt der Prostituierten Nastassja erspäht, ist es um ihn geschehen und nicht nur, dass er sich in sie verliebt, er möchte die „Gefallene“ auch retten. In die Bürgertochter Aglaja verliebt er sich auch noch, taucht also zwischen den Damen und seinem Nebenbuhler Rogoschin in ein Wechselbad der Gefühle. Endlose Dialoge und Monologe weiter stirbt Nastassja durch das Messer Rogoschins. Niemand wurde erlöst oder gerettet, das Ende kommt einfach blutig daher.

Nun sollte es in einer Oper in erster Linie um Musik gehen. Mieczysław Weinberg war eng mit Dmitri Schostakowitsch befreundet. Einflüsse des tongewaltigen Förderers kann er nicht verleugnen. Im Gegenteil, man wünscht sich mehr von diesen aufwühlenden Tonwogen, die leider nur selten rollen. Übrig bleiben sich kräuselnde Wellen, die zäh dahin mäandern und ermüden. An der Langeweile des Publikums Schuld tragen sicherlich nicht die Sänger und schon gar nicht das ORF Radio-Symphonieorchester Wien unter der Leitung des ausgewiesenen Weinberg-Spezialisten Thomas Sanderling. Der Tenor Dmitry Golovnin (Myschkin) führt die ausgezeichnete Sänger-Riege an, die ukrainische Sopranistin Ekaterina Sannikova (Nastassja) weiß zu verführen, der russische Bassbariton Dmitry Cheblykov (Rogoschin) lässt die dunklen Töne wohlig rollen, herausragend meistern den Abend auch Petr Sokolov (Lebedjew) und Ieva Prudnikovaité (Aglaja).

Regisseur Vasily Barkhatov bemüht sich redlich, in den zähen Stoff Dynamik zu bringen. Ein Zugwaggon ist der Mittelpunkt der Bühne. Jede Szene beginnt mehr oder weniger gleich: Rogoschin spielt mit dem Messer, Myschkin fällt ein Kartenspiel zu Boden, Kinder spielen Ball. Täglich grüßt das Murmeltier. Dann geht die Reise weiter, aber nicht schnell genug. Die Protagonisten kleben fest, und weder das Libretto noch die Musik vermögen es, die Zuschauer mitzunehmen auf diese Reise durch die depressive Gefühlswelt. Nach dreieinhalb Stunden folgt ein höflicher, aber intensiver Applaus.

Susanne Dressler

„Идиот“ („Der Idiot“) (entstanden 1986-89; Uraufführung 1991/2013) // Oper von Mieczysław Weinberg

24. April 2023

Endzeitstimmung in Walhall

Neapel / Teatro di San Carlo (April 2023)
Wagners „Walküre“ im zersprungenen Bilderrahmen

Neapel / Teatro di San Carlo (April 2023)
Wagners „Walküre“ im zersprungenen Bilderrahmen

Im nach einer kürzlichen Renovierung wie neu erstrahlenden, wunderschönen Teatro di San Carlo holt man eine ansehnliche „Walküre“ von Richard Wagner aus dem Archiv, und zwar die Inszenierung von Federico Tiezzi aus dem Jahr 2005. Er zählt mit seinen szenischen Arbeiten zu den führenden Exponenten der italienischen Neo-Avantgarde und unterstreicht das mit der Wahl von Giulio Paolini als einem auf geometrische und architektonische Formen setzenden Bühnenbildner. Giovanna Buzzi schuf die äußerst geschmackvollen Kostüme aus der Entstehungszeit des Stücks.

Es geht Tiezzi vor allem darum, mit den Bildern von Paolini große Harmonie zwischen Wagners Musik und der Szene herzustellen, wobei die Personenregie allerdings bisweilen etwas zu kurz kommt. Drei unterschiedliche Bühnenbilder, in vornehmlich dezenten Pastelltönen, basieren auf einem schlichten neunzellig-kubischen Stangengerüst. Zu Beginn ist darin eine hölzerne stilisierte Weltesche zu sehen, mit dem Schwert durch die zersprungene Glasplatte eines goldenen Bilderrahmens im Stamm. Im zweiten Aufzug finden sich großen Meteoriten im Kubus, als sei Wotans Walhall aus dem All damit bombardiert worden. Bei den Walküren im dritten Aufzug, die sich auch an einer Heldenleiche anatomisch betätigen, dominieren wieder die goldenen Bilderrahmen mit Torsi und anderen Körperteilen griechischer und römischer Krieger.

Warum diese Bilderrahmen? Tiezzi sieht die „Walküre“ als ein bourgeoises Endzeit-Familiendrama à la „Buddenbrooks“, das seinem Untergang entgegengeht. Das vermag er insbesondere in der Figur des Wotan im zweiten Aufzug in dieser Bildästhetik nachvollziehbar darzustellen. Er könnte auch ein Alfred Krupp mit seinem Industrie-Imperium sein. Dazu passen die goldenen Bilderrahmen als Metapher für den entsprechenden Reichtum. Tiezzi sieht in Wotan aber nicht nur Bezüge zu Thomas Mann, sondern auch Shakespeare’sche Implikationen eines Mannes voller Zweifel wie Hamlet oder Richard II. In seinem Regiekonzept spielt sich die Handlung vor allem im Kopf der Akteure ab, was in manchen Szenen wie ein artifizielles Zurückhalten individueller Emotionen wirkt. Das gilt sogar für die Passion Siegmunds und Sieglindes, die fast wie in Trance agieren.

Jonas Kaufmann weiß dieses Konzept eindrucksvoll umzusetzen, zumal es zur Figur des Siegmund passt. Sein angedunkelter kerniger Tenor ist Garant für eine äußerst einnehmende Rollengestaltung. Christopher Maltman debütiert als Wotan mit großer vokaler und darstellerischer Performance, ganz die zentrale Rolle der Figur in dieser Inszenierung verkörpernd. Okka von der Damerau ist eine stimmlich kraftvolle Brünnhilde, bisweilen mit einer leichten Grellheit in den Spitzentönen. Vida Miknevičiūtė gibt eine exzellente Sieglinde, die hervorragend zu Kaufmann passt, und Varduhi Abrahamyan eine nachdrückliche Fricka. John Relyea besticht durch seinen klangvollen Bass und das Walküren-Oktett ist durchwegs bestens besetzt. Dan Ettinger dirigiert mit viel Verve das Orchestra del Teatro di San Carlo, welches seinen Vorgaben eindrucksvoll folgt.

Dr. Klaus Billand

„Die Walküre“ (1870) // Erster Tag des Bühnenfestspiels „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner

24. April 2023

Bunt-blumiges Spektakel

Leipzig / Oper Leipzig (April 2023)
Die Musikalische Komödie überzeugt mit Kálmáns „Veilchen vom Montmartre“

Leipzig / Oper Leipzig (April 2023)
Die Musikalische Komödie überzeugt mit Kálmáns „Veilchen vom Montmartre“

Als derzeit einziges Theater bringt die Musikalische Komödie Emmerich Kálmáns Operette „Das Veilchen vom Montmartre“ (vor ausverkauftem Haus). Die Handlung ist schnell erzählt: Drei erfolglose Künstler leben in ärmlichen Verhältnissen zusammen. Sie opfern ihr letztes Geld, um das Mädchen Violetta, genannt Veilchen, aus den Fängen ihres Vormunds zu befreien. Plötzlich wendet sich das Blatt und Violetta entpuppt sich als entführte Komtesse.

Szenisch setzt die Handlung in Form eines alten Films ein, mit allmählicher Titeleinblendung. Die Bühne (Leif-Erik Heine) besteht aus Versatzstücken aus Paris und vom Montmartre, so aus einem großen Aktportrait von Ninon, zwei Treppen, mehreren Häuserfronten, einem Fliederbaum sowie verschiedenen Street-Art-Kunstwerken des Malers Raoul, die alle Ninons Antlitz zeigen. Der zweite Akt entpuppt sich als revuehaft mit großer Showtreppe, der dritte spielt im Theatre Vaudeville mit rotem Vorhang und goldenen Statuen.

Beeindruckend sind die stimmlich-schauspielerischen Leistungen der Mitwirkenden. Besonders hervorstechend Adam Sanchez als bekleckster Maler Raoul Delacroix mit schmelzend-strahlendem Tenor – auch darstellerisch und bildlich die perfekte Verkörperung der Partie. Dies gilt ebenso für das Zweigespann Christina Maria Fercher und Mirjam Neururer als Violetta. Da Neururer unpässlich ist, spielt sie ihre Rolle und spricht die Dialoge, wird aber in allen Gesangspartien von Fercher von der Seitenbühne gesanglich vertreten. Die an der Staatsoperette Dresden engagierte Sopranistin bezaubert mit einer operettenhaft leichten, beschwingt-hellen Stimme und flüssig-fließenden Koloraturen, was auch vom Publikum begeistert honoriert wird. Mirjam Neururer spielt in lila Strickpullover und Zipfelrock gekonnt ein naives, einfaches, aber herzensgutes Mädchen. Als Burlesque-Tänzerin Ninon fasziniert Olena Tokar mit langen blonden Haaren und scheinbar nackt, später im spektakulären Zeitungskleid und elegant als Ministergattin. Sie überzeugt mit dunklerem Timbre, großem Volumen, wenn auch bei undeutlicher Diktion. Justus Seeger als Henry Murger und Andreas Rainer als Florimond Hervé bestechen in jeder Hinsicht. Humorvoll affektiert Milko Milev als Pisquatschec im Nadelstreifenanzug und mit Aktentasche. Michael Raschle als Vormund Parigi, in heruntergekommener Kleidung und mit langem Bart, fehlt leider teilweise das Stimmvolumen.

Faszinierend die ansprechenden, humorvollen Choreografien (Kati Heidebrecht) von Chor und Ballett sowie des Ensembles. Beschwingt, leicht und stark rhythmisch unter Bigband-Anklängen interpretiert Tobias Engeli die Partitur gemeinsam mit dem Orchester der Musikalischen Komödie. Einschlagende Witze sind u.a. das genderhafte „Kolleg*innen“ und die sich ungewollt auflösende Frisur eines Tänzers, was das Publikum in Ekstase bringt. Leif-Erik Heines Blumenkostüme des dritten Aktes sorgen in ihrer Farbigkeit für gute Laune und ein bunt-blumiges Spektakel. Eine überzeugende Inszenierung von Ulrich Wiggers, die sich nach der Pause steigert und spannungsgeladener als der blasse erste Akt, mitreißend und beschwingt vorüberrauscht.

Dr. Claudia Behn

„Das Veilchen vom Montmartre“ (1930) // Operette von Emmerich Kálmán

21. April 2023

Das Prinzip Öffnung

Paris / Opéra national de Paris (April 2023)
Paris punktet mit erfolgreichen Vorpremieren für ein junges Publikum – und serviert Händels „Ariodante“ leider halbgar

Paris / Opéra national de Paris (April 2023)
Paris punktet mit erfolgreichen Vorpremieren für ein junges Publikum – und serviert Händels „Ariodante“ leider halbgar

Die in Paris praktizierte Vorpremiere für unter 28-Jährige ergibt tatsächlich ein Opernhaus voller junger Leute. Selbst bei der nicht besonders aufregenden jüngsten „Ariodante“-Inszenierung mit mustergültiger Disziplin, inklusive kundig dosiertem Szenenapplaus für die Sänger und enthusiastischem Jubel am Ende!

Das „nouveau spectacle“ auf dem Programmzettel sollte man diesmal nicht assoziativ frei übersetzen. Richtig neu (im Sinne von originell) und wie ein mitreißendes szenisches Ereignis, das man Spektakel nennen könnte, wirkt dieser „Ariodante“ nicht. Obwohl eine Robert-Carsen-Inszenierung lange eine sichere Bank war, wirkt sie diesmal vor allem routiniert. Nicht nur die Bühne (an der Luis F. Carvalho mitwirkte) kommt wie ein vorgefertigter, funktionaler Baukasten daher, sondern die ganze Inszenierung: ein Guckkasten-Saal in Grün, mit bis zu vier Riesentüren auf jeder Seite samt Jagdtrophäen oben drüber. Der wird je nachdem zum Schlafzimmer oder Büro verkleinert oder zum Thronsaal vergrößert. In Opern-Schottland geht es (kostüm-)kariert und (einfalls-)sparsam zu. Dazu eine gegenwartsnahe Meute aus Presse und Paparazzi. Was eher bemüht wirkt und mehr verdeckt als erhellt.

Im ersten Akt ist alles hell und in Butter. Ariodante ist dem König als Schwiegersohn und Erbe hochwillkommen. Wobei Emily D’Angelo in der Titelrolle nicht wirklich zum Kraftzentrum des Ensembles wird: im Habitus jungenhaft brav, immerhin mit wohlkalkulierter Steigerung an Durchschlags- und Ausdruckskraft für die Soli. Olga Kulchynska hingegen überzeugt mit einer geradlinig eleganten und dann auch die Talfahrt der Gefühle glaubhaft verkörpernden Ginevra. Christophe Dumaux fädelt als Bösewicht Polinesso mit intensiv gestaltendem Counter-Timbre die Intrige ein, die Ariodante einen Seitensprung Ginevras mit ihm vorgaukelt. Dalinda lässt sich (blind vor Liebe) zu dem dafür nötigen Kleidertausch verleiten. Tamara Banjesevic wertet mit temperamentvollem Spiel und souveränen vokalen Höhenflügen diese Rolle deutlich auf.

Im dritten Akt kommen dann das Geständnis Dalindas und der wiederauftauchende Ariodante gerade rechtzeitig, um Ginevra zu retten und ein Alles-auf-Anfang zu behaupten. Dass vor allem Ginevra dieses ganze Theater ohne Blessuren und Langzeitschäden übersteht, ist schwer zu glauben. Die meisten Regisseure glauben es Händel auch nicht. Carsen lässt sich erstaunlicherweise nicht wirklich auf die berechtigten Zweifel ein. Am Ende wechseln die glücklich Vereinten vom formell royalen Dresscode ins Freizeit-Zivil und verlassen das Stück. Zurück bleiben die Wachsfiguren-Doubles der „richtigen“ britischen Royals und ein Selfie-versessenes Touristenpublikum.

Die respektable Ensembleleistung wird von Harry Bicket und The Englisch Concert geschmeidig begleitet. Man würde aber gerne auch die Faszination erleben, für die der Jubel des jungen Publikums angemessen wäre.

Roberto Becker

„Ariodante“ (1735) // Dramma per musica von Georg Friedrich Händel

19. April 2023

Thriller im ewigen Eis

Bielefeld / Theater Bielefeld (April 2023)
Deutsche Erstaufführung von Stuart MacRaes „Anthropocene“

Bielefeld / Theater Bielefeld (April 2023)
Deutsche Erstaufführung von Stuart MacRaes „Anthropocene“

Das Schiff Anthropocene ist mit seinem Eigner Harry King auf Expedition in der Arktis. Leiterin ist Prof. Prentice, ihr Ehemann Charles ist daran beteiligt. Kapitän Ross und sein Adlatus Vasco sind die Befehlsempfänger in dieser ungleichen Konstellation. Von Ross erfährt man, dass er sein letztes Schiff verloren hat. Er, Arktis-erfahren, betrachtet diese Fahrt als seine Rehabilitation. Zur Gruppe gehören noch ein Journalist namens Miles Black, der von Kings Ruhmestat berichten soll, sowie Kings Tochter Daisy, eine Fotografin. Der Auftrag: nach Beweisen für den Klimawandel zu suchen. Die Szene zeigt auf der linken Bühnenhälfte den Blick auf das schräge Vordeck des Schiffes. Die rechte Bühnenseite wird beherrscht von einem Eisberg, an dessen Vorfeld das Schiff angelegt hat (Ausstattung: Anna Schöttl).

So viel zur Ausgangsposition von Stuart MacRaes Oper „Anthropocene“, in der das Scheitern bereits angelegt ist. Das beginnt mit der Selbstdarstellung Harry Kings als scheinbar unwiderstehlichem Finanzmagnat. Der freilich, wie er selber zugibt, von Papas Geld lebt. Musik wie Inszenierung kennen bei ihm nur himmelhochjauchzende oder zu Tode betrübte Gemütshaltungen. Es setzt sich fort in der arroganten Haltung beider Wissenschaftler, deren Eitelkeit und Empathielosigkeit wissenschaftliche Neugier überstrahlt. Miles Black scheitert an seiner Hybris als Sensationsjournalist. Der Kapitän scheitert, weil er sich trotz richtiger Einsicht in die kommende Katastrophe nicht durchsetzen kann. Vascos Untergang resultiert aus seiner Unfähigkeit, sich gegen seinen Mörder Miles Black zu verteidigen.

Und dann ist da noch Ice. An ihr scheitern alle und deswegen die Expedition. Charles Prentice findet sie auf einem der Suchgänge. Er bringt einen großen Eisblock mit Inhalt zum Schiff, dem Ice entgleitet, eingefroren vor Urzeiten als Liebesopfer eines unbekannten Stammes, der sich so vor der drohenden Eiszeit rettet. Ihre Lebenszeichen nach dem Auftauen sind für alle die Sensation schlechthin. Black will seine Redaktion dafür interessieren, das Ehepaar Prentice sieht sich im Wissenschaftsolymp über Newton, Curie oder Darwin erhaben. Ross ist skeptisch, ängstlich. Er würde Ice am liebsten ins Meer werfen. Aber erstmal ist arktischer Winter und Überleben angesagt. In dieser Zeit lernen sich die Irdischen und Ice ein wenig kennen. Sie lernt erstaunlich schnell die ihr neue Sprache.

Musikalisch geht es hoch und vor allem laut her. Bevor sich die Akteure in ihren Positionen finden, gibt es diverse Rangeleien, besser Hahnenkämpfe um die Oberhoheit: z.B. Wissenschaft contra Kapitän und Bootseigner contra Kapitän. In beiden Fällen zieht Letzterer den Kürzeren. Da sind die Bielefelder Philharmoniker unter Gregor Rot quer durch die Instrumentierung, die durch Holz- und Blechbläser dominiert ist, stark gefordert. Denn wann immer es turbulent wird – und das wird es des Öfteren – wird es laut. Sehr laut. Das ist ein doppeltes Problem. Zum einen müssen die Sängerinnen und Sänger Erhebliches leisten, um einigermaßen hörbar über das Orchester zu kommen, zum andern fehlt es an Differenzierungen, um die Rollen zu charakterisieren. Wenn die Männer gegen- oder miteinander singen, tönt es einfach nur unangenehm. Den Frauen wird Höhe abverlangt. Die Begegnungen zwischen Professor Prentice und Ice oder deren Eiserzählung sind feinste lyrische Momente. Oder Ices „Wiedergeburt“: Sehr hohe Flageolett-Töne kommentieren ihre ersten Atemzüge und Seufzer, in den Streich- und Blasinstrumenten sind gewissermaßen irisierende Töne zu hören. Da gewinnt die ansonsten blasse Inszenierung (Maaike van Langen) Format.

Ein Wort noch zu den Kostümen: Verlangt war Arktisausrüstung, gezeigt wurde eine Wintermodenschau in der Arktis. Es wäre ungerecht, einzelne Akteure herauszuheben. Zu loben sind alle ob der Bravour, mit der sie die schweren Partien meistern.

Ulrich Schmidt

„Anthropocene“ („Die Frau aus dem Eis“) (2019) // Oper von Stuart MacRae

18. April 2023

Im Bann des Vergangenen

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (April 2023)
Faszinierende Neuinszenierung von Korngolds „Toter Stadt“

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (April 2023)
Faszinierende Neuinszenierung von Korngolds „Toter Stadt“

Sie kommt zwar etwas verspätet, aber diese Neuinszenierung von Erich Wolfgang Korngolds „Die tote Stadt“ kann man getrost noch unter dem Label eines runden Stück-Jubiläums einordnen. Als diese Oper 1920 in Hamburg und Köln gleichzeitig uraufgeführt wurde, war der damals 23-jährige Komponist als Wunderkind unter Genieverdacht längst etabliert. Seine Karriere in Deutschland endete, als der Rassenwahn der Nazis zur Staatsdoktrin wurde. Er ging in die USA und nahm sich dort mit Erfolg der Entwicklung der Filmmusik in Hollywood an.

Aus seiner opulent schwelgerischen Musik erheben sich zwei klug platzierte, unverwüstliche Nummern: „Glück, das mir verblieb“ und „Mein Sehnen, mein Wähnen“. Das musikalische Drumherum kann es ohne weiteres mit dem von Richard Strauss aufnehmen. Axel Kober hat dafür am Pult der Düsseldorfer Symphoniker genau das richtige Gespür und hält obendrein die suggestive Orchesterpracht mit dem erstklassigen Ensemble in der Balance.

Die „Kirche des Gewesenen“, die sich der um seine tote Frau Marie trauernde Paul in Brügge eingerichtet hat, ist bei Daniel Kramer (Regie) und Marg Horwell (Ausstattung) eine Art verhängtes Atelier, in dem Paul mit einer lebensgroßen Kopie seiner Marie zusammenlebt. Für den Auftritt der Schauspieltruppe Mariettas und die Imagination der Prozessions-Szene genügt der düster abstrakte Platz von Pauls Wohnung.

Marie geistert aber auch als gespenstisch bleiche Untote (Mara Guseynova singt und spielt das auch überzeugend genauso) um Paul herum. Sichtbar ist sie nur für ihn und für uns. Die übersprudelnd lebendige Tänzerin Marietta, in der Paul sie sehen und lieben will, ahnt die Anwesenheit der Toten nur. Freilich bleibt es auch hier letztlich in der Schwebe, ob die Annäherung von Marietta an Paul und dessen Ringen, sich darauf einzulassen oder nicht, real oder nur ein Traum ist, mit dem er sich immerhin aus der Sackgasse seines Lebens befreit. 

Nadja Stefanoff und Corby Welch laufen dabei als Marietta und Paul zu vokaler und darstellerischer Hochform auf. Sie imponiert mit ihrer attraktiven Vitalität, er vor allem mit seinem grandios aufdrehenden, mühelos wirkenden heldisch hellen Tenor. Da auch Anna Harvey als treue Haushälterin Brigitta und Emmett O’Hanlon als Freund Frank da mithalten, ist das Ganze ein Sängerfest von Rang. Nicht nur mit der Trennung von Marie und Marietta bleibt Kramer dichter am Stück, als es sich eingebürgert hat, er lässt auch seinem Paul die Chance auf eine Rückkehr ins Leben. So wird sein berührendes „Glück, das mir verblieb“ zu guter Letzt zu einem, „Glück, das uns verblieb“. Der Jubel des Premierenpublikums entspricht dem Format dieses geradezu kulinarischen Musiktheater-Ereignisses voll und ganz.

Roberto Becker

„Die tote Stadt“ (1920) // Oper von Erich Wolfgang Korngold