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Rezensionen

2. November 2020

Heiterer Goldregen

Halberstadt / Nordharzer Städtebundtheater (Oktober 2020)
„Die lustigen Weiber von Windsor“ erobern die Herzen

Halberstadt / Nordharzer Städtebundtheater (Oktober 2020)
„Die lustigen Weiber von Windsor“ erobern die Herzen

Der Aufforderung „Nun eilt herbei, Witz, heitre Laune“ der charmanten Frau Reich kann man sich einfach nicht entziehen. Sie und Nachbarin Frau Fluth setzen in Otto Nicolais komisch-phantastischer Oper „Die lustigen Weiber von Windsor“ nicht nur dem abenteuerlustigen, liebestollen und trinkfesten Sir John Falstaff, sondern auch ihren eifersüchtigen Ehemännern „Hörner“ auf. Diese Windsor-Weiber sind wirklich lustig, klug, attraktiv, selbstbewusst, gerissen und resolut. Bettina Pierags (Frau Fluth) und Gerlind Schröder (Frau Reich) sind in Oliver Klöters Inszenierung von Beginn an treibende Kraft und modisch-attraktive Herzdamen. Sie spinnen eine Intrige um und mit dem liebestollen, trinkfesten und beleibten Hagestolz Sir John (eine Paraderolle für Klaus-Uwe Rein), um ihren einfältigen Ehemännern die Eifersucht auszutreiben. Nebenbei geht es um eine junge Liebe, die erst nach Irrungen und Wirrungen und allerlei Spuk ihre Erfüllung findet. Das Ganze ist verortet in einem fiktiven Windsor der Gegenwart. Häuserfluchten links und rechts begrenzen die (Spiel)-Fläche. Eine Bank und eine rote Telefonzelle sowie eine Flagge stehen für Old-England. Und auch die Queen grüßt für einen Moment hoheitsvoll. Aus dieser trostlosen Bühnenlandschaft entstehen in Windeseile Schauplätze im Hause Reich und Fluth, wird ein ominöser Wäschekorb hin und her transportiert und entsteht ein Pub für das Saufgelage von Sir John und dessen Kumpanen unter den wachsamen Augen zweier Constabler. Ausstatterin Andrea Kaempf hat alle Voraussetzungen dafür geschaffen, dass das Spiel unter Corona-Bedingungen optimal ablaufen kann. So setzt der Regisseur auf Abstand. Es gibt kaum Berührungen, keinen Austausch von Zärtlichkeiten. Über weite Strecken erlebt man die Handlung (ohne Chor und Statisten) als Kammerspiel, in dem schon mal an der Rampe gesungen wird.

Dass „Witz, heitre Laune“ trotz der schmalen Gratwanderung zwischen Nähe und Distanz nicht auf der Strecke bleiben, ist ausnahmslos den Solisten und den Harzer Sinfonikern unter der Leitung von Fabrice Parmentier zu verdanken. Sie haben sich zum Finale den Goldregen aus dem Bühnenhimmel und den langanhaltenden Beifall des Publikums verdient. Allen voran Klaus-Uwe Rein als stimmgewaltiger und trinkfester Falstaff, der mit seiner Ballade „Als Büblein klein …“ brilliert. Sein Duett mit Herrn Fluth (Juha Koskela) wird nicht nur musikalisch zu einem Erfolg. Bettina Pierags brilliert mit blitzsauberen Koloraturen und Spielwitz. Gerlind Schröder agiert mit viel Power und hat bei Herrn Reich (Gijs Nijkamp) in jeder Beziehung das Sagen. Lyrische Momente mit ihren musikalischen Liebesschwüren („Horch, die Lerche singt im Hain“) setzen Bénédicte Hilbert und Max An als Jungfer Anna und Fenton. Das Finale mit der Auflösung der vielen Irrungen und Wirrungen um den gehörnten Ritter Sir John, den lustigen Weibern und ihren geläuterten Ehemännern sowie das Liebesglück der jungen Leute findet abstandsgemäß ohne die üblichen „Sommernachtstraum“-Turbulenzen mit Elfenspuk, aber mit einem wunderschön gesungenem Mondchor statt. Fazit dieser Premiere: „Um ernst zu sein genügt Dummheit, während zur Heiterkeit ein großer Verstand unerlässlich ist“ (William Shakespeare).

Herbert Henning

„Die lustigen Weiber von Windsor“ (1849) // Otto Nicolai

2. November 2020

Wenn das Leben kein Ende nimmt

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Oktober 2020)
„Der Kaiser von Atlantis“ aktueller denn je

Düsseldorf / Deutsche Oper am Rhein (Oktober 2020)
„Der Kaiser von Atlantis“ aktueller denn je

Polizeigewalt bei Protesten in Belarus. Ein brennendes Flüchtlingslager, das tausende Menschen zu Obdachlosen macht. Rassismus in den USA und das Deutschlandlied auf Anti-Corona-Demos. Relevanter denn je präsentiert sich Viktor Ullmanns Opernparabel, die er im Konzentrationslager Theresienstadt komponierte. Sie hinterfragt den Wert des Lebens und Sterbens und fordert zum Widerstand gegen Unterdrückung auf.

Das Setting der Oper deckt sich mit ihren Entstehungsumständen. In Kaiser Overalls Reich herrschen Völkermord und eine Reduktion des Lebens auf bloße Überlebensfunktionen. Als er den Krieg aller gegen alle befiehlt, verweigert der Tod seinen Dienst. Das dadurch verursachte Ringen mit dem Leben zwingt den Kaiser zur Kapitulation, wodurch der Tod den Status quo wieder herstellt. Die schlichte, aber ausdrucksstarke Kulisse von Emine Güner holt Theresienstädter Ausstattungsmöglichkeiten auf die Düsseldorfer Bühne: Das Geflecht aus gespannten Seilen hält die Akteure gefangen, Zurren und Zerren ist zwecklos. Davor Tod und Harlekin, allegorisch für Sterben und Leben. Harlekin entzündet ein Stöckchen, ehe es – vom Tod ausgehaucht – auf einem Scheiterhaufen aus Streichhölzern landet. Wie ihre verschlissenen Lumpen reicht ihre Energie nicht mehr, um für ein würdevolles Leben oder Sterben zu kämpfen. Ein starkes Bild gleich zu Beginn! Als der Tod in die Rebellion geht, amüsiert er sich und das Publikum, wenn er vom linken Bühnenrand aus das Geschehen verfolgt – im flauschigen Bademantel, mit Wein und Popcorn. Menschen schießen aufeinander, doch sie sterben nicht. Die Folge: Irritation beim Kaiser, der im eigenen Seilgefängnis gefangen ist. Auch seine Lakaien Trommlerin und Lautsprecher sind hilflos. In ihrer türkisfarbenen Garderobe (Emine Güner) scheinen sie aus Atlantis aufgetaucht und kolorieren stilvoll die schwarze Umgebung. Mit Overalls Machtverlust sinkt die Hebebühne und die sich lockernden Seile eröffnen neue Freiheiten. Ein Soldat und ein Mädchen können sich wieder verlieben. Nach dem Untergang des Kaisers darf der Tod wieder ein willkommener Freund sein.

Generalmusikdirektor Axel Kober konturiert das Ringen um Leben und Tod, wenn er Ensemble und Kammerorchester feinsinnig durch Zwölftonmusik, spätromantische und jazzige Klänge lenkt. Die sängerischen Leistungen sind solide. Thorsten Grümbel als Lautsprecher beeindruckt mit einer alarmierenden Klangfarbe, während sich Emmett O’Hanlon trotz mäßiger Verständlichkeit mit seinem charakteristischen Timbre unter den Männerpartien hervorhebt. Für wunderbare Momente sorgt auch Anke Krabbe. Ihre klare Stimme verleiht dem Mädchen eine verletzliche Aura, womit sie ihren Einsatz für diese Partie rechtfertigt. Die insgesamt hervorragenden schauspielerischen Leistungen gleichen die wenigen musikalischen Schwächen aus. Vorsichtig und wachsam verbreitet ein verfremdeter Bach-Choral am Ende neue Hoffnung. Als könnte man dem Frieden nicht trauen, denn nur dieser eine Krieg ist vorbei. Mit dieser Botschaft schickt die Inszenierung von Ilaria Lanzino das Publikum in den ersten Post-Opernabend seit Langem.

Jonathan Reischel

„Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung“ (entstanden 1943/44 in Theresienstadt; Uraufführung 1975 in Amsterdam) // Viktor Ullmann

2. November 2020

Hygienisch einwandfrei

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Oktober 2020)
„Fidelio“ in blasser Regie und dubioser Instrumentation

Braunschweig / Staatstheater Braunschweig (Oktober 2020)
„Fidelio“ in blasser Regie und dubioser Instrumentation

Inzwischen überzeugt so manches mittlere Haus durch souveräne Bewältigung der Covid-19-Bedingungen. Der „Fidelio“ am Staatstheater Braunschweig kann da nicht mithalten. Viel zu sehr zeigt sich Beethovens Befreiungsoper dort durch übervorsichtige Konzessionen an die Seuchenlage bestimmt. Was die Spieldauer auf pausenlose einhundert Minuten, das Orchester auf ein Bläserensemble und den Chor auf elektronische Einspielung reduziert. Die Bühnenfiguren fixieren sich auf die Befolgung der Abstandsregeln. Stückdienliche Interaktion kommt daher nur selten zustande. Hausherrin und Regisseurin Dagmar Schlingmann verliert über der peinlich genauen Einhaltung aller Hygienevorschriften das Werk selbst aus den Augen. Da hilft es auch nicht, wenn statt gestrichener Singspielpassagen eine Schauspielerin Banalitäten über die Gattung Oper und die politischen Gefangenen aller Zeiten und Regimes vorträgt. Indem sich der gesprochene Opferkatalog Litanei-artig dem Gesang unterlegt, werden die nun lediglich als Geräusch wahrnehmbaren Namen der Dissidenten einer höchst fragwürdigen Dramaturgie unterworfen. Alles dies hinterfängt Sabine Mader mit einer grauen Mauer, in deren Nischen – gleich Zellen – die Gefängniswärter (sic!) hausen. Ein aus dem Bühnenhimmel herabhängender Riesenkasten erweist sich als Kerker für Florestans Einzelhaft.

Auch musikalisch leuchtet der Produktion kein Stern. Aus dem Graben tönt nicht das Original, sondern eine nach Beethovens böhmischem Zeitgenossen Wenzel Sedlák und anderen zusammengestellte „Harmoniemusik“ für eben jene Bläserensembles, die an den Fürstenhöfen Potpourris angesagter Opern vortrugen. In Braunschweig wird damit geworben, Beethoven selbst habe Sedláks Arrangement autorisiert. Das trifft zu. Doch hatten weder Beethoven noch Sedlák eine auf der „Harmoniemusik“ basierende Opernaufführung im Sinn. Dass sie sich dazu nicht eignet, lassen die etwas über ein Dutzend Bläser samt Schlagwerk des Braunschweiger Staatsorchesters vernehmen. Unter Stabführung ihres Chefs Srba Dinić ringen sie ebenso kompetent wie vergeblich darum, Sedláks Noten Beethoven’sche Emphase, geschweige Sängerfreundlichkeit abzugewinnen. Schon deshalb bleibt bei den vokalen Leistungen viel Luft nach oben. Einzig der in der Titelpartie erfahrenen Susanne Serfling gelingt ein musikalisch ansprechendes Rollenportrait. Marc Horus gibt einen charaktertenoral eng geführten Florestan. Dem Rocco von Rainer Mesecke fehlen profunde Bassqualitäten. Valentin Anikin verfügt über ansprechendes Material, ohne die Gefährlichkeit Pizarros zu beglaubigen. Ekaterina Kudryavtseva ist eine Marzelline nicht ohne sangliche Schärfen. Nur wenig profiliert Joska Lehtinen seinen Jaquino.

Michael Kaminski

„Fidelio“ (1805/1814) // Ludwig van Beethoven; Bearbeitung basierend auf der von Wenzel Sedlák eingerichteten Fassung für ein „Harmoniemusik“ genanntes Kammerensemble

2. November 2020

Wenn es Aristokraten langweilig wird

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2020)
Gefährliche Liebschaften in Luca Francesconis „Quartett“

Berlin / Staatsoper Unter den Linden (Oktober 2020)
Gefährliche Liebschaften in Luca Francesconis „Quartett“

„Gefährliche Liebschaften“, der Briefroman Laclos’ von 1782, veranlasste Heiner Müller 200 Jahre später zu seinem Schauspiel „Quartett“. Francesconi machte daraus die gleichnamige Oper und verfasste das Libretto ursprünglich in Englisch. Nun wurde das Werk erstmals in deutscher Sprache aufgeführt.

Marquise de Merteuil und Vicomte de Valmont, früher ein Liebespaar, sind in Verachtung einander zugetan. Verletzungen, offene Rechnungen, ein Wettkampf der Boshaftigkeiten, Ironie zum Altwerden (Vermont: „Auf Sie ist zu lange kein Regen gefallen“). Dekadenz, Langeweile, verurteilt zum Nichtstun. Heiner Müller hat das Schauspiel zeitlich vor der Französischen Revolution oder nach dem Dritten Weltkrieg verortet, also hilft kein Telefon, TV oder Klatsch auf der Terrasse des Golfclubs beim Zeit totschlagen, stattdessen verbaler Krieg. Valmont beschläft die von Merteuil gehasste Madame de Tourvel, Gattin des Präsidenten, der seinerzeit die Marquise verschmähte. Der Vicomte solle besser ihre Nichte Volanges verführen. Im Spiel tauschen sie die Geschlechter. Er: „Ich glaube, ich könnte mich daran gewöhnen, eine Frau zu sein.“ Sie: „Ich wollte, ich könnte es!“

Die jugendliche Mojca Erdmann entspricht rein optisch keineswegs einer faltig alternden Marquise, meistert allerdings die schwierige Partie mit Sprechgesang und Ausbrüchen in irrsinnige Höhen beeindruckend. An ihrer Seite überzeugt Thomas Oliemans mit warm-markantem Bariton. Im Rollenspiel mit umgeschnallten Brüsten – naja – aber im Sterben sehr schön. Bewundernswert, was die beiden auf der Bühne leisten, es gilt unendliche Dialoge zu beherrschen und dabei jenseits gewohnter Linien zu singen.

Barbara Wysocka (Regie) und Barabara Hanicka (Bühnenbild) stellen eine löchrige Halbkugel (Dritter Weltkrieg?) auf die Bühne, die gedreht zu einem Iglu-artigen Spielraum mit wenigen Requisiten wird, Stühle, Koffer, Bücher, die in Kartons verstaut werden. Eine Tänzerin (Tourvel) und Statistin (Volanges) beleben sporadisch die Szene, sie lassen das Duett zum Quartett werden. Spiegelboden, Videoprojektionen, schwarze Vögel den Tod Valmonts begleitend (der Wein war vergiftet!), produzieren in schickem Grau gehalten schöne Bilder zum hässlichen Geschehen.

Dazu passt die Interpretation Daniel Barenboims, die man sich expressiver und mit weniger Wohlklang vorstellen könnte. Das Instrumentalensemble im Graben spielt makellos, es wird ergänzt von zugespielten elektronischen Geräuschen und Chor. Die kammermusikalische Komposition selbst beginnt spannend, zieht sich dann aber hin, ohne große Spannungsbögen zu entwickeln. Markante Tonfolgen und Instrumenten-Soli lassen den Zuschauer zum Zuhörer werden, der konzentriert der Textprojektion folgt – folgen muss, um im Stück zu bleiben. Eine durchaus sehenswerte Aufführung, auch wenn sie musikalisch nicht gerade einen Sog entfaltet.

Reinhard Eschenbach

„Quartett“ (2011) // Luca Francesconi

1. November 2020

Plácido der Große

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Ein wohltuend Corona-befreiter „Simon Boccanegra“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Ein wohltuend Corona-befreiter „Simon Boccanegra“

Es ist wohl eine der letzten Bühnenpartien des fast 80-jährigen Plácido Domingo und der 20-minütige Schlussapplaus kann sicher als Hommage an eine große Lebensleistung gedeutet werden. Höchstverdient aber auch für diesen Abend: Man staunt nicht schlecht, wie präsent, agil und ausdrucksstark er die große Titelpartie meistert. Die Inszenierung von Peter Stein aus dem Jahre 2002 lässt im Gegensatz dazu einige Fragen offen, sie schwankt zwischen abstrakter Gestaltung mit Lichtdesign-Elementen und realistisch anmutenden Settings ohne erkennbare Linie. Zu viele Szenen vor halbgeschlossenem Vorhang wirken uninspiriert. Etwas, das sich leider bei der Personenführung fortsetzt und für die Solistenriege größtenteils „stehend an der Rampe singen“ bedeutet. Was für ein Glück, dass begabte Sängerdarsteller wie Günther Groissböck (in der Rolle des Fiesco) es trotzdem schaffen, ihren Figuren Leben einzuhauchen. Die Kampfszenen des Chores wirken dagegen gestellt und – obwohl komplett Corona-abstandsfrei inszeniert – darstellerisch wenig überzeugend. Vielleicht hatte die Produktion im Vorfeld aber einfach nur zu wenig Proben, denn auch musikalisch hat Evelino Pidò seine liebe Mühe damit, Orchester, Chor und Solisten zusammenzuhalten und dauerhaft die richtige Klangbalance zwischen Bühne und Graben zu finden. Dass dieser Opernabend doch noch ein denkwürdiger wird, liegt eindeutig an überzeugenden Gesangsleistungen, neben Domingo vor allem die von Günther Groissböck, dessen gewaltige Bass-Präsenz von warmem Timbre und Ausdruck der Geschichte jene Intensität verleiht, die man in der Regie vermisst. Herausragend und intensiv das Versöhnungsduett im dritten Akt. Von Domingos bewundernswerter Darstellung eines in die Jahre gekommenen Boccanegra war schon oben die Rede – lediglich zum Ende beim direkten Aufeinandertreffen der beiden wird es etwas grotesk. Immerhin verkörpert hier der im richtigen Leben halb so alte Groissböck den Großvater von Boccanegras Tochter Amelia! Trotzdem, auch das funktioniert, vor allem, weil beide fabelhafte Darsteller sind, Domingo „seinem“ Simon schlüssige Präsenz verleiht und mit großer Erfahrung vorhandene Textschwächen durch überragende Rollenpräsenz sowie dem unverwechselbaren Timbre seiner Weltstimme gekonnt ausmerzt. Hut ab vor dieser erstaunlichen Leistung! Hibla Gerzmava als Amelia kämpft anfänglich mit leichten Intonationsproblemen und schrillem Timbre, bekommt ihre voluminöse Stimme im Laufe des Abends aber noch in den Griff. Der usbekische Tenor Najmiddin Mavlyanov besitzt einen kraftvollen Tenor, wirkt mit der Partie des Gabriele Adorno zuweilen aber überfordert und quetscht ein wenig in den Höhen. Darstellerische Akzente vermisst man bei ihm leider völlig. Erwähnenswert: Attila Mokus als Paolo. Alles in allem ein denkwürdiger, berührender Abend, sicher eine Reminiszenz an eine musikalische Legende.

Iris Steiner

„Simon Boccanegra“ (1857/1881) // Giuseppe Verdi

1. November 2020

Neue Ära mit Mut zum Risiko

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Wien / Wiener Staatsoper (September 2020)
Zur Eröffnung eine farbenprächtige und berührende „Madama Butterfly“

Mut und fehlende Risikobereitschaft kann man dem neuen Direktor Bogdan Roščić nicht absprechen, wenn er gleich mit der ersten von zehn Saison-Premieren das Haus vor Corona-bedingt 1200 Besuchern und damit einer etwa 50-prozentigen Auslastungsquote (wieder-)eröffnet und Puccinis „Tragedia giapponese“ ansetzt. Alles steht und fällt mit einer Sopranistin, die stimmlich und darstellerisch die Entwicklung von der 15-jährigen japanischen Geisha zur liebenden und wartenden Ehefrau durchmacht und zuletzt nicht nur stirbt, sondern sich auch noch entehrt fühlend durch Jigai, dem weiblichen, japanischen Selbstmord-Ritual, selbst richtet.

Asmik Grigorian gibt ihr Hausdebüt und begeistert nach einer fantastischen Salome bei den Salzburger Festspielen 2019 auch diesmal auf allen Ebenen. Ihre Cio-Cio-San gibt sich anfangs noch reserviert, stimmlich zurückhaltend und zeitweise recht herb klingend. Während dem Liebesduett lassen die Spitzentöne aber jugendlichen Klang und den Wunsch, geliebt zu werden, aufblühen. Im zweiten Akt gelingt der phänomenalen Singschauspielerin dann ein emotionales Gesamtkunstwerk, wo alle Gefühlsausbrüche mit zarten Pianissimi-Bögen ebenso zutiefst berühren können wie die dramatischen Passagen. Sie erzeugt Gänsehaut-Gefühl, als sie dem berührten Konsul über ihr Kind mitteilt, dass sie, die verlassene Mutter, wieder tanzend ihr Geld verdienen soll.

Als unsensiblen B.F. Pinkerton erleben wir den britisch-italienischen Tenor Freddie De Tommaso, ebenfalls ein Hausdebütant. Höhensicher, durchsetzungskräftig und mit müheloser Phrasierungskunst erregt ihn das puppenhafte Spiel der Braut vor der Hochzeit und er freut sich, diese schöne Blume gepflückt zu haben. Darstellerisch kann das neue Ensemblemitglied aber kaum Akzente setzen. Einen mitfühlenden, mahnenden Sharpless stellt Boris Pinkhasovich mit warmem Klang und voluminösem Bariton dar. Die junge Virginie Verrez besticht mit klangvoller Tiefe und bringt beim Blumenduett stimmlich den Frühling auf die Bühne. Patricia Nolz ist eine hübsche Kate Pinkerton, als Heiratsvermittler Goro könnte Andrea Giovannini noch etwas stimmkräftiger singen, Stefan Astakhov wirbt als Fürst Yamadori umsonst mit schönem Tenor und Evgeny Solodovnikov donnert als Onkel Bonze.  

Der neue Generalmusikdirektor Philippe Jordan atmet mit den Solisten förmlich vom Pult aus mit und leitet sowohl kraftvoll und spannungsgeladen als auch zart und mit Wohlklang in den intimen Momenten. Der feinfühlige Summchor ist perfekt mit dem flexiblen Orchester abgestimmt und wenn man erstmals seit der Zwangspause im März die Wiener Philharmoniker hören darf, kommen manchem ohnehin die Tränen.  

Die Inszenierung aus dem Jahr 2008 stammt vom verstorbenen Filmregisseur Anthony Minghella („The English Patient“). Seine Witwe Carolyn Choa (Regie) setzt auf eine kahle Bühne mit Spiegelflächen an Decke und Boden, wo sich die farbenfrohen Kostüme opulent in Szene setzen können. Besonders berührend ist der dreijährige Bub, der als Puppe dargestellt und zuletzt der Mutter entrissen wird. Wer den einhelligen Erfolg versäumt hat, darf sich im Januar auf eine weitere Vorstellungsserie mit fast gleichem Ensemble freuen. 

Susanne Lukas

„Madama Butterfly“ (1904) // Giacomo Puccini

1. November 2020

Politische Wirren im Südseeparadies

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2020)
Paul Abrahams „Die Blume von Hawaii“

Salzburg / Salzburger Landestheater (September 2020)
Paul Abrahams „Die Blume von Hawaii“

Die jazzige Revue-Operette „Die Blume von Hawaii“ von Paul Abraham erzielte bei der Uraufführung 1931 einen grandiosen Erfolg. In der Mischung aus Südseeromantik, Polit-Komödie, Erotik-Revue und Liebessehnsucht war sie zum amüsanten Spektakel avanciert, das dem damaligen Musiktheater-Zeitgeschmack die passende Nahrung gab. Hawaii-Gitarren und chinesische Trommeln, Jazzsänger und Stepptänzer, eine Marinemannschaft, Revuegirls und verführerische Insulanerinnen gehören auch heute noch zu den Erfolgszutaten. So tummelte sich auf der Bühne des Salzburger Landestheaters das muntere Theatervölkchen voll sprühender Lebensenergie und unbändiger Lust am Spielen, Tanzen und Singen. Mit frischen Stimmen, schäumender Spiellaune und wirbelndem Tanztemperament zeigten alle Darsteller mitreißende Präsenz im hoch motivierten Miteinander. Kostüme, Bühnenausstattung und schillernde Lichteffekte ergaben eine farbenfrohe Optik (Bettina Richter und Christian Floeren). 

Für die Salzburger Premiere hat Regisseur Marco Dott das Szenario in eine aktualisierende Neufassung umgebaut und der Dirigent Gabriel Venzago ein markiges Orchesterarrangement verfasst. Man erlebt weniger Operette, mehr Musical-Verwandtes. Dialoge und Handlungsabläufe sind getaucht in die Brisanz der aktuellen amerikanischen Politik und Anspielungen auf den US-Präsidenten. Die Hawaiianer protestieren gegen die Unterdrückung der Amerikaner. Sie wollen den „Hawaii-Exit“. Der Aufrührer Kanako Hilo muss jetzt Kaluna heißen und Hollywoodstar Jim-Boy wird Will Roy genannt. Die hier verunfallt-verschollene Prinzessin Laya, die einst inkognito ihr Inselparadies retten wollte, wird zur Personalunion mit Hollywood-Diva Suzanne Provence, die zur Blumenkönigin gekrönt werden soll. Turbulente Liebeswirren rühren Politisches und Romantisches ordentlich durcheinander. Entwirrung erfolgt, als alle zufällig in Hollywood bei einer Art ausgelassener Oscar-Verleihung zusammentreffen. Suzanne Provence wird als beste Schauspielerin ausgezeichnet. In ihrer Dankesrede mahnt sie zum Erhalt der Menschenrechte. Die Paare finden sich, einzig Prinz Taro bleibt allein und singt sehnsüchtig „Du schöne Blume von Hawaii, mein Herz gehört nur Dir“.

Franz Supper als Prinz Taro hat den operetten-tenoralen Aplomb. Marco Dott mimt aalglatt den eiskalt geschäftigen amerikanischen Gouverneur. Alexander Hüttner gibt den aufgescheuchten John Duffy, der sich zuletzt doch als der passende „Cocktail“ für seine angebetete Bessie erweist. Laura Incko alias Suzanne/Laya und Hazel McBain als Hawaiianerin Raka setzen Sopran-Glanzlichter. Luke Sinclair und Samuel Pantcheff machen gute Figur als verliebter Kapitän und revoltierender Kaluna. Als darstellerisch und vor allem tänzerisch faszinierender Mittelpunkt mit fabelhaften Stepptanz-Künsten brillieren Sophie Mefans Bessie und Andreas Wolframs Will Roy. Das Couplet vom Diwanpüppchen wird zum Kabinettstück, „Du traumschöne Perle der Südsee“ zum Ohrwurm. Auch Chor und Tänzer bieten spritziges, wirbelndes Theatertemperament. Und das Mozarteumorchester verdient sich jeden Respekt für den forschen Umgang mit den zackigen Klangrhythmen.

Elisabeth Aumiller

„Die Blume von Hawaii“ (1931) // Paul Abraham

1. November 2020

Spektakuläre Normalität

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Covid-19 kann „Figaros Hochzeit“ nichts anhaben

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Covid-19 kann „Figaros Hochzeit“ nichts anhaben

Der zweite Abend der Doppelpremiere hebt sich denkbar vom „Barbier“ ab. Die quirlige Buffomaschinerie Rossinis weicht einem Seelendrama, dessen Komödienanteile im menschlichen Wesen selbst wurzeln. Hausherr und Regisseur Uwe Eric Laufenberg mäßigt sich für die auf dem Herzstück von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierende Mozart-Oper wie sonst selten. Alle Wirren des „tollsten Tages“ im Leben der Figuren bändigt er zu kaum je über die Stränge schlagender Gediegenheit. Bis in letzte Verzweigungen ist all dies genau gesehen und mehr noch ausgehört. So mag die Gräfin en passant den Reizen Cherubinos nachgeben, an ihrer Liebe zum umtriebigen Gemahl ändert das nichts. Der Graf lebt zwar seine Midlife-Crisis mit allerlei Frauen aus, der Gemahlin überdrüssig ist er keineswegs. Figaro und Susanna sind präzise umrissene Katalysatoren jener Ereignisse, die zur letztlichen Bewährung der Ehe von Gräfin und Graf führen. Die Gräfin gewinnt – und darin liegt ein revolutionäres Moment – ihre Souveränität durch das Dienstbotenpaar zurück. Das aber bezeichnet einen Etappensieg auf dem Weg zur Volksherrschaft. Bei aller Gemessenheit seiner Figurenportraits zeigt sich freilich der Regisseur selbst als der wahrhaft Aufbegehrende. Dem Distanzgebot trotzend, geht das – selbstredend Covid-19-getestete – Ensemble auf Tuchfühlung. Unter gewöhnlichen Umständen würde solche Nähe gewiss registriert, doch kaum als außergewöhnlich empfunden werden. Die Seuchensituation aber münzt, was einmal gängig war, in Rebellion um. Daher auch nimmt Gisbert Jäkels Bühne Anleihen bei jenem Klassizismus des Louis- XVI.-Stils, der sich in die Architekturauffassung der Französischen Revolution überführen ließ. Jessica Karge kleidet die Solisten in Kostüme, deren zeitloser Eleganz sie die eine oder andere ironische Spitze aufsetzt.

Musikalisch ist der Abend ein vokaler Volltreffer, den Konrad Junghänel mit dem Hessischen Staatsorchester warmtönend und satt grundiert. Das Haus verfügt über ein Mozart-Ensemble aus einem Guss. Vokale Farben und Balance sind bis in die kleinsten Partien nahezu vollkommen aufeinander abgestimmt. Konstantin Krimmel in der Titelpartie überzeugt durch reiche Valeurs auf dennoch stilistisch gerader Bahn. Anna El-Khashem stattet ihre Susanna mit Leuchtkraft und runder Tongebung aus. Slávka Zámecniková verleiht der Gräfin Innigkeit und beizeiten Attacke. Benjamin Russell behält selbst im sanglichen Poltern des Grafen eine Spur von Noblesse. Der Cherubino von Heather Engebretson schmeichelt sich auch vokal bei der Damenwelt ein. Bleibt die Frage nach der Rechtfertigung für die Entscheidung zu einer Doppelpremiere. Sie kann nicht darin liegen, zwei disparate Schlüsselwerke des Musiktheaters mit dem Tortenguss vermeintlicher Einheitlichkeit zu überziehen. Eher gibt die Einsicht, wie Mozart und später Rossini das ihnen jeweils Gemäße der Figaro-Gestalt des Beaumarchais ergriffen haben, den Ausschlag. Das hat die Doppelpremiere ebenso ohren- wie augenfällig erwiesen.

Michael Kaminski

„Le nozze di Figaro“ („Die Hochzeit des Figaro“) (1786) // Wolfgang Amadeus Mozart

1. November 2020

Opera buffa trotzt Corona

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Rossinis „Barbier“ setzt die subversive Kraft des Lachens frei

Wiesbaden / Hessisches Staatstheater Wiesbaden (September 2020)
Rossinis „Barbier“ setzt die subversive Kraft des Lachens frei

Mit der jeweils dreieinhalbstündigen Doppelpremiere von „Barbier“ und „Figaro“ an zwei aufeinanderfolgenden Tagen leistet das Wiesbadener Staatstheater ein in Covid-19-Zeiten rekordverdächtiges Wagestück. Doch zunächst stimmt Regisseur Tilo Nest ganz in scheinbarer Rücksicht auf die Seuchenlage das Publikum zu Beginn des auf der ersten Komödie von Beaumarchais’ „Figaro-Trilogie“ basierenden „Barbier“ die 200 zugelassenen Besucher auf einen lediglich halbszenischen Abend ein, indem er das Orchester auf der Vorderbühne positioniert. Kaum aber haben zwei Mitglieder des Klangkörpers füreinander Feuer gefangen und sind zu Rosina und Almaviva mutiert, fahren die Kollegen in den Graben hinab und geben einem Treiben Raum, dessen Herkunft aus der Commedia dell’arte die Regie keinen Augenblick verleugnet. Daher gelingt es der „Barbier“-Personage auch, souverän mit der Covid-19-Lage zu spielen. Das fängt beim demonstrativen Einhalten des Distanzgebots an und hört bei Rosinas domestiziertem Riesengürteltier nicht auf. Fiese Gerüchte wie Viren versprühend, verwandelt sich Basilio im Crescendo der Verleumdungsarie in eine Fledermaus. Um keinen Schlich verlegen, schlüpft Figaro in diverse Theaterberufe vom Inspizienten bis zum Kapellmeister und gebietet ferner über die Bühnenmaschinerie. Zu allem Überfluss hüpft Rossini in Bartolos Part über die Bühne. Erst die letzten Raketen des Ideenfeuerwerks wollen nicht mehr zünden. Die für Almaviva geöffneten Striche münden in eine One-Man-Show, in der sich die übrigen Ensemblemitglieder zu bloßen Zuhörern degradiert sehen müssen. Aufs Ganze gesehen aber gerät der Wiesbadener „Barbier“ zu einer Riesengaudi, in der Gisbert Jäkels die technischen Möglichkeiten des Hauses fordernde Bühne munter mitmischt. So setzt sich Rosinas rosa tapeziertes Mädchenzimmer in den Turbulenzen des ersten Finales in aufgeregte Bewegung. Für die Kostüme legen sich Anne Buffetrille und Mirjam Ruschka keinerlei Zügel an. Rosina wechselt zwischen Girlie und Señora. Almaviva platzt als Offizier der Roten Funken aus dem rheinischen Karneval in Bartolos Haus.

Musikalisch brilliert der Abend vor allem durch vokale Leistungen. Denn Konrad Junghänel entlockt zwar den Holzbläsern des beinahe kammermusikalisch besetzten Hessischen Staatsorchesters abwechselnd Poesie und Schalk, das Häuflein Streicher aber muss die Töne treiben. Stimmlich gewinnend lässt Ioan Hotea seinen Almaviva zwischen lyrischem Tenor und tenore di grazia changieren. Silvia Hauer grundiert Rosina noch in den mutwilligsten Passagen mit einer Spur Noblesse. Thomas de Vries gibt einen frappierend Parlando-geläufigen Bartolo. Rollenadäquat lässt Young Doo Park seinen Basilio orgeln und donnern. Christopher Bolduc verkörpert die Titelfigur darstellerisch wendig.

Michael Kaminski

„Il barbiere di Siviglia“ („Der Barbier von Sevilla“) (1816) // Gioachino Rossini

1. November 2020

Philosophie in starken Bildern

Magdeburg / Theater Magdeburg (September 2020)
Mozarts „La clemenza di Tito“ in außergewöhnlicher Ensemble-Qualität

Magdeburg / Theater Magdeburg (September 2020)
Mozarts „La clemenza di Tito“ in außergewöhnlicher Ensemble-Qualität

Bei der Uraufführung im Jahre 1791 ging es Mozarts letzter Oper schlecht. Überwiegend uninteressierte Gäste konnten mit der neuen Oper „La clemenza di Tito“, komponiert zur Krönung des Kaisers Leopold II. zum König von Böhmen, nicht viel anfangen. Und der ansonsten gebildete Staatsmann Karl von Zinzendorf notiert über diese erste Aufführung in sein Tagebuch, dass die Oper ein „plus ennuyeux spectacle“, also „ein äußerst langweiliges Schauspiel“ sei. Bis heute muss sich dieses Werk immer wieder seinen Platz neben den „großen“ Opern Mozarts erobern. Dazu bedarf es eines Regisseurs, der die tiefgehende Philosophie dieses Werkes aufspürt und in Bilder umzusetzen weiß. Dietrich W. Hilsdorf ist dafür der richtige Mann. Für die Bühne ließ er Riesenfragmente barocker Bildkunst über das antike Forum Romanum einschließlich des Titusbogens herstellen. Davor entwickelt er ein zunehmend packendes Psychodrama zwischen Lüge, Macht, Rache, Schuld und Vergebung. Dabei lässt er das Solistenensemble während der gesamten Oper nur ganz selten von der Bühne. Stattdessen sitzen sie am Rande der Bühne vor normalen Theaterschminktischen. Von dort verfolgen sie zwar ab und zu das Bühnengeschehen, verlassen ihre Plätze aber nur zu ihren eigenen Auftritten. Und die haben beeindruckendes Format.

Emilie Renard füllt die Rolle des Sextus als Freund von Kaiser Titus mit erschütternder Tiefe. Ihre Darstellung des Konflikts zwischen Freundschaft zum Kaiser und Liebe zur Kaisertochter Vitellia (glänzend Noa Danon), die ihn zum Vatermord anstiften will, geht unter die Haut. Ganz große Gesangs- und Darstellungskunst! Auch in den weiteren Rollen zeigt das Ensemble hohe Solo-Qualität: Emanuele D’Aguanno mit edler Stimmfärbung als Kaiser Titus, der seine Rachegefühle unterdrückt und dem Attentäter vergibt; Hyejin Lee als Servilia mit anrührendem Stimmencharme die Schwester des Sextus gestaltend und Isabel Stüber Malagamba als Servilias Geliebter Annius. Des Weiteren gewinnt Berenike, die Geliebte des Kaisers, durch Marianne Leineweber bemitleidenswerte Gestalt und Marcel Reitter gibt den Mitverschwörer Lentulus. Beeindruckend die Stimme und Darstellung des machtbewussten und gnadenlosen Präfekten Publius durch Marko Pantelić.

Zu den musikalischen Höhepunkten der Inszenierung wird neben den großartigen Soli das Singen im Ensemble. Sensibel aufeinander hörend, finden die einzelnen Stimmen gemeinsame Schwingungen und singen mit einem Einklang, wie man ihn selten an Opernhäusern erleben kann. Diese Ensemble-Qualität betrifft auch die Zusammenarbeit mit dem Orchester. Fast auf Bühnenhöhe hochgefahren, kann Generalmusikdirektorin Anna Skryleva auf Augenhöhe mit der Bühne fein abgestimmte Momente zwischen Gesang und Orchester gestalten. Wenn auch der Streicherklang bei aller technischer Perfektion phasenweise distanziert wirkt, hört man gleichwohl viel instrumentalen Wohlklang. Souverän dirigierend und immer wieder phantasiereich die Rezitative am Cembalo begleitend, führt die Generalmusikdirektorin das von ihr selbst Corona-gerecht reduzierte Orchester durch diesen besonderen Abend. Viel Beifall von einem dankbaren Publikum.

Claus-Ulrich Heinke

„La clemenza di Tito“ (1791) // Wolfgang Amadeus Mozart