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Rezensionen

23. Dezember 2020

Russisches Seelendrama

Wien / Wiener Staatsoper (Oktober 2020)
„Eugen Onegin“ in unspektakulärem Einheitsbühnenbild

Wien / Wiener Staatsoper (Oktober 2020)
„Eugen Onegin“ in unspektakulärem Einheitsbühnenbild

Die dritte Saison-Premiere an der Wiener Staatsoper beginnt zwei Tage zuvor mit einem unfreiwilligen Paukenschlag: Für Tamuna Gochashvili muss rasch eine neue Tatjana gefunden werden – Nicole Car springt ein und gibt ihr Hausdebüt vor ihrer geplanten „Faust“-Aufführung im nächsten April. Die Australierin schafft bei ihrem Sprung ins kalte Wasser eine einfühlsame Darstellung als „blasse Traurige und Schweigsame“. Die Briefszene gelingt dem schönklingenden Sopran vorzüglich mit ihrer dunklen Mittellage, aus der hohe Töne kraftvoll zu leuchten beginnen. Auch wenn es absolut unmöglich gewesen wäre, dass eine Frau im Russland des 18. Jahrhunderts den Dialog beginnt und einen heißblütigen Liebesbrief „an den Schutzengel oder heimtückischen Verehrer“ schreibt, kann der intensive Vortrag voller Zweifel und mit umfassender Zartheit berühren. Unverständlich ist nur, warum bei einem der Höhepunkte dieses Abends die Sessel an dem Tisch lautstark umfallen müssen – Tatjanas Gefühlsausbruch wäre auch ohne diesen Lärm glaubwürdig genug gewesen. Hausdebütant Andrè Schuen bietet vokal und darstellerisch eine solide Leistung, mitreißen kann sein Onegin aber mit wenig Leidenschaft (auch im letzten Akt) und seinem unauffälligen Bariton nicht; gut gefallen seine zur Schau gestellte Eitelkeit und Kühle. Brillant erlebt man hingegen Bogdan Volkov, der für die Rezensentin vom jugendlichen, feingliedrigen Aussehen und mit seiner eindringlichen Interpretation der ideale träumerische, sensible und tragische Lenski ist. Nach Olgas Koketterie ist der Dichter zutiefst verletzt und singt – in dieser Produktion – das Couplet von Triquet. Dies gelingt stimmlich famos und passt auch inhaltlich treffend, um einen Lenski zu zeigen, der – nach seinem empfunden großen Drama – Aufmerksamkeit sucht und geliebt werden will (auch wenn er sich dabei lächerlich macht). Schwermütig nimmt der russische Tenor bei „Kuda, Kuda“ mit zarten pianissimi und sentimentaler Höhe Abschied vom Leben und den entschwundenen Tagen seiner goldenen Jugend – ein fantastischer Glanzpunkt des Abends, bevor sich nach einem Gerangel mit Onegin an dem langen Tisch des Einheitsbühnenbildes ein tödlicher Schuss löst. Als sein „ausgelassenes Vögelchen“ Olga spielt die kokette Anna Goryachova mit frischem, dunklen Mezzo keineswegs das unschuldige Mädchen, sondern wirkt mit Kaltschnäuzigkeit sehr herablassend gegenüber ihrem Verlobten. Die Rolle des Fürsten Gremin ist dankbar: Der noble Russe Dimitry Ivashchenko kann sich zwei Akte vorbereiten, singt seine Arie mit sonorer Tiefe und Ausdrucksstärke, räumt ab und bekommt für sein schönes Liebesgeständnis auch noch den Sopran. Eine starke Leistung bietet Larissa Diadkova als Amme Filipjewna, die unglücklich von ihrer erzwungenen Eheschließung im 13. Lebensjahr erzählt.

Das Dirigat unter Tomáš Hanus bringt den lyrischen Charakter gut heraus, die intensiven Streicher neigen zur Melancholie und die dramatischen Steigerungen brechen lautstark aus. Regie und Bühnenbild von Dmitri Tcherniakov wurden 2006 für das Bolshoi-Theater Moskau kreiert und waren bereits in Paris, London, New York und Tokio zu sehen. An einem riesigen Tisch wird gegessen, geträumt, getrunken oder man duelliert sich. Die Personenführung wird bis ins kleinste Detail gezeichnet und zeigt spannende Charakterstudien über die Tragödien von Tatjana, Onegin und Lenski. Das Publikum ist vor allem erfreut, die ungeliebte Inszenierung von Falk Richter losgeworden zu sein, und das ausverkaufte Haus inklusive Plácido Domingo jubelt.

Susanne Lukas

„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski

23. Dezember 2020

Singulär

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2020)
Jubiläum der Braunfels-Rarität „Die Vögel“ gerät zur Stippvisite

München / Bayerische Staatsoper (Oktober 2020)
Jubiläum der Braunfels-Rarität „Die Vögel“ gerät zur Stippvisite

Es ist einfach nur bitter, wenn die Premiere einer Inszenierung gleichzeitig auch die Dernière markiert. Vor allem, wenn es sich wie im Falle von Walter Braunfels` „Die Vögel“ um eine Rarität handelt, die sich schon lange eine Rückkehr ins Repertoire verdient hätte. Fast auf den Tag genau 100 Jahre nach der Münchner Uraufführung hätte die Aristophanes-Vertonung nun endlich wieder an der Bayerischen Staatsoper zu hören sein sollen, doch der Lockdown machte die als triumphale Rückkehr geplante Neuinszenierung von Frank Castorf zu einer sehr exklusiven Angelegenheit. Gerade einmal 50 Auserwählte durften der ersten und leider einzigen Vorstellung beiwohnen, ehe am Tag darauf alle Theater wieder ihren Spielbetrieb einstellen mussten.

Ein Verlust ist das vor allem in musikalischer Hinsicht. Und dies, obwohl im Graben eine deutlich verkleinerte Orchesterbesetzung im Einsatz war. Ingo Metzmacher machte daraus jedoch kurzerhand eine Tugend und bewies mit der ebenso klar strukturierten wie den Klang fein auffächernden Lesart ein weiteres Mal, dass er für die Partituren des frühen 20. Jahrhunderts ein gutes Händchen besitzt. So strahlt die vielschichtige Komposition trotz oder gerade wegen der schlankeren Instrumentierung in unterschiedlichsten Farben, die es mühelos mit Braunfels` Kollegen Richard Strauss aufnehmen können, ohne dabei so kalorienreich zu wirken wie dessen Tondichtungen.

Nur schwer mitzuhalten vermag da leider das vom Komponisten selbst verfasste Libretto. Und vielleicht mag es auch daran liegen, dass Regisseur Frank Castorf hier nicht allzu viel eingefallen ist. Wie vom einstigen Vorzeige-Provokateur nicht anders gewohnt, gibt es auch diesmal auf der detailreichen Drehbühnenkonstruktion von Ausstatter Aleksandar Denić viel Futter für ornithologische Assoziationen – Plakate der „Byrds“ und „Eagles“ oder den großen Alfred Hitchcock. Da sein gleichnamiger Film aber weder mit Braunfels noch mit Aristophanes zu tun hat, wirkt das Ganze jedoch reichlich beliebig und kommt kaum an die Dichte mancher vergangener Castorf-Produktionen heran. Zu viele altbekannte Versatzstücke und (absichtliche?) Selbstzitate, wie beispielsweise bei der Nachtigall, die im recycelten Kostüm des Waldvogels aus Castorfs Bayreuther „Ring“ daherkommt.

Je weniger einen die szenische Aktion fesselt, umso mehr konzentriert man sich auf die Sängerriege. Angeführt von der großartigen Caroline Wettergreen, die in der halsbrecherischen Partie der bereits erwähnten Nachtigall Bemerkenswertes leistet und selbst in stratosphärischen Höhen nie an Wärme einbüßt. Auch die beiden Menschen, die sich ins Reich der Vögel verirren, sind mit Michael Nagy und Charles Workman exzellent besetzt. Während der eine mit kernigem Bariton aufwartet und vor allem im zweiten Akt mächtig auftrumpft, gibt der andere einen nachdenklichen Helden, der ohne tenorale Muskelprotzereien auskommt. Allein wegen diesem Trio bleibt zu hoffen, dass diese Produktion nach Ende der Pandemie noch einmal für mehr als 50 Menschen im Saal zugänglich sein möge.

Tobias Hell

„Die Vögel“ (1920) // Walter Braunfels

23. Dezember 2020

Ein gewisses Etwas

Mönchengladbach / Theater Krefeld Mönchengladbach (Oktober 2020)
Von der „Meisterklasse“ bekehrt

Mönchengladbach / Theater Krefeld Mönchengladbach (Oktober 2020)
Von der „Meisterklasse“ bekehrt

Bin ich zu spät, um Maria-Callas-Fan zu werden? Die Divina, die Primadonna assoluta, das letzte Märchen*, die Callas. Natürlich wusste ich um sie, kannte sie, als das Vorbild vieler SängerInnen oder aus Debatten um den Sinn der „Fach“-Spezialisierung. Ich kannte auch einige scheppernde Aufnahmen mit großem Prunk und der Callas in dieser zarten Selbstumarmung. Nun fragen Sie mich nicht, wie ich einst ohne die Liebe zu Maria Callas ausgekommen bin, denn nach dem Abend am Theaters Krefeld Mönchengladbach sage ich Ihnen ehrlich: Ich weiß es nicht. Seit der Ovation des Theater-Opernhybrids „Meisterklasse“ von Terrence McNally an die einzige Person, die rechtmäßig die Bühne in diesen Jahrzehnten betreten hat*, wollte ich einige Abende mit Maria Callas` Stimme und Worten von und über sie verbringen. Ausgelöst hat das wohl nicht nur die Sängerin, sondern vor allem der Mensch Maria Callas, der mir an diesem Abend begegnet: Sie stolziert unablässig von Flügel zu Kristallkaraffe durch den Korrepetitionsraum mit Kronleuchter (Bühne: Dietlind Konold), lehrt poetisch-pathetisch, reglementiert den Pianisten und überhaupt ihr ganzes Umfeld, bittet unaufhörlich um deutlichere Aussprache und präsentiert sich; nicht im Singen, aber in feurigen Anekdoten. Eva Spott, sie ist es, die das Schmunzeln, das Schaudern und die Überraschungen über den Menschen Maria Callas ins volle und warm beleuchtete Mönchengladbacher Haus bringt. Sie ist keine Callas zum Verwechseln, nein, aber sie teilt etwas mit Maria Callas, was sie im Spiel selbst von ihren Gesangsstudierenden fordert: „das gewisse Etwas“, ihre Ausstrahlung. Das hier ist ein Danke an Eva Spotts großartiges Schauspielen, die wohlinformierte Inszenierung von Petra Luisa Meyer und Kostümierung on point von Dietlind Konold aus Chanel-Täschchen, Seidentuch und klimpernder Kette, die mir in Sein und Emotionen die Callas klarer gezeichnet haben, als jede Skizze noch lebender Sängerinnen und Sänger. Obwohl ich die Inszenierung in konstanter Temperatur erwarte, erkühlt sie in den Momenten der Zerbrechlichkeit, wie wir sie aus Callas` berühmtem, tränenreichem „O mio babbino caro“ kennen, und den Augenblicken der Melancholie, mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen der lachenden Maria und zahlreichen sich hebenden Vorhängen am Ende des Abends.

Die Person Maria Callas singt an diesem Abend schon nicht mehr, aber Maya Blaustein, Boshana Milkov, David Esteban erfüllen den (kleinen!) Opernanspruch dieses Stückes. Dass hier zum Großteil Mitgliederinnen und Mitglieder des Opernstudios Niederrhein singen, merkt man nur daran, dass sie, an der Rampe stehend, mit Mikrofonen verstärkt sind. Ansonsten singen sie alle wundervoll, als wären sie tatsächlich von der Callas-Schule perfektioniert, bis sie zeitweise von Callas-Originalaufnahmen abgelöst werden. Und sie alle erfüllen das, was (gerade in der heutigen Zeit) wohl der wichtigste Gedanke der Terrence-Callas ist: „… ich muss daran glauben können, dass wir diese Welt zu einem besseren Ort gemacht haben. Dass sie an Reichtum und Weisheit gewonnen hat, weil wir uns für die Kunst entschieden haben.“

* Ingeborg Bachmann („Hommage à Maria Callas“)

Maike Graf

„Meisterklasse“ („Master Class“) (1995) // Terence McNally

23. Dezember 2020

Ist das noch Oper?

Hannover / Staatsoper Hannover (Oktober 2020)
Recht beliebige „Umkomposition“ der „Carmen“

Hannover / Staatsoper Hannover (Oktober 2020)
Recht beliebige „Umkomposition“ der „Carmen“

Das Programmheft der Staatsoper Hannover ist übertitelt mit „CARMEN. Georges Bizet/Marius Felix Lange“, als seien beide Komponisten gleichwertig an der musikalischen Gestaltung des Stückes beteiligt. Regie führte Barbora Horáková, mit dramaturgischer Unterstützung durch Martin Mutschler. Im Innern des Heftes erfährt man, dass es sich um eine musikalische „Neubearbeitung“ des Bizet-Klassikers durch Lange handelt. Dieser will den Protagonisten Carmen und Don José etwas von ihrer spezifischen Identität zurückgeben. Das wäre wohl eher die Sache der Regisseurin gewesen. Hier kommt es aber musikalisch zum Ausdruck, indem Lange nicht nur diverse und harmonisch kaum passende Versatzstücke in Bizets Partitur hineinkomponiert, sondern selbst geschlossenste und auch beliebteste Nummern wie die Musik zur Habanera und der Blumenarie, um nur zwei prominente Beispiele zu nennen, mit Dissonanzen unterspielt. Dazu benutzt er in erster Linie das Vibraphon und Röhrenglocken, die nach seiner Ansicht „weitere Klangfarben“ erzeugen, aber auch ein riesiges Xylophon sowie das Schlagwerk. So konnte sich der Zuhörer zu keinem Zeitpunkt der Integrität der erwarteten Musik Bizets sicher sein. Entsprechend dünn war dann auch der Streicherklang, wofür der ansonsten umsichtig agierende Stephan Zilias am Pult des Niedersächsischen Staatsorchesters Hannover wohl nichts konnte.

Der Streicherklang war in dieser Produktion aber auch gar nicht so wichtig. Denn was Barbora Horáková auf der Bühne von Thilo Ullrich mit den Kostümen von Eva-Maria Van Acker, dem Licht von Sascha Zauner, den Videos von Sergio Verde sowie der Choreographie von James Rosental abzog, wich deutlich von dem ab, was – immer noch – unter der Kunstgattung Oper verstanden wird; mit der eigentlich gar nicht so abwegigen Idee, das Stück in der Springsteen`schen „darkness at the edge of town“, also in einer Art Bronx oder Soho, spielen zu lassen, in einem verlassenen Stadion, wo man noch das verblichene Basketballfeld erkennen kann. Hier geht es äußerst hoch her, was den Auftritt der sich dort herumtreibenden jungen Leute, gesellschaftlicher Underdogs, angeht. Statt des Chores läuft aus Hygienegründen eine Ballett-Truppe mit Mundschutz auf, die neben akrobatischen Einzelleistungen gleichwohl sehr laut wird und am Ende des Torero-Liedes sogar aus voller Kehle mitbrüllt (und weiteres in diese Richtung). Zu allem „umkompositorischen“ Überfluss lassen Sprecher immer wieder Carmens und Josés Gedanken über Lautsprecher erklingen…

Die junge Russin Evgenia Asanova gab die Carmen als aufreizenden Teenie mit einem schon recht ausdrucksstarken Mezzo, guten Klangfarben und ebenso klarer Diktion. Rodrigo Porras Garulo spielte und sang einen engagierten und emphatischen Don José. Germán Olvera gab den Escamillo mit ansprechendem, nicht zu großem Bariton. Der stimmliche Star des Abends war aber Barno Ismatullaeva, die der Micaëla nahezu himmlische, facettenreiche und lyrische Töne verlieh und dabei noch große Empathie vermittelte.

Wenn das, was man an diesem Abend in Hannover erlebte, noch Oper sein soll und der Trend, hemmungslos in Partituren einzubrechen und sie nach Belieben umzuschreiben, weiter gehen sollte, steht es schlecht um diese Kunstgattung. Man sah und hörte in Hannover statt Oper ein Potpourri aus dramatischem Theater, Oper und Musical, eine Mischform, die nicht überzeugen konnte.

Klaus Billand

„Carmen“ // Oper von Georges Bizet (1875) in einer musikalischen Bearbeitung von Marius Felix Lange (2020)

22. Dezember 2020

Brüche und Widersprüche

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Oktober 2020)
Tschaikowskis „Mazeppa“ als atemberaubende Studie über den Untergang eines Imperiums

Cottbus / Staatstheater Cottbus (Oktober 2020)
Tschaikowskis „Mazeppa“ als atemberaubende Studie über den Untergang eines Imperiums

Andrea Moses zieht in Cottbus für „Mazeppa“ alle Register. Zumindest all die, die das Virus zulässt. Wie sich im Laufe des etwas über zweistündigen, pausenlosen Abends zeigt, sind gerade mal hundert Zuschauer privilegierte Teilnehmer eines Opernereignisses von Rang.

Im Graben müssen GMD Alexander Merzyn und die 26 zugelassenen Musiker des Philharmonischen Orchesters den ganz großen Tschaikowski-Opernton treffen. Was ihnen mit aller Kraft und viel Geschick hervorragend gelingt. Auf der Bühne tragen selbst die Sänger Mundschutz, wenn sie sich zu nahe kommen. An dieses „Maske auf – Maske ab“ gewöhnt sich der Zuschauer so schnell, wie es ihm im eigenen Alltag (und beim Überschreiten der Schwelle des Theaters) halt auch zunehmend gelingt. Die Sänger muss das nerven. Aber die Freude daran, endlich mal wieder ihren Beruf auszuüben, überwiegt hörbar. Das russisch singende Protagonisten-Ensemble ist phantastisch – vom kraftvollen Andreas Jäpel in der Titelpartie über Tenorstrahlemann Alexey Sayapin als Andrej bis hin zu Kim-Lilian Strebels leidenschaftlicher Maria und Ulrich Schneider und Gesine Forberger als deren Eltern. Der im gesamten ersten Rang verteilte Chor (Einstudierung: Christian Möbius) steuert von da nicht nur einen fulminanten Raumklang bei und diskutiert zuweilen das Geschehen.

Der charismatische Kosakenhauptmann Mazeppa ist bei Moses, Christian Wiehle (Bühne) und Meentje Nielsen (Kostüme) ein prototypischer Wende-Gewinner und Macher des einziehenden entfesselten Neukapitalismus. Bei seinem Politikerhabitus à la Trump blitzt szenischer Witz vor der heruntergekommenen Plattenbaufassade auf. Die hat eine offene Wunde in Form eines Sowjetsterns. Offenbar eine metaphorische Bruchstelle, die das private Alltagsleben der Menschen auch nach dem Ende der Sowjetherrschaft immer noch beherrscht. So wie auch das Trauma von Stalins Großem Terror. Daran wird erinnert, wenn der Vater Marias zum prototypischen Opfer der Mächtigen wird, der in der Neuerzählung der Geschichte in einer metaphorischen Todeszelle nicht nur in der Maske eines russischen Bären, aus Sowjetfahnen nostalgische Shorts mit Hammer-und-Sichel-Logo nähen, sondern unter Folter jeden noch so absurden Unsinn zugeben muss, der ihm in den Mund gelegt wird. 

Wenn in kyrillischer Schrift ein Plakat „besseres Wohnen in der neuen Residenz“ verspricht und in kyrillischen Lettern „Lüge“ darüber geklebt wird, spielt die Regie mit den erfahrungsgespickten Vorkenntnissen des Publikums in einem der östlichsten Theater der Republik.

Im deprimierenden Finale dieser eindrucksvollen Inszenierung hat Maria den Verstand verloren. Mazeppa hat Andrej erschossen und ist auf der Flucht. Das alte Hochhaus ist zerstört, etwas Neues wird wohl vorerst nicht gebaut. Kinder betteln zwischen den Ruinen. Und spielen Krieg. Was mag es da wohl nützen, dass sich die schwer gezeichnete Maria die kyrillischen Buchstaben für „Demokratie“ auf die Brust gemalt hat? 

Roberto Becker

„Mazeppa“ (1884) // Pjotr I. Tschaikowski

22. Dezember 2020

Mit Kostüm und Abstand

Berlin / Komische Oper Berlin (Oktober 2020)
Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ – ein fantasievoller Hingucker

Berlin / Komische Oper Berlin (Oktober 2020)
Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ – ein fantasievoller Hingucker

Zweieinhalb Stunden höheren Blödsinn verspricht Barrie Kosky in seiner Rede vor der Premiere von Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“ in der Komischen Oper Berlin. Doch zuvor macht er seiner Enttäuschung in Richtung Politik Luft. Die hat bekanntlich entschieden, alle kulturellen Einrichtungen vorerst zu schließen, weil sie zur Freizeitindustrie gezählt und mit Fitness- oder Nagelstudios gleichgesetzt werden. Dabei wurde in seinem Haus ein solch ausgeklügeltes Hygienekonzept entwickelt – „fünf Sterne“ sei es wert, so Kosky –, dass Infizierungen kaum möglich sein sollten.

Auch seine Offenbach-Inszenierung hat der Regisseur der Corona-Zeit angepasst und den notgedrungenen Abstand künstlerisch verarbeitet. Es gibt keine Ausstattung, das Ballett besteht nur aus einem Tanzquartett, das Orchester aus 18 Musizierenden, der Chor ist ganz gestrichen. Der Clou sind die Kostüme von Klaus Bruns. Die ausladenden Reifröcke und Fatsuits, die er entworfen hat, sind fantasievolle Hingucker und garantieren körperliche Distanz.

Die 1867 komponierte „Großherzogin von Gerolstein“, die zu den erfolgreichsten Operetten Offenbachs zählt, handelt von einer Potentatin, die aus Langeweile einen Krieg anzettelt und dabei willkürliche Entscheidungen trifft. So befördert sie den schmucken Soldaten Fritz, auf den sie ein Auge geworfen hat, kurzerhand zum obersten General. Der ist siegreich, wählt aber am Ende das Bauernmädchen Wanda. Die Großherzogin bleibt allein zurück – und genießt es. So die abgewandelte Schlusspointe von Barrie Kosky, der die Militär- und Obrigkeitssatire als überdrehte Typenkomödie für das Gesangsensemble der Komischen Oper inszeniert hat. Alle Rollen sind sogar doppelt besetzt, weil eine zweite Premiere vorgesehen ist.

Jens Larsen bestätigt als General Bumm seine Qualitäten als bassschwarzer Vollblutkomiker, Alma Sadé ist eine quirlige Wanda, Ivan Turšić ein etwas blasser Fritz. Die Titelpartie hat sich der Bariton Tom Erik Lie als Travestie passgenau zurechtgelegt. Er ist eine Großherzogin von imposanter Statur, agiert humorvoll und ohne Übertreibung. Auch stimmlich macht Lie das prima, dröhnt kein bisschen opernhaft, sondern singt wendig und mit einem Schuss Kabarett. Warum er allerdings den Text weitgehend in seiner Muttersprache Norwegisch vortragen muss, die dann von Baron Puck (Tijl Faveyts), einem der Hofschranzen, übersetzt wird, erschließt sich nicht.

Unter der Leitung von Alevtina Ioffe, kurzfristig für James Gaffigan eingesprungen, erzeugt die reduzierte Instrumententruppe einen entschlackten Offenbach-Sound, auch Tempo und Timing stimmen. Nur klappt es nicht immer mit der Koordination zwischen Orchestergraben und Bühne. Der Abend spart nicht an Gags, er nimmt den Krieg in trashigen Revueszenen und mit viel verstärktem Geballere aus dem Off auf die Schippe. Gleichwohl ist er nicht ganz rund, mancher Witz nutzt sich durch Wiederholung ab und auch an der Aussprache könnte noch gefeilt werden. Gelegenheit zur Optimierung bietet die nach dem Lockdown geplante Wiederaufnahme.

Karin Coper

„La Grande-Duchesse de Gérolstein“ („Die Großherzogin von Gerolstein“) (1867) // Opéra bouffe von Jacques Offenbach

2. November 2020

Willkommen, Bienvenue, Welcome!

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2020)
Tanz auf dem Vulkan im „Cabaret“

Weimar / Deutsches Nationaltheater Weimar (Oktober 2020)
Tanz auf dem Vulkan im „Cabaret“

Es ist ein Auftakt mit doppeltem Boden: im Dämmerlicht mit dem populären „Willkommen, Bienvenue, Welcome!“ des Conférenciers. Die Geschichte aus dem Berliner Nachtleben der späten zwanziger und frühen dreißiger Jahre des vorigen Jahrhunderts ist ein exemplarischer Fall von Tanz auf dem Vulkan. Mittendrin verursacht das Nazi-(Volks-)Lied „Der morgige Tag ist mein“, das die braue Herrschaft herbeisehnt, Rückenschauer. Mit jedem, der auf der Bühne dabei Haltung annimmt und einstimmt, etwas mehr. Immer noch, oder eben wieder.

Wer „Cabaret“ inszeniert, kann sich auf die mitreißende Musik von John Kander verlassen, muss aber auch gegen die berühmte Verfilmung mit Liza Minnelli anspielen. Dazu kommen die Anti-Corona-Regeln, die ihr Recht einfordern. Ringelpiez ohne Anfassen sozusagen. Oliver Helf hat eine Tribüne auf die Drehbühne gebaut, mit Revuetreppe in der Mitte und einem Glamour-Vorhang dahinter. Hier ist die achtköpfige Combo wie eine Big Band platziert. Dirigent Dominik Beykirch und Karl Epp haben die Nummern neu arrangiert. Damit heizen sie den von Modjgan Hashemian fantastisch choreographierten 14 Kit-Kat-Girls und -Boys ein. Dass es dabei nicht nur in der Geschlechterzuordnung durch die Kostüme von Aleksandra Kica bewusst drunter und drüber geht, versteht sich von selbst. Im Kit-Kat-Club toben die Roaring Twenties in Reinkultur! Das Tempo stimmt von Anfang an, selbst der Slapstick ist durchchoreographiert.

Ein Schmankerl ist die komödiantische Lust, mit der Uwe Schenker-Primus aus dem Conférencier eine umwerfende Travestie-Nummer macht. Auch beim Club-Personal ist kein Männerbein vor Strapsen und High Heels sicher. Klar, dass der Nazi im Stück (Krunoslav Šebrek ist ein überzeugend gescheitelter Ernst Ludwig) sich hier nicht wohlfühlt. Als Sally Bowles glänzt Dascha Trautwein, Thomas Kramer ist Clifford Bradshaw, der vergeblich versucht, sie zur Flucht von dem „morgigen Tag“ zu bewegen. Als sie sich entschließt, wieder aufzutreten, leuchtet hinter ihr schon das Revue-Logo der neuen Zeit und auch der Conférencier kommt jetzt nicht mehr im Fummel, sondern in Uniform und mit Führerbärtchen. Stefanie Dietrich als Fräulein Schneider und Alexander Günther als ihr jüdischer Verehrer liefern die exemplarischen Beispiele für die damals vorherrschende bürgerliche „Es wird schon nicht so schlimm werden“-Illusion.

Für Regisseur Nurkan Erpulats Abstecher ins Musiktheater ist „Cabaret“ genau die richtige Wahl. Bei den Insignien der neuen Zeit bleibt das Maß gewahrt, das ambitionierte Kunst von allzu plakativen Effekten unterscheidet. Irgendwann malt sich der geheimnisvolle Lausbub mit der blonden Perücke, der durch die Geschichte geistert, blau an. Was wohl heißen soll, dass Blau das neue Braun ist. Insgesamt bekommt die Inszenierung den Cabaret-Balance-Akt aber instinktsicher hin.

Joachim Lange

„Cabaret“ (1966) // John Kander

2. November 2020

„L’Orfeo“ reloaded

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2020)
Versuch eines Brückenschlags mit Monteverdis Meisterwerk

Nürnberg / Staatstheater Nürnberg (Oktober 2020)
Versuch eines Brückenschlags mit Monteverdis Meisterwerk

Von Monteverdis Vertonung des Mythos um Orpheus und Eurydike wird angenommen, dass sie die erste Oper der Musikgeschichte ist – zumindest ist sie die erste erhaltene Frühform der Oper, die mit der Uraufführung 1607 in Mantua erstmals Instrumentalmusik, Gesang und Tanz auf eine Bühne brachte. 400 Jahre und zahlreiche Seuchen später passt „L’Orfeo“ gut in die aktuelle Pandemie-Zeit, befand man am Staatstheater Nürnberg und wagte nach der viralen Zwangspause mit der „Oper Nr. 1“ den Neustart. Die Digitalisierung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens spiegelt sich – durchaus nachvollziehbar – in Jens-Daniel Herzogs Inszenierung, die zu Beginn etwas zu viel von einer hektischen Videoinstallation mit Barockmusik hat. Da wird ausgelassen Hochzeit gefeiert, simultan via Smartphone dokumentiert, gepostet und gesocialnetworked. Erst nach Euridices Unfall – etwas überflüssigerweise mit Krankenwagentransport und nachfolgender OP auf mobiler LED-Wand bebildert – wird’s weniger plakativ. Von einem Moment auf den anderen ist es mit dem sozialen Leben vorbei. „Social Distancing“ ist das Gebot unserer Zeit – Abstand halten aber, das kann Orfeo nicht, ganz im Gegenteil. Er sucht nach der Erfüllung im Zusammensein mit Euridice und macht sich auf in den Hades. Dazu müsste er nicht zwingend nach unten, die Hölle findet man in dieser Inszenierung auf Erden, eindringlich illustriert mit brennenden Landschaften, Industriebrachen und Corona-Gräberfeldern auf der allgegenwärtigen Videoleinwand. Wohltuend die Augenblicke, wenn sich Aug’ und Ohr’ auf die wunderbare Musik konzentrieren können, etwa wenn Orfeo (Martin Platz) Caronte mit seiner Sangeskunst überzeugen will oder Proserpina (Almerija Delic) ihren Göttergatten um Gnade für die Liebenden bittet.

Überhaupt ist die musikalische Gestaltung dieses „L’Orfeo“ ein Gewinn – den bekannten Umständen geschuldet, wollte Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz nach der Zwangspause ihre bestens aufspielende Staatsphilharmonie zum Einsatz bringen. Sie erarbeitete mit Frank Löhr zusammen eine eigene, mit moderner Musik und Soundelementen durchdrungene Fassung, die fast wie ein Film-Soundtrack die Handlung begleitet. Ausschließlich akustisch erzeugt erklingen Herzschläge und tiefes Wummern. Und wenn Orfeo mit Euridice im Schlepptau glücklich die Unterwelt verlässt, wird Monteverdis „gehender Bass“ kurzzeitig durch eine Jazzeinlage fortgeführt. Faszinierend, wie Mallwitz ihre Musiker – im Orchestergraben, beidseitig auf den Rängen, hinter der Bühne platziert – koordiniert, aus den derzeitigen Abstandsregeln eine Tugend macht und gleichzeitig des Komponisten Experimentierfreude mit Echos künstlerisch fortführt. Monteverdi in Dolby Surround – großartig! Das Sängerensemble des Staatstheaters legt stimmlich und schauspielerisch einen überzeugenden Auftritt hin und das Ganze ist ohne Übertreibung ein wahres „Klangfest“.

Dany Mayland

„L’Orfeo“ (1607) // Claudio Monteverdi; Orchesterfassung von Frank Löhr und Joana Mallwitz

2. November 2020

Schwächelnde Träume vom Glück

München / Gärtnerplatztheater (Oktober 2020)
München wagt einen kammermusikalischen „Eugen Onegin“

München / Gärtnerplatztheater (Oktober 2020)
München wagt einen kammermusikalischen „Eugen Onegin“

München hat eine Tradition mit speziellen Theaterformen: ein herrlich weites, edles Oval, in der zentralen Loge im Balkon ein paar Menschen, etliche weitere im weiten Rund – das waren die berühmten Separatvorstellungen für König Ludwig II. ab 1872. Ganz ähnlich wirkten jetzt die rund 300 Besucher der Premiere im Gärtnerplatztheater – eine kulturpolitische Absurdität im bis 2019 totalrenovierten Komplex mit der modernsten Lüftungsanlage aller Münchner Theater, während vollbesetzte Flieger vom Airport starten dürfen … Der dankbar herzliche Applaus schloss am Ende alle mit ein, auch wenn das Bühnenteam hörbar schwächeren Beifall registriert haben sollte. Das lag nicht an den Corona-Vorgaben, speziell den Distanz-Vorschriften für alle Bühnenfiguren. Regisseur Ben Baur hatte in Uta Meenens Kostümen das Werk in der zaristischen Gesellschaft angesiedelt, wo „Distanz“ zur gesellschaftlichen Konvention gehörte. So sangen die Bauernchöre schön brav und breit aufgestellt und ein Walzer wie eine Polonaise in St. Petersburg können ja durchaus mal mit sehnsuchtsvoll ausgestreckten Armen, aber ohne Handberührung getanzt werden (Choreinstudierung: Felix Meybier; Choreographie: Lillian Stillwell). Auch in der „Liebe“ galten ja Zucht und Ordnung, was Olga und Lenski temperamentvoll, Tatjana und Onegin weniger überzeugend steif vorführten. Wenn Baur das Ganze als Tatjanas „Traum zurück“ – von der ersten Pose im Vorspiel bis zur Schlussszene einschließlich irrealer Auftritte eines Tatjana-Kindes – zeigen wollte, dann blieb seine Lichtregie mit Michael Heidinger zusammen banal bis „nicht existent“, sein eigenes Bühnenbild spielte keine Rolle.

Ganz anders die musikalische Seite der Premiere. Der beim Umbau raffiniert bis zum Äußersten vergrößerte und akustisch verbesserte Graben bleibt für ein großes Tschaikowski-Orchester zu klein, Distanz für die Musiker: unmöglich. Die Lösung: Das Staatstheater leistete sich eine reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow, einem selbst komponierenden Tschaikowski-Kenner. Die 24 Instrumentalisten brachten unter Chefdirigent Anthony Bramall nicht nur die großen Highlights der Partitur zum Klingen, sie gaben dem Ganzen einen Hauch von Salon-nahem Kammerkonzert, was „Tschaikowski-nahe“ klang. Eine gelungene Adaption über Corona-Beschränkungen hinaus. Deshalb hätten alle Sänger weniger „Premierenpower“ geben, noch mehr zum Partner statt ins leer tönende Theaterrund singen können. Dafür gelang Juan Carlos Falcón mit Triquets Couplet ein fein ziseliertes Kunststückchen vor allen anderen guten Nebenfiguren. Sava Vemić war ein volltönender Fürst Gremin mit alles überragender Bühnenerscheinung. Anna-Katherina Tonauers Olga klang mädchenhaft gegenüber der hörbar gereiften Camilla Schnoor. Deren Tatjana besaß Gefühlstiefe und gebändigte Leidenschaft, zurecht gab es viel Beifall für ihre Briefszene. Mathias Hausmanns runder, kerniger Bariton passte genau für den überheblichen Gesellschaftslöwen und -verächter Onegin. Tenor Lucian Krasznec musste in München gegen das seit 1962 (!) unübertroffene, todesverschattete Ideal von Fritz Wunderlichs „Wohin, wohin…“ als Lenski ansingen. Das gelang vom gehauchten Pianissimo bruchlos in den schmerzlichen Ausbruch – bravo! So bewies der Abend: Herrlich, wieder musikalisches Theater zu erleben. Und: Ein realitätsnahes Kunstministerium könnte locker 600 Besucher im Theaterrund erlauben!

Wolf-Dieter Peter

„Eugen Onegin“ (1879) // Pjotr I. Tschaikowski; reduzierte Orchesterfassung von Pjotr Alexandrowitsch Klimow

2. November 2020

Medea.Reflexionen

Halle (Saale) / Oper Halle (Oktober 2020)
Martin G. Berger inszeniert eigene Version von Händels „Teseo“

Halle (Saale) / Oper Halle (Oktober 2020)
Martin G. Berger inszeniert eigene Version von Händels „Teseo“

Händels „Teseo“ könnte auch „Medea“ heißen. Die Version aber, die Martin G. Berger jetzt von der geplanten Inszenierung für die gecancelten Händel-Festspiele auf Corona-Bedingungen heruntergedimmt hat, auf jeden Fall. Samt der hinein inszenierten Abstände und einem auf ein Dutzend Musiker reduzierten, kammermusikalisch präzisen Händelfestspielorchester. Berger und Dramaturg Philipp Amelungsen griffen beherzt in die Stückstruktur ein. Sie machten aus allen weiblichen Nebenrollen Medea-Alter-Egos. Für diesen 90-minütigen Abend würde der Arbeitstitel „Medea.Reflexionen“ passen. Neben der zentralen Medea2020 wird aus Agilea Medea1958 (Vanessa Waldhart) und aus Clizia Medea1880 (Yulia Sokolik). Dazu kommt noch eine stumme Medea1619. Damit ist die Zeitreise zum Thema der exemplarisch gegen die Männerherrschaft im Patriarchat aufbegehrenden Frau vorgegeben. Das männliche Gegenüber dieser aufgestockten Frauenpower sind Jason (bei Händel Teseo) und Medeas Vater (Ki-Hyun Park), stumme Zugaben die Kinder Medeas und eine attraktive Affäre Jasons. Kostümbildnerin Esther Bialas hat daraus eine aufgedonnerte Sekretärin gemacht, die lieber Marilyn Monroe wäre und es mit der Muster-Hausfrau Medea1958 aufnimmt.

Musikalisch wird das Ganze bei Berger und Dirigent Attilio Cremonesi zu einem Pasticcio mit neu zusammengestellten Arien ohne eine von A nach B verlaufende Handlung. Die Inszenierung lotet vielmehr das Aufbegehren einer exemplarischen Medea verschiedener Epochen gegen die Männer aus, die aus dem patriarchalischen Bauplan der Gesellschaft die Legitimation für ihren triebgesteuerten Egoismus ableiten. Gegen Ende schicken diese Frauen, sozusagen kollektiv, lediglich Jason zum Teufel. Ist zwar auch keine (Ab-)Lösung des Patriarchats, aber schon etwas anderes als Kindermord aus Rache fürs Fremdgehen … Wenn zu Beginn die überlebensgroßen Medea-Alter-Egos auf den Zwischenvorhang vor dem abstrakten Hexagon-Wohnkonstrukt projiziert werden, das Sarah-Katharina Karl auf die Drehbühne gesetzt hat, spürt man die Absicht, alles fügt sich zu einem Ganzen.

Die zentrale Medea2020 ist mit Romelia Lichtenstein eine Sängerin, die sich die Geschmeidigkeit für virtuosen Händel-Gesang bewahrt hat und das voll ausspielt. Als smart gegelter Anzugträger von heute ist Sporanist Samuel Mariño (27) ein glasklarer Jason mit natürlichem Bühnencharisma. Unter normalen Bedingungen wäre ein solcher „Teseo“ in einer Hochburg der Händel-Pflege wohl nicht riskiert worden. Doch heutzutage leuchtet diese Version durchaus von innen – durch eine anregende Idee, klugen Umgang mit den Voraussetzungen, die Emotion der Musik und ein fabelhaftes Ensemble. Ungeteilter Beifall!

Joachim Lange

„Teseo“ (1713) // Georg Friedrich Händel; Spielfassung von Martin G. Berger